Sehr geehrte Menschen,
ich schreibe Ihnen als Teil von minzgespinst, aber auch als aktivistische Einzelperson im Kontext Autismus - und nicht zuletzt als Betroffenes.
Mit Entsetzen habe ich den Artikel von Clemens Haug mit dem Titel "Autismus - durch Therapie der Eltern verhinderbar" gelesen. In der Hoffnung, mit meiner Kritik Gehör zu finden, schrieb ich Herrn Haug eine persönliche E-Mail. Statt sich inhaltlich mit meiner Kritik auseinanderzusetzen, unterstellte er mir, die Studie gar nicht gelesen zu haben.
Ich bitte hiermit den MDR um eine Korrektur des betreffenden Textes und eine Schulung der Mitarbeiter_innen in den Bereichen "Neurodiversität" und "Geschlechtliche Vielfalt".
Da Herr Haug mich in seiner Antwort mehrfach als "Frau" adressierte, obwohl ich weder einen weiblich konnotierten Vornamen, noch eine weiblich konnotierte Anrede angegeben habe, im Gegenteil, ich bitte in meinen Mails grundsätzlich darum, mich neutral anzusprechen. Im Jahr 2021, drei Jahre, nachdem die sogenannte "Dritte Option" Einzug in die gesellschaftliche Realität hielt, noch immer Menschen entgegen ihres ausdrücklichen Wunsches mit einem binären Geschlecht zu belegen, halte ich für ein Armutszeugnis in Bezug auf die journalistische (und menschliche) Sorgfaltspflicht.
Entgegen der Unterstellung von Herrn Haug habe ich die Studie durchaus gelesen. Meine Kritik richtet sich vor allem an ihn, den Verfasser des Artikels, für die Darstellung von Autismus und autistischer Kinder.
Das Journal (JAMA Pediatrics) ist ein seriöses Fachblatt mit hohem Impact-Faktor, die Studie ist grundsätzlich gut ausgeführt, randomisiert, jedoch nicht doppelblind (die Eltern wussten, ob das betreffende Kind in der Untersuchungs- oder der Kontrollgruppe ist). Dadurch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die beobachteten Effekte auf einen Rosenthal-Effekt oder einen Hawthorne-Effekt (also weniger auf den Inhalt der Intervention, sondern vielmehr darauf, dass überhaupt eine experiementelle Intervention stattfand) zurückgeführt werden können.
Von einem Artikel des MDR Wissen hätte ich mir gewünscht, dass der Interessenkonflikt der führenden Autor_innen, welche gleichzeitig an der Intervention beteiligt sind (und gegebenenfalls davon finanziell profitieren) und diese evaluieren, transparent gemacht wird, anstatt die Aussagen der Forschenden bzw. wortgetreu zu übernehmen. Dennoch ist die Finanzierung größtenteils unabhängig und wird sowohl von Forschungsinstituten, als auch der australischen Regierung übernommen.
Wenn im Artikel darauf hingewiesen wird, wie stark die Behandlung von Autist_innen das jeweilige Gesundheitssystem belastet ("Gesundheitskosten von Autisten höher als bei Krebs"), ist eine Studie im Auftrag einer Regierung, die darauf abzielt, die Symptome autistischer Kinder unter die Diagnoseschwelle zu drücken, nicht nur eine Intervention zum Wohle der Kinder, sondern auch eine pragmatische Entlastung des Gesundheitssystems, da undiagnostizierte Autist_innen für ihre Bedürfnisse selbst aufzukommen haben. Hier wird die Verantwortung vom Staat auf das Individuum verlagert. Leider macht der Artikel diese Zusammenhänge nicht transparent.
"Wie ein britisch-australisches Forscherteam jetzt im Fachblatt "JAMA Pediatrics" zeigt, lassen sich die schwierigsten Auswirkungen offenbar oftmals verhindern", wird im Artikel behauptet. Dem widerspricht die Studie: Hier wird deutlich gemacht, dass die Werte auf den Autismus-Skalen in diesen Altersbereichen noch starken Schwankungen unterligen, sich erst im Vor- bzw. Grundschulalter stabilisieren und man langfristige Effekte nicht unbedingt voraussagen kann ("Follow-up of these children in later childhood, when the behaviors for ASD and other neurodevelopmental conditions may be more apparent anddistinguishable, will be important to determining the longerterm clinical significance of the intervention effects observed in the current study.").
Gleichzeitig wird mit der Angst der Eltern argumentiert, das Kind "könne autistisch werden", aus der geschlussfolgert wird, dass eine Therapie "so früh wie möglich" begonnen werden müsse. Die anerkannten Therapien für Autist_innen, die "so früh wie möglich" beginnen sollen, basieren in den meisten Fällen auf der sogenannten "Applied Behaviour Analysis", kurz ABA genannt. Diese geht davon aus, autistische Symptome mittels einer Art "Dressur" (die im schlimmsten Fall über die gesamte Wachphase eines Kleinkinds verläuft) mildern bzw. verschwinden lassen zu können. Schlussendlich werden autistische Kinder für autistisches Verhalten bestraft, für nicht-autistisches Verhalten belohnt - so lange, bis sie verinnerlicht haben, welches Verhalten "falsch" und welches "richtig" ist und dieses (entgegen der eigenen Bedürfnisse) passend anwenden können.
In der vorgestellten Studie wurden nicht die Kinder geschult, sondern die Eltern, was eine massive Verbesserung im Gegensatz zur "Dressur" von Kleinkindern darstellt. Doch auch hier gab es den üblichen Zirkelschluss, dass autistisches Verhalten ("Symptome") negativ, sozial erwünschtes, neurotypisches Verhalten dagegen positiv sei. Das wird vor allem in der verwendeten Methode ersichtlich, denn SACS-R als Diagnostik für Autismus bezieht sich hauptsächlich darauf, wie "sozial konform" die Kinder sind. Entgegengesetzt dazu wurde ein Standardverfahren auf die Kontrollgruppe angewandt, im Artikel wird jedoch von "den besten, bereits erprobten Therapien" gesprochen.
SACS-R ist aber nicht nur inhaltlich zu kritisieren ("The checklist on the 12-month version of the SACS-R includes 5 specified behaviors that are evaluated to determine whether the infant has a higher likelihood of ASD: spontaneous eyecontact, protodeclarative pointing, social gestures, imitation, and response to name. A pattern of atypical behavior on at least 3 of these items suggests an increased likelihood of an ASD diagnosis in later childhood."). SACS-R ist eigentlich nicht für einmaliges Screening gedacht, sondern eher für die längsschnittliche Beurteilung der frühkindlichen Entwicklung, wurde hier aber als einmaliges Screeninginstrument verwendet.
Die Intervention bestand aus zehn Videosessions für Familien. Interaktionen zwischen kümmernder Person (caregiver) und Kind wurden bei diesen Sessions per Video aufgezeichnet und waren Grundlage der Auswertung. Problematisch dabei ist, dass lediglich der Haupt-Autor alleine beurteilt hat, ob die gezeigten Verhalten(-sänderungen) ein Effekt der Intervention waren oder durch andere, externe Dinge beeinflusst worden sind.
Familien bekamen Hausaufgaben und sollten Tagebuch über das Verhalten der Kinder führen. Dies führt zwangsläufig zu einer Intransparenz in der Auswertung, da die Kontrolle über den subjektiven Eindruck der jeweiligen Eltern/kümmernden Personen bezüglich der Verhaltensänderungen des Kindes fehlt. Hier wird von einer Objektivität von Eltern ausgegangen, die von Natur aus nicht als gegeben angesehen werden kann.
"Dabei zeigte sich, dass am Ende der Beobachtungszeit in der Versuchsgruppe viel seltener Autismus diagnostiziert wurde, als in der Kontrollgruppe.", steht im Artikel. Das ist grundsätzlich richtig, die Unterschiede beider Gruppen waren signifikant, auch wenn "viel seltener" angesichts der sehr geringen Effektstärken sowie der nur in Teilbereichen auftretenden signifikanten Unterschiede eine Übertreibung darstellt. Allerdings geht es nicht darum, dass gesichert diagnostiziert worden wäre (wie die Studie selbst sagt, sind Schwankungen in dem Alter völlig normal, weshalb eine Kontrolle mit vier bis fünf Jahren sinnvoller gewesen wäre), sondern sie erfüllten zum derzeitigen Zeitpunkt die diagnostischen Kriterien. (Darüber hinaus ist die Idee, Autismus lieber nicht zu diagnostizieren, weil damit das Gesundheitssystem weniger belastet werden würde, moralisch eine mindestens fragwürdige Herangehensweise. Wie innerhalb der Studie (und in Teilen des Artikels) selbst festgestellt wird, ist Autismus eine angeborene Störung, eine sogenannte Neurodiversität. Vor allem autistische Frauen werden bereits jetzt signifikant seltener diagnostiziert als Männer und haben ein höheres Risiko für Komorbiditäten wie Zwangserkrankungen, Angsterkrankungen und Depressionen. Die Möglichkeit der Diagnostik weiter herunterzufahren, würde dem Gesundheitssystem langfristig keine Entlastung bringen, da - wenn nicht der Autismus - so zumindest die Komorbiditäten eine Behandlung notwendig machen. Statt verminderter Diagnostik würde gelebte Inklusion und vereinfachte Nachteilsausgleiche nicht nur kostengünstiger, sondern auch menschengerechter sein.)
"'Der Effekt der Therapie war enorm und deutlich größer als das, was wir bisher gesehen haben etwa durch den Einsatz neuer Medikamente', sagt Green."
Bei Betrachtung der Effekte der Intervention sowie der Diskussion der Studie durch die Autor*innen ist diese Behauptung nicht haltbar ("These effects were small in extent, and their clinical significance is uncertain.").
Wichtig dabei ist darüber hinaus die Tatsache, dass Green sowohl Entwickler der Methode (und davon finanziell bevorteilt),als auch einer der Autoren, die hier den Nutzen evaluiert haben, ist. ("Dr. J. Green reported owning a patent for the iBASIS-VIPP intervention, being the initiator and codeveloper of the original iBASIS-VIPP manual, receiving personal fees for his role as codirector of IMPACT, and serving as a senior investigator for the United Kingdom National Institute for Health Research outside the submitted work.") Wenn Dr. J. Green nun zu den Effekten und der Relevanz der Studie interviewt wird, und dies dabei überschätzt, muss dieser Interessenskonflikt Greens im Artikel kritisch betrachtet werden, um eine kritische Distanz zu gewährleisten. Die kritische Auseinandersetzung mit der Studie durch den Autor ist aus dem Artikel leider nicht ersichtlich.
Es ging also weniger um die Bedürfnisse von autistischen Kindern, sondern mehr darum, wie die Kinder (ohne allzuviel Schaden zu nehmen) an die Bedürfnisse eines neurotypischen Umfelds angepasst werden können. Es ist eine Fehlannahme, dass neurotypische Verhaltensweisen und Kommunikationsformen die "einzig richtigen" wären, selbst wenn sie die derzeitige Norm darstellen, gleichzeitig verdienen Forschende, die an "Autismus-Heilung" arbeiten, aufgrund des bestehenden Stigmas große Summen und werden gefördert.
Wir wünschen uns, von einer Sendeanstalt, die in letzter Zeit massiv die Barrieren für Blinde und Sehbehinderte abgebaut hat, einen ähnlich offenen Zugang für die Bedürfnisse von Autist_innen und deren Diskriminierungserfahrungen, sowie eine Schulung der Mitarbeitenden, um transfeindliche Fehltritte zukünftig zu vermeiden.
Mit freundlichen Grüßen
Beccs Runge (minzgespinst)
Ash (minzgespinst)
Tamilla (minzgespinst)
Tetz (minzgespinst)
Mara (minzgespinst)
Erstunterzeichnende:
(Bei Privatpersonen haben wir auf die Veröffentlichung des Nachnamens aus Datenschutzgründen verzichtet, bei Personen des öffentlichen Lebens wurde sich für den vollen Namen entschieden.)
Raúl Krauthausen
Sarah Dubiel
Jorinde Wiese
Marie Polonyi (Referat für Inklusion; Studierendenrat Universität Leipzig)
Hannah C. Rosenblatt
Jasmin Subklewe
Edith Arnold
Kuku Lueb (TIAM e.V.)
Daniela S. (Queer-Lexikon e.V.)
Xenia H. (Queer-Lexikon e.V.)
Valo C. (Queer-Lexikon e.V.)
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Lir S. (Queer-Lexikon e.V.)
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Berlin. Die letzten Bücher, die ich begeistert verschlang, führten mich allesamt nach Berlin.
Sei es in "Berlin, rostiges Herz", oder "Berlin, magische Knochen" (Rezension folgt noch).
So auch Anarchie Déco, von J. C. Vogt.
Gott zaubert nicht.
Albert Einstein
Wir sehen, ich habe eine ganz eigene Verbindung zu unserer Hauptstadt - unter anderem einen tiefen, emotionalen Hass gegenüber dem Berliner Hauptbahnhof, der mich regelmäßig in einen Overload versetzt.
In "Anarchie Déco" von Judith C. Vogt aus dem Fischerverlag spielt der Berliner Hauptbahnhof glücklicherweise nur eine untergeordnete Rolle, stattdessen geht es um Anarchie, Magie, Kommunismus, Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Misogynie, Transfeindlichkeit, Antisemitismus. Klingt erst einmal heftig? Keine Angst. Es wird gut! (Außerdem spielt Einstein auf seiner Geige, das könnt ihr euch nicht entgehen lassen!)
Das Cover ist im Jugendstil gehalten, eine leuchtende Kugel, eine stilisierte Figur. Ich persönlich genieße diese Unaufgeregtheit und die fließenden Linien sehr. Die Schriftart des Titels erinnert mich an die Leuchtstoffröhren alter Lichtspielhäuser, ich erwarte beinahe, dass sie zitternd und flackernd zum Leben erwachen, um mich vom Cover aus anzustrahlen. Stattdessen schlage ich das Buch auf.
Inhaltlich möchte ich nicht zu viel verraten, nur soviel, dass es bis zur letzten Seite spannend bleibt, wer hinter den verübten Verbrechen steht. Magie, so wurde entdeckt, ist die physikalische Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft - andererseits kann sie auch selbstbestimmt und alleine geformt werden, wenn auch nicht von allen Personen.
Die Hauptfigur ist eine Schwarze Frau, die Nebenfiguren sind teilweise jüdisch, trans, nicht-weiß, lesbisch, schwul - im Kontext Diversität ist dieses Buch eine erfrischende Abwechslung, da nicht in die übliche Klischeekiste gegriffen, sondern die Betroffenheit der Figuren zur Ausarbeitung des Charakters notwendig gemacht wurde. Wir begleiten die Protagonist_innen durch Berlin, auf der Suche nach der Lösung geheimnisvoller Morde und magischer Varieté-Einlagen. (Und einem Aufbewahrungsort für Unmengen geklöppelter Spitzendeckchen, aber ich will nicht zu viel verraten.)
Die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten sind in die Handlung eingeflochten, ohne bemüht moralinsauer zu wirken. Es hat - als trans, als behinderte, als nicht-weiße Person, Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen und mich in einem Berlin der 20er Jahre zu verlieren. Über politische Aspekte grinste ich, ich fühlte mich in den Schwarzen Scharen eigentlich gut aufgehoben. Dennoch war es nicht zu romantisierend, nicht zu friedvoll gezeichnet. Politische Debatten der damaligen Zeit habe ich als wertschätzend, wenn auch nicht tiefergehend nachverfolgbar gezeichnet erlebt - eine gute Entscheidung, könnte doch ein Roman (so gut recherchiert er auch sein mag) niemals die tatsächlichen Debatten der damaligen Zeit (oder auch heute) in vollem Umfang darstellen.
Das Ende ist offen. Möglicherweise erleben wir noch einen zweiten Teil, das andere Hosenbein der Zeit, das uns in ein anarchistisches oder kommunistisches Berlin der 30er Jahre entführt?
Das Buch wurde mir freundlicherweise als Rezensionsexemplar vom Verlag zur Verfügung gestellt. Ich danke.
Autist_innen sind nicht empathisch, so das herkömmliche Klischee. Wir sind nicht in der Lage, Trost zu spenden (zumindest nicht so, wie neurotypische Leute sich das erwarten) und von emotionaler Kälte (so unser allseits verachteter Hans Asperger). Aber was ist eigentlich Empathie?
Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.[1][2] Ein damit korrespondierender allgemeinsprachlicher Begriff ist Mitgefühl.
Zur Empathie wird gemeinhin auch die Fähigkeit zu angemessenen Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen gezählt, zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz und Hilfsbereitschaft aus Mitgefühl.[3] Die neuere Hirnforschung legt allerdings eine deutliche Unterscheidbarkeit des empathischen Vermögens vom Mitgefühl nahe.[4][5]
Wikipedia, ist ja kein wissenschaftliches Arbeiten hier.
Spannend finde ich den ersten Teil, vor allem die Persönlichkeitsmerkmale, Gedanken und Motive anderer Personen zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.
Oft, wenn ich mit anderen Menschen in Kontakt trete, sprechen wir recht schnell über deren persönliche Belange, ihre Geschichte, aber auch ihre Traumata, ihre psychischen Problematiken und ihren Umgang damit. Ich sage gerne, wie ich Menschen und Situationen wahrnehme. Sehr oft treffe ich damit zielsicher wunde, schmerzhafte Punkte bei meinen Mitmenschen. Ich mache das nicht absichtlich, zumindest nicht insofern, als das ich weiß, dass es sich um wunde Punkte handelt. Ich halte es einfach für einen offensichtlichen Beitrag zur Unterhaltung, für etwas, das anderen Menschen ebenso sichtbar sein müsste wie mir.
Ist es nicht, habe ich schmerzhaft gelernt.
Schmerzhaft, denn Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf meine Art, das für mich offensichtliche, zu benennen. Die eine Hälfte wird wütend, geht und wir haben nie wieder Kontakt. Die andere Hälfte ist sehr dankbar dafür. Kann aber auch nicht sagen, warum ich so anders reagiere als die meisten anderen Menschen, mit denen sie vorher sprachen.
Menschen agieren nicht logisch. Aber ihre Verhaltensweisen, ihr Umgang mit Situationen, beruht auf einem sehr logischen Konzept von Ursache und Wirkung. (Und von Privilegien und Unterdrückung).
Patriarchale Strukturen sind real. Wenn mir ein cis Mann gegenübersitzt, der auf emotionale Anspannung mit Wut reagiert, dann ist es keine Raketenwissenschaft, dieses Verhalten auf patriarchale Strukturen zurückzuführen. (Emotionen müssen unterdrückt werden, die einzig erlaubte Emotion ist Wut.) Andererseits scheint es durchaus Raketenwissenschaft zu sein, immerhin hat das den cis Typen noch niemand gesagt.
(Vielleicht, weil Wut oft Angst oder ihrerseits Wut hervorruft und das einer Analyse eher abträglich ist.)
Ich scheine also durchaus empathisch zu sein.
Andererseits, der zweite Teil dieser Definition, mit den eigenen Erkenntnissen "angemessen" umzugehen, scheint bei mir tatsächlich nicht zu funktionieren. Ich halte die Regeln menschlicher Kommunikation für ein wirres Durcheinander. Dreimal zu oft mit Kaffee übergossen und mindestens zweimal an den wichtigen Stellen angekokelt.
Bin ich also empathisch? Vielleicht "zu" empathisch? Bin ich empathisch aber nicht in der Lage, das eindeutig zu kommunizieren? Bin ich nicht empathisch, aber auf offensichtliche Art und Weise grausam?
Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung.
Wenn ich mit Menschen kommuniziere, dann möchte ich sie bestimmt nicht verletzen. Ich möchte auch nicht, dass sie sich "durchleuchtet" fühlen, gleichzeitig kommuniziere ich immer aus einer analytischen Ebene heraus. Das macht den Umgang für viele Leute nicht einfacher. Ist es doch schlussendlich (wie immer) nicht die übliche Art, mit der neurotypische Leute kommunizieren.
Möglicherweise ist auch das der Grund, warum wir als "nicht zur Empathie fähig" wahrgenommen werden.
Die Erwartungen der meisten Personen, die uns diagnostizieren und wissenschaftlich untersuchen, sind neurotypisch, ihre Kommunikation ist es auch.
Ich gehöre nicht dazu. Ich bin "anders".
Ein Gedanke, der meine Kindheit und Jugend prägte. Ein Gedanke, nein, eine Gewissheit, die mir verbal und nonverbal von all meinen Umfeldern, ob Familie, Schule oder Sportvereinen, immer wieder vermittelt wurde. Bis ich irgendwann selbst daran glaubte und mich von mir aus zurückzog.
Ich bin trans, nichtbinär und Autist_in. Für mein trans Sein hatte ich damals keine Worte, meine Neurodivergenz schloss mich - obwohl nicht ersichtlich und erst spät abschließend diagnostiziert - effektiv aus.
Die Abneigung eines kleinen Dorfes gegen jene, die "anders" sind, kennt keine Grenzen. Eine hübsche Ironie, in allen anderen Themenfeldern sind Grenzen überaus wichtig und sind gerne gesehen - und gezogen.
Alle queeren Personen kennen das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Gerade meinen nichtbinären Geschwister wird auch das auch (teilweise) von der trans Communitiy vermittelt.
Wir seien nicht trans genug. Wir würden "hier beliebige Vorstellung einfügen" nicht ausreichend erfüllen.
Als neurodivergente Person sind queere Räume oft zu bunt, zu laut, zu schrill und zu flashig. Und emotional aufgeladen.
Die richtigen Worte zu wählen, nicht zu verletzen, nicht zu diskriminieren. Gar nicht so einfach, wenn das Gespür für Situationen, subtile Hinweise und gesellschaftliche Erwartungen fehlt. Trust me, wir machen das nicht absichtlich! Wir nehmen nur erst wahr, dass wir offensichtlich einen Fehler gemacht haben, wenn wir darauf deutlich - as in "das war diskriminierend!" - hingewiesen werden. Subtile Hinweise (bevor es zum wütenden Ausbruch ob unserer "Ignoranz" kommt), werden von den meisten neurodivergenten Menschen ohnehin schlecht bis gar nicht wahrgenommen - Nervosität, in neuen Räumen zu sein und die Angst, etwas "falsch" zu machen, machen alles nur noch schlimmer.
Gleichzeitig wird - sowohl innerhalb der (vor allem trans) Community, aber auch wissenschaftlich, nach Kausalität oder zumindest Korrelation von trans und Neurodiversität gefragt.
Nun, wir sind zwei sehr kleine Gruppen, gleichzeitig in höchstem Maß pathologisiert. Die besten Voraussetzungen, um als Testhäschen oder Versuchskaninchen für wissenschaftliche Forschung zu dienen. Wir sind "anders", immer.
Ich persönlich - so spannend wie gefährlich ich wissenschaftliche Grundlagenforschung auch finde - würde anders fragen: Brauchen wir wirklich weitere, pathologisierende Forschung und Erkenntnisse, um unsere Räume inklusiver zu gestalten?
"Smash the binary" ist heute, am non-binary Awarenessday, unser Motto.
Auch zwischen den "sogenannten Normalen" und allen Neurodivergenten wird diese Binarität, eine Binarität, die uns zu "den anderen" degradiert, derzeit gelebt. Eine Binarität, die zwischen "normaler" und "anderer, irgendwie schlechterer" Kommunikation, Bedürfnissen, Reizverarbeitung unterscheidet.
Die dafür sorgt, dass für queere, neurodiverse Menschen weniger bis kein Platz in unseren Räumen ist - oder wir uns viel, viel mehr anstrengen müssen, um bleiben zu dürfen.
Fehler, die aus "nicht können/nicht erkennen" resultieren, werden als "nicht wollen" interpretiert.
Übergriffige, dya-cis Männer werden als Grund benannt, um trans Frauen den Zugang zu Frauentoiletten zu verweigern. Ignorante, neurotypische Menschen sind der Grund, warum wenig bis keine Fehlertoleranz für unsere Kommunikation gibt. Die Geduld mit "gespielter Ahnungslosigkeit", um ignorant sein zu können, ist aufgebraucht.
Ich verstehe das.
Doch genausowenig, wie trans Frauen für privilegierte, übergriffige, dya-cis Männer verantwortlich sind, so wenig sind es neurodiverse Menschen für übergriffige, ignorante, neurotypische Personen.
Bitte bedenkt das, wenn Menschen auf subtile Hinweise ignorant wirken - vielleicht bemerken sie diese wirklich nicht.
Heute hier zu stehen und reden zu dürfen, ist eine Situation, für die ich sehr dankbar bin. Gleichzeitig musste ich mich heute gegen das fancy, coole, sexy Outfit in nonbinary-Farben entscheiden - die Reize auf der Haut waren zu viel.
Ich konnte mich umentscheiden und trotzdem hier stehen (und morgen dafür den Preis zahlen, hallo Löffel auf Kredit), aber auch das ist nicht für alle von uns eine Option.
Ihr merkt, mein "uns" wechselt wie mein Geschlecht - immer passend zur Situation.
Demos, CSD, Kundgebungen sind mit vielen Geräuschen, Gerüchen, Reizen und oft auch mit Polizeigewalt verbunden. Gruppen und Organisationen oft nicht inklusiv.
Vielen neurodiversen, queeren Menschen bleibt somit "nur" der Online-Aktivismus, oft belächelt und nicht ernst genommen, um ihre politische (Bildungs-) Arbeit und Sichtbarkeit zu ermöglichen.
Für euch stehe ich heute hier, für meine queeren, meine nichtbinären, meine neurodiversen Geschwister. Ich möchte euch Sichtbarkeit geben und eine Stimme. Ich möchte meine Stimme erheben, meine Erfahrungen, die oft auch eure sind, teilen – ohne für euch zu sprechen. Jede neurodiverse Person ist einzigartig, unsere Erfahrungen mit Ableismus sind es leider nicht.
Ich weiß, dass im Publikum mehrere Menschen sind, die mit ihrer eigenen Neurodiversität kämpfen. Weil diese bei queeren Personen noch seltener diagnostiziert wird, als im patriarchalen System bei cis Frauen.
Ich sehe euch, ich höre euch, ich stehe heute hier, um unsere Perspektiven zu zeigen.
Ihr seid nicht allein. Wir sind nicht allein.
SMASH THE BINARY, auf das wir inklusiv und gemeinsam gegen Patriarchat und ableistische Machtstrukturen in der Gesellschaft und unseren Räumen kämpfen!
Sag mal, hast du deinen Penis noch oder hattest du deine GaOP schon?
Typ auf ner Party. (Es gibt jedes Mal mindestens einmal pro Abend so einen Typ.)
Ich drehe mich um. Hinter mir eine Runde von Menschen, einen davon kenne ich näher. "M., da wollen schon wieder Leute über meinen Penis reden!" Ich spreche laut. Ich lege ein bisschen Spott in meine Stimme. Die Runde guckt irritierend, manche fangen an zu grinsen, M. lacht. Der Typ hinter mir fängt verlegen an zu stammeln. Die Frage nach meinem Penis ist vom Tisch, die Situation nicht mehr für mich unangenehm.
Ich bin offen trans, bin offen mit meiner Existenz. Beantworte auch gerne Fragen, wenn sie respektvoll sind (und meine Genitalien in Ruhe lassen). Ich trug ein Netzshirt, einen Sport-BH, Hotpants und Socken zu klobigen Plateau-Sneakern. Full-Face-Make-Up. Ich MUSS also eine trans Frau sein, so die geniale Kombinationsgabe von cis Personen.
Ich sags nicht gerne (naja, doch), aber weder künstliche Wimpern, noch Gelnägel machen mich zur Frau - letztere sorgen höchstens dafür, dass ich tippen komplett neu lernen muss (dieser Text ist eine gute Übung diesbezüglich). "Weiblich" konnotierte Kleidung war noch nie mein Problem, machte keine Dysphorie. Seitdem ich Testosteron nehme, hab ich den nichtbinären Körper, ein Hormonlevel und eine Stimme, die mich euphorisch machen (und wenn ich mich ganz doll anstrenge, auch männliches Passing, also cis assumed privilege), aber das brauche ich im Alltag nicht.
Ich bin euch keine Androgynität schuldig. Bin euch kein "männliches Auftreten" schuldig. Ich mag meine Brüste, die tiefe Stimme, den beginnenden Bart auf der Oberlippe und am Kinn.
Um den Herzmenschen zu zitieren:
Fluff ist ein tuntiges Twink mit Brüsten.
Herzmensch.
Kleidung hat kein Geschlecht - warum sollten mich Minirock und Highheels zur Frau machen? Weil "erwartet" wird, dass ich das trage? Weil der "Mann im Kleid" für euch seltsam bis unvorstellbar ist? Meine Brüste so ästhetisch sind, dass sie nicht "natürlich" sein können (nope, die sind nur groß, nicht besonders). Weil nichtbinäre Menschen am besten androgyn-männlich, ätherisch, non-sexuell zu sein haben? Woher kommen diese Zuschreibungen? Woher die Abwertung von Femininität?
(Spoiler: Patriarchat.)
Liebe cis Personen: Ihr dürft meine Femininität nicht mögen, gut leiden oder feiern. Ihr dürft mich meinetwegen auch sexualisieren, solange ihr das bei euch behaltet. Ich bin high femme, ich bin bitchy as fuck - aber ich werde dadurch nicht zur Frau (weder cis, noch trans). Und mein Penis ist meine Sache.
HRT hat mir die Akzeptanz bis Liebe meines Körpers ermöglicht, das werde ich (Stand heute) nie wieder aufgeben. Es hat mich nicht dazu gebracht, meine Kleider, Hotpants und Overknees wegzuschmeißen.
Das haben auch all jene nicht geschafft, die mir (auf die eine oder andere Art) vermittelten, ich wäre unzureichend oder "nicht richtig trans" (das geht vor allem an den AntiD Fuckboy, der meinte, ich wäre nicht "richtig trans, ich würde keine Genitalverstümmelung anstreben wie die echten trans Personen", mich aber trotzdem vögeln wollte).
Küsschen und Stößchen - deal with me.
Drei Tage Uni in der Woche.
oder
Zwei Tage soziale Interaktion.
oder
Zwei Tage arbeiten.
Dazwischen Pause.
Pause.
Pause.
Teilzeitleben.
Oft werde ich vorsichtig - oder auch weniger vorsichtig - gefragt, ob ich die Pflege wirklich brauchen würde. Ich kann darüber nicht lachen, obwohl es fast lachhaft ist: Als ob der Staat und die Pflegekassen den Pflegegrad zu verschenken hätten oder das tun würden. Kapitalismus, Baby! Ohne Pflegegrad, ohne pflegende Angehörige hätte ich nicht nur ein Teilzeitleben, ich hätte einfach gar kein Leben. Ich hab es ausprobiert, als ich alleine lebte: Entweder Sozialleben oder Uni oder Arbeit. Und da Sozialleben und Freizeit im Kapitalismus am entbehrlichsten sind... fallen sie weg. Möchte da definitiv nicht wieder hin zurück, kein schönes Erlebnis.
Ich sollte mich nicht beschweren. Denke ich oft. Ich habe die Möglichkeit, zu studieren, selbstständig zu arbeiten, hier zu schreiben. Habe die Möglichkeit, Bildungsarbeit zu machen, ab und zu feiern zu gehen, Freund_innen zu treffen. Ich habe Freund_innen. Es könnte - grundsätzlich - alles deutlich schlechter sein.
Ich bin oft müde. Habe mir angewöhnt, immer sehr nah an meiner Belastungsgrenze zu leben, um meine Grenzen möglichst effektiv zu umgehen. Ich habe mich noch nicht mit der Tatsache eines Teilzeitlebens abgefunden. Aber erkenne es immer dann an, wenn es mich mit einem neuen Schub Schmerzen ins Bett stopft, wenn mein Körper mir nachdrücklich die eigenen Grenzen aufzeigt, wenn ich lernen MUSS, dass ich nicht mehr kann.
Ich fühle mich zu jung für ein Teilzeitleben. Bin gefrustet, genervt, ich habe Angst, dass ich Menschen verliere, wenn ich immer wieder absagen muss.
Ich weiß, dass ich diese Tage vollständiger Ruhe in einem abgedunkelten Zimmer brauche, um am nächsten Tag wieder leben zu können, aber dennoch kommt es mir vor wie verschwendete Zeit. Als ob ich nur die Hälfte der Zeit aller anderen Menschen zur Verfügung hätte. Weil ich mindestens doppelt so viel Zeit zur Erholung benötige.
Ich bin eigentlich extrovertiert, eigentlich liebe ich es, in Gesellschaft zu sein. Bin gerne unter Leuten, ich fühle mich wohl dabei. Vielleicht wäre es einfacher, hätte ich dieses Bedürfnis nicht. (Ich lebe immerhin mit einer Person zusammen, die dieses Bedürfnis überhaupt nicht hat und völlig zufrieden damit ist, alle paar Wochen/Monate direkte, soziale Interaktion mit Menschen zu haben.)
Ich dagegen renne mir jedes Mal wieder an Mauern den Kopf ein - und kann dennoch nicht anders.
Oft werde ich vorsichtig - oder auch weniger vorsichtig - gefragt, ob ich die Pflege wirklich brauchen würde. Ich kann darüber nicht lachen, obwohl es fast lachhaft ist: Als ob der Staat und die Pflegekassen den Pflegegrad zu verschenken hätten oder das tun würden. Kapitalismus, Baby! Ohne Pflegegrad, ohne pflegende Angehörige hätte ich nicht nur ein Teilzeitleben, ich hätte einfach gar kein Leben. Ich hab es ausprobiert, als ich alleine lebte: Entweder Sozialleben oder Uni oder Arbeit. Und da Sozialleben und Freizeit im Kapitalismus am entbehrlichsten sind... fallen sie weg. Möchte da definitiv nicht wieder hin zurück, kein schönes Erlebnis.
Hallo.
Danke, dass ihr alle gekommen seid, danke, dass wir zusammen die Pride radikaler machen. Danke auch an all jene, die heute dafür gesorgt haben, dass ich hier sein kann. Die Menschen, die meinen Krüppel-Aktivismus ermöglichen, weil sie pflegende Angehörige sind, weil sie mein Netzwerk bilden, ohne das ich weder leben – noch aktivistisch sein könnte. Die Menschen, die bezahlte und unbezahlte Sorge- und Carearbeit übernehmen, die Menschen, die unsichtbar hinter mir stehen.
Es gibt einen furchtbar schlechten Spruch: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.“
Nun, im Fall von be_hinderten Aktivist_innen, manche von uns bezeichnen sich auch als Krüppel, stimmt das tatsächlich. Hinter jeder/m von uns steht ein Netzwerk, welches uns den Aktivismus erst ermöglicht. Behindertenaktivismus hat einen Bias, den Bias der Überlebenden: Nur diejenigen von uns, die in dieser Gesellschaft bestehen können, sind überhaupt in der Lage, Aktivismus zu machen. Wir können nur deshalb radikal sein, weil wir privilegiert genug sind, überhaupt unsere Stimmen erheben zu können.
Zum Thema Radikalität:
In der ersten Krüppelbewegung Deutschlands gab es den Slogan „Jedem Krüppel seinen Knüppel“, unter dem Stör-Aktionen organisiert wurden, wo die Anliegen behinderter Menschen nicht ausreichend mitbedacht wurden. Mittlerweile sind wir eher bei „Aktion Sorgenkind“ (umbenannt in „Aktion Mensch“) angelangt.
Beim Betteln um Menschenrechte, um Menschenwürde. Wir sollen uns einer Gesellschaft gefällig machen, die uns im besten Fall nicht sehen möchte, die uns aussondert in Sonder-Schulen und Heime, im schlechtesten Fall aus bestem Gewissen heraus ermordet.
Am 28. April diesen Jahres wurden vier Menschen im Oberlinhaus in Potsdam brutal getötet. In den Medien wurde von „Erlösung“ oder „Überforderung“ als Tatmotiv gesprochen. Ich widerspreche. Ich bezeichne es als Mord.
Mord an Behinderten, Krüppel(n), an „lebensunwertem Leben“, das hat Tradition in Deutschland. Eine Tradition, die weit zurück reicht, aber in der Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht hat, auf welchem systematisch behinderte Personen ermordet wurden.
Mord aus „edlen“ Motiven, denn so wie wir, so will doch kein Mensch leben – sagen die Gesunden, jene, die Normalität als Norm für sich definiert haben.
Mord als „Euthanasie“, als „Sterbehilfe“, als „milde Gabe“. Mein Leben in den Händen von Menschen, deren Mitleid meinen Tod bedeuten könnte.
Ja, auch meinen. Nicht alle Behinderungen sind sichtbar. Nicht alle von uns nutzen Rollstühle, Rollatoren, Langstock oder ähnliche, sichtbare Hilfsmittel.
Ich bin Autist_in und Krüppel. Der Glottalstop hier ist wichtig, der zeigt meine Nichtbinarität. Ich bin lebende Intersektionalität, ich bin trans und autistisch. Macht das Leben auf jeden Fall weniger langweilig, auch wenn ich weniger diskriminierend bevorzugen würde.
Mein Gehirn funktioniert anders als das jener, welche die Norm setzen. Ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung ist autistisch.
Autismus ist eine Neurodiversität, genauso wie ADHS, aber zum Beispiel auch Legasthenie, Dyskalkulie und Dyspraxie.
Ich benutze zur Beschreibung von Autismus gerne, dass mein Hirn auf Linux funktioniert – in einer Welt, gemacht für Windows-PCs.
Unsichtbare Behinderungen können schützen – aber müssen es nicht unbedingt. Hans Asperger, Namensgeber des mittlerweile überholten Asperger-Syndroms (derzeit ist das alles die „Autismus-Spektrum-Störung“) hat die Kinder, die ihm nicht „gefielen“, die nicht seiner Definition einer „interessanten Störung“ entsprachen, in Krankenhäuser überstellen lassen, in denen die Aktion T4 – die systematische Ermordung von Behinderten während des Nationalsozialismus – durchgeführt wurde. Er war außerdem der Meinung, Autisten (ja, nur Jungen/Männer) hätten keinen Humor. Möglicherweise war er einfach nicht besonders amüsant.
Unsichtbar zu sein, rettet nicht immer.
Es kann auch behindern – ich habe keinen Knüppel, den jemandem ans Schienbein schlagen könnte, wie es einst Franz Christoph mit seiner Krücke bei Bundespräsident Karl Carstens Schienbein tat.
Die damalige Krüppelbewegung war radikal und in einer denkbar schlechten Ausgangslage. „Nicht über uns ohne uns!“ ist eines der Schlagworte gewesen, das wir heute noch verwenden – statt über Betroffene zu reden, soll mit ihnen, den Expert_innen in eigener Sache, geprochen werden.
Das war in den 80ern. Heute stehen weiß-besprühte Rollstühle für ermorderte Behinderte, von denen wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt einen Rollstuhl nutzten. Mittlerweile verrotten diese Rollstühle auf ästhetische Weise im Garten des Oberlinhauses. Ein würdevolles Gedenken sieht anders aus, als die Gedenkobjekte, die Hilfsmittel, von der Natur überwuchern zu lassen.
Die Hilfsmittel. Wird von mir nur eine Brille überbleiben und mein Stimming Schmuck? Werden Diabetiker_innen durch ihre Insulinpumpe dargestellt? Sind wir wirklich nichts anderes, als unsere Hilfsmittel? Tote werden aufgebahrt, an Ermordete wird mit einem Foto gedacht… Ich habe noch nie erlebt, dass ermordeten Gehenden mittels weiß besprühter Schuhe gedacht wurde.
Heute werden noch immer in Werkstätten für Menschen mit Behinderung die Mitarbeitenden ausgebeutet – eine vierzig Stunden-Woche für ein Taschengeld zwischen achtzig und zweihundert Euro. Damit sich sogenannte „Normale“ gut fühlen können, wenn sie Nippes und Weihnachtsgeschenke von „Diesenda“ gefertigt kaufen und verschenken können. Ausbeutung, aber mit einem guten Gewissen.
Darum geht es nämlich tatsächlich: dass sich die „Normalen“, die „Gesunden“ gut fühlen – Behinderte sollen verschwinden, unsichtbar werden, nicht stören. Stören sie, werden sie laut, versetzen sie Hiebe mit ihren Krücken – dann ist der Aufschrei, das empörte Luftschnappen der Mehrheitsgesellschaft spürbar.
Was bilden sich „Dieseda“ eigentlich ein? Sollten sie nicht dankbar sein, dafür, dass wir sie…
Ja? frage ich da. Dankbar für was? Dass ihr uns leben lasst? Dass ihr zwar immer noch Behinderte mittels Pille und Dreimonatsspritze (oder gar Sterilisation) unfruchtbar macht, weil für euch die Vorstellung, dass wir ein erfülltes Sexualleben haben, mit Grauen erfüllt, aber zumindest der Fehler unserer Existenz zumindest nach der Geburt nicht ausgemerzt wird? Außer, es ist Überforderung im Spiel, versteht sich…
Derzeit erleben die 90er modetechnisch ein Comeback – und auch diskurstechnisch. Wir erleben, wie die gleichen Fragen gestellt werden, als wäre es das erste Mal:
Sollten wir die Möglichkeit vorantreiben, pränatal zu bestimmen, ob ein Kind behindert sein könnte? Sollten wir die genetischen Gründe für Autismus suchen?
In den 80ern war es kein Autismus, damals gab es vor allem die pränatalen Untersuchen für Trisomie 21 – auch „Downsyndrom“ genannt. Mittlerweile gehört diese Untersuchung zum Standard, ebenso die drängende Stimme der Ärzt_innen, wenn die Wahrscheinlichkeit anschlägt: „Wollen Sie das wirklich behalten?“
Nun, wollen wir? Wollen wir uns als Gesellschaft behinderte Kinder leisten? Können wir gebärenden Personen die körperliche Selbstbestimmung zusprechen, im Fall eines behinderten Kindes aber absprechen? Können wir Eltern zwingen, behinderte Kinder zu bekommen? Derzeit ist es andersherum. Derzeit wird über die Körper schwangerer Personen per Gesetz entschieden, derzeit sind die Paragraphen 218 und 219a in Kraft, derzeit wird ihnen die körperliche Selbstbestimmung abgesprochen. Eine Abtreibung ist eine Straftat, sie bleibt nur manchmal straffrei – wenn die Fristen und die Bestimmungen eingehalten werden.
Die Fristen und die Bestimmungen stehen fest – außer, es handelt sich um ein behindertes Kind. Diese dürfen, sollen teilweise gar, sogar deutlich länger abgetrieben werden als ihre normalen, normal-gemachten, normal-verdachten Geschwister.
Bereits die Krüppelfrauen hatten mit diesem Dilemma zu kämpfen und auch wir heute können uns nur auf die Lösung einigen, die sie Mitte der 80er vorgeschlagen haben: Eine Abschaffung der Paragraphen 218 und 219a Strafgesetzbuch, aber gleichzeitig keine Unterstützung eugenischer Forschung, eine Abschaffung der Sonderregelungen für behinderte Kinder und mehr Unterstützung für schwangere Personen, bei denen eine Wahrscheinlichkeit für ein behindertes Kind festgestellt wurde.
Wenn zwischen 70 und 90% der cis Frauen, die ein Kind mit Trisomie 21 erwarten, die Schwangerschaft abbrechen, dann ist das ein Symptom einer Gesellschaft, die behindertes Leben als unzureichend darstellt und keine individuelle Verantwortung gebärender Personen!
Radikalität heißt, radikal für das Selbstbestimmungsrecht aller Personen einzustehen. Es heißt, radikal inklusiv zu sein. Die eigenen Räume zu überprüfen.
Warum gibt es kaum sichtbare Behinderte in linken, in autonomen, in emanzipatorischen Räumen? Warum gibt es keine Unterstützung für unsichtbar Behinderte, warum kann das nicht ermöglicht werden? Sind wir so inklusiv, wie wir es fordern, dass die Gesellschaft zu werden hat? Diese Fragen sollten wir uns alle stellen - und nicht nur uns selbst, sondern auch den Verantwortlichen aller Räume, in denen wir uns bewegen - oder bewegen wollen.
Hier gibt es jetzt noch Sticker, auf dass jeder Krüppel seinen Knüppel erheben mag, gegen Ableismus und für praktische Inklusion.
Wir sind ein Debattenmagazin. Wenn du dich zu einem unserer Inhalte äußern möchtest, steht es dir frei, einen eigenen Beitrag zu verfassen. Wir haben bei dem betreffenden Artikel keine Diskriminierungsformen gesehen, sonst hätten wir ihn ja nicht veröffentlicht.
Ein linkes "Debattenmagazin".
Ich mag Debatten. Debatten sorgen dafür, dass Menschen Argumente austauschen und im besten Fall mit mehr Wissen aus einer Situation hervorgehen, als sie hineingekommen sind - selbst, wenn sich keine Einigkeit innerhalb der Situation erzielen lässt.
Ich empfinde politischen Konsens als schwierig bis langweilig - ohne andere Gesichtspunkte (die durchaus valide sein können, es müssen nur nicht meine sein), gibt es keine Bewegung, nur Stillstand. Bereits Marx und Bakunin hatten einen lebhaften Briefwechsel, in dem sie sich gegenseitig die Schwächen der jeweiligen Analyse (und Lösungsansätze) vorwarfen (leider nicht Bakunins Antisemitismus, das hätte es noch besser gemacht. Aber auch Marx sah dort wohl keine zu kritisierende Diskriminierung). Eine objektive Wahrheit existiert ohnehin nicht, dafür sind die meisten Themen zu komplex und Personen zu verschieden.
Für eine Debatte müssen Grundsätze eingehalten werden. Gerade linke Debatten zeichnen sich - normalerweise - dadurch aus, dass ihre Grundsätze über jene des Bürgertums hinausgehen.
Gegen jeden Sexismus, Rassismus, Antisemitismus (ab jetzt wird es schwieriger, Queerfeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Inklusion sind schon deutlich seltener vorhanden).
Und ab jetzt wird es völlig kompliziert. Was Sexismus, Rassismus und Antisemitismus ist, darüber streiten sich bereits die Geister. Wenn für die einen die Gespräche darüber, ob "Frauen eh nur Falschaussagen bezüglich Vergewaltigung machen" bloß eine Polemik darstellen, bezeichnen andere (darunter auch ich) diese durchaus als sexistisch. Geht doch die Aussage davon aus, dass Frauen
a) öfter lügen würden
b) seltener vergewaltigt werden, als sie (und Studien) behaupten
Wer ein Problem mit derlei Aussagen hat, darf gerne einen Debattenbeitrag schreiben und widerlegen, dass Frauen lügen und seltener vergewaltigt werden. Der freie Marktplatz der Ideen, eben.
Doch, ist dieser Marktplatz wirklich so "frei"? Gerade jene Strömungen, die (wahlweise) Feminist_innen oder Queers per se Sprechverbote unterstellen und den Queerfeminismus als "neoliberales Feigenblatt" bezeichnen, berufen sich plötzlich auf den "freien Marktplatz der Ideen", wenn es darum geht, die eigenen Veröffentlichungen mal materialistisch zu prüfen.
Materialistisch heißt hier: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Es heißt, dass wir in einer patriarchalen, sexistischen Struktur leben, die dafür sorgt, dass (cis) Frauen dazu erzogen werden, körperliche Übergriffe eher über sich ergehen zu lassen, weil ihnen aberzogen wurde, ihre eigenen Grenzen setzen zu dürfen.
Es heißt, dass wir in einer Struktur leben, die (cis) Frauen dazu erzieht, Täter_innen im eigenen Umfeld zu negieren, da ihnen die Angst vor dem "Fremden in den Büschen" beigebracht wurde, nicht aber die Angst vor der Vergewaltigung im eigenen Bett.
Diese Struktur, das Patriarchat, ist real. (Das wir das immer noch diskutieren müssen, ist seit den Tomatenwürfen von 1968 und dem Buch "Das andere Geschlecht" von Simone de Beauvoir nun wirklich mehr als peinlich, aber offensichtlich sind wir tatsächlich noch nicht weiter.)
Es ist so real, dass es nicht "weggedacht" werden kann. Eine Debatte, auf der einerseits weiße dya-cis Männer die Lebensrealität und die Erfahrungen von FLINTA diskutieren wollen und andererseits diese "beweisen" sollen, dass der "Advocatus diaboli", der sogenannte "Advokat des Teufels" im Unrecht ist, ist von Haus aus nicht gleichwertig. Jedes Argument, das eine persönliche Situation als Grundlage hat (und jeder sexualisierte Übergriff ist eine persönliche Situation, strukturell sind nur Häufigkeit und Reaktionen darauf), kann als "emotional" oder "erlogen" abgeschmettert werden - so wird sexualisierte Gewalt zu einer philosophischen Frage, abgerundet mit dem Zitat eines Täters:
Taten - und ihre Konsequenzen - werden zu philosophischen Debatten, zu Wortklaubereien. Gleichzeitig wird jenen, die das nicht hinnehmen wollen, vorgeworfen, zu emotional zu reagieren, "Sprechverbote" zu erteilen oder "überall Diskriminierung zu wittern".
Nun, bei dieser Form der Debattenkultur brauche ich nicht die Nase eines Spürhunds, um Diskriminierung zu riechen - die stinkt bereits zum Himmel. Strukturelle Diskriminierungen mit einer "gleichbleibenden Debattengrundlage" zu verunsichtbaren, um dann diskriminierende Klischees mit dem Anstrich einer intellektuellen Auseinandersetzung aneinanderzureihen, ist konservativer und neo-liberaler als den Menschen, die das tun, möglicherweise lieb ist. Es ignoriert gesellschaftliche Fakten und verklärt diese zu reinem Wunschdenken, anstatt sich realistisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Das wäre vermutlich einerseits zu anstrengend und andererseits komplizierter, als Behauptungen aufzustellen, wie beispielsweise, dass die Umbenennung einer Leipziger Studi-Zeitschrift die Islamisierung der Stadt belegen würde.
Eine persönliche Bemerkung zum Abschluss: Wenn du den Eindruck hast, nur von "verletzlichen Gefühlen auf Beinen" umgeben zu sein, selbst aber den harten Macker markieren musst, dem Emotionen fremd sind, warum stehst du damit inhaltlich einer schlagenden Verbindung näher als feministischen Grundsätzen?