Autor: Fluff

  • Redebeitrag „the future is intersectional“ – Krüppel-Aktivismus

    Hallo.
    Danke, dass ihr alle gekommen seid, danke, dass wir zusammen die Pride radikaler machen. Danke auch an all jene, die heute dafür gesorgt haben, dass ich hier sein kann. Die Menschen, die meinen Krüppel-Aktivismus ermöglichen, weil sie pflegende Angehörige sind, weil sie mein Netzwerk bilden, ohne das ich weder leben – noch aktivistisch sein könnte. Die Menschen, die bezahlte und unbezahlte Sorge- und Carearbeit übernehmen, die Menschen, die unsichtbar hinter mir stehen.

    Es gibt einen furchtbar schlechten Spruch: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.“
    Nun, im Fall von be_hinderten Aktivist_innen, manche von uns bezeichnen sich auch als Krüppel, stimmt das tatsächlich. Hinter jeder/m von uns steht ein Netzwerk, welches uns den Aktivismus erst ermöglicht. Behindertenaktivismus hat einen Bias, den Bias der Überlebenden: Nur diejenigen von uns, die in dieser Gesellschaft bestehen können, sind überhaupt in der Lage, Aktivismus zu machen. Wir können nur deshalb radikal sein, weil wir privilegiert genug sind, überhaupt unsere Stimmen erheben zu können.

    Radikalität

    Zum Thema Radikalität:

    In der ersten Krüppelbewegung Deutschlands gab es den Slogan „Jedem Krüppel seinen Knüppel“, unter dem Stör-Aktionen organisiert wurden, wo die Anliegen behinderter Menschen nicht ausreichend mitbedacht wurden. Mittlerweile sind wir eher bei „Aktion Sorgenkind“ (umbenannt in „Aktion Mensch“) angelangt.

    Beim Betteln um Menschenrechte, um Menschenwürde. Wir sollen uns einer Gesellschaft gefällig machen, die uns im besten Fall nicht sehen möchte, die uns aussondert in Sonder-Schulen und Heime, im schlechtesten Fall aus bestem Gewissen heraus ermordet.

    Am 28. April diesen Jahres wurden vier Menschen im Oberlinhaus in Potsdam brutal getötet. In den Medien wurde von „Erlösung“ oder „Überforderung“ als Tatmotiv gesprochen. Ich widerspreche. Ich bezeichne es als Mord.

    Mord

    Mord an Behinderten, Krüppel(n), an „lebensunwertem Leben“, das hat Tradition in Deutschland. Eine Tradition, die weit zurück reicht, aber in der Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht hat, auf welchem systematisch behinderte Personen ermordet wurden.

    Mord aus „edlen“ Motiven, denn so wie wir, so will doch kein Mensch leben – sagen die Gesunden, jene, die Normalität als Norm für sich definiert haben.

    Mord als „Euthanasie“, als „Sterbehilfe“, als „milde Gabe“. Mein Leben in den Händen von Menschen, deren Mitleid meinen Tod bedeuten könnte.

    Ja, auch meinen. Nicht alle Behinderungen sind sichtbar. Nicht alle von uns nutzen Rollstühle, Rollatoren, Langstock oder ähnliche, sichtbare Hilfsmittel.

    Intersektionalität

    Ich bin Autist_in und Krüppel. Der Glottalstop hier ist wichtig, der zeigt meine Nichtbinarität. Ich bin lebende Intersektionalität, ich bin trans und autistisch. Macht das Leben auf jeden Fall weniger langweilig, auch wenn ich weniger diskriminierend bevorzugen würde.
    Mein Gehirn funktioniert anders als das jener, welche die Norm setzen. Ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung ist autistisch.

    Autismus ist eine Neurodiversität, genauso wie ADHS, aber zum Beispiel auch Legasthenie, Dyskalkulie und Dyspraxie.

    Ich benutze zur Beschreibung von Autismus gerne, dass mein Hirn auf Linux funktioniert – in einer Welt, gemacht für Windows-PCs.

    Unsichtbare Behinderungen können schützen – aber müssen es nicht unbedingt. Hans Asperger, Namensgeber des mittlerweile überholten Asperger-Syndroms (derzeit ist das alles die „Autismus-Spektrum-Störung“) hat die Kinder, die ihm nicht „gefielen“, die nicht seiner Definition einer „interessanten Störung“ entsprachen, in Krankenhäuser überstellen lassen, in denen die Aktion T4 – die systematische Ermordung von Behinderten während des Nationalsozialismus – durchgeführt wurde. Er war außerdem der Meinung, Autisten (ja, nur Jungen/Männer) hätten keinen Humor. Möglicherweise war er einfach nicht besonders amüsant.

    Unsichtbar zu sein, rettet nicht immer.

    Krüppelbewegung

    Es kann auch behindern – ich habe keinen Knüppel, den jemandem ans Schienbein schlagen könnte, wie es einst Franz Christoph mit seiner Krücke bei Bundespräsident Karl Carstens Schienbein tat.

    Die damalige Krüppelbewegung war radikal und in einer denkbar schlechten Ausgangslage. „Nicht über uns ohne uns!“ ist eines der Schlagworte gewesen, das wir heute noch verwenden – statt über Betroffene zu reden, soll mit ihnen, den Expert_innen in eigener Sache, geprochen werden.

    Das war in den 80ern. Heute stehen weiß-besprühte Rollstühle für ermorderte Behinderte, von denen wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt einen Rollstuhl nutzten. Mittlerweile verrotten diese Rollstühle auf ästhetische Weise im Garten des Oberlinhauses. Ein würdevolles Gedenken sieht anders aus, als die Gedenkobjekte, die Hilfsmittel, von der Natur überwuchern zu lassen.
    Die Hilfsmittel. Wird von mir nur eine Brille überbleiben und mein Stimming Schmuck? Werden Diabetiker_innen durch ihre Insulinpumpe dargestellt? Sind wir wirklich nichts anderes, als unsere Hilfsmittel? Tote werden aufgebahrt, an Ermordete wird mit einem Foto gedacht… Ich habe noch nie erlebt, dass ermordeten Gehenden mittels weiß besprühter Schuhe gedacht wurde.

    Ausbeutung und Werkstätten

    Heute werden noch immer in Werkstätten für Menschen mit Behinderung die Mitarbeitenden ausgebeutet – eine vierzig Stunden-Woche für ein Taschengeld zwischen achtzig und zweihundert Euro. Damit sich sogenannte „Normale“ gut fühlen können, wenn sie Nippes und Weihnachtsgeschenke von „Diesenda“ gefertigt kaufen und verschenken können. Ausbeutung, aber mit einem guten Gewissen.

    Darum geht es nämlich tatsächlich: dass sich die „Normalen“, die „Gesunden“ gut fühlen – Behinderte sollen verschwinden, unsichtbar werden, nicht stören. Stören sie, werden sie laut, versetzen sie Hiebe mit ihren Krücken – dann ist der Aufschrei, das empörte Luftschnappen der Mehrheitsgesellschaft spürbar.

    Was bilden sich „Dieseda“ eigentlich ein? Sollten sie nicht dankbar sein, dafür, dass wir sie…

    Ja? frage ich da. Dankbar für was? Dass ihr uns leben lasst? Dass ihr zwar immer noch Behinderte mittels Pille und Dreimonatsspritze (oder gar Sterilisation) unfruchtbar macht, weil für euch die Vorstellung, dass wir ein erfülltes Sexualleben haben, mit Grauen erfüllt, aber zumindest der Fehler unserer Existenz zumindest nach der Geburt nicht ausgemerzt wird? Außer, es ist Überforderung im Spiel, versteht sich…

    Selbstbestimmung

    Derzeit erleben die 90er modetechnisch ein Comeback – und auch diskurstechnisch. Wir erleben, wie die gleichen Fragen gestellt werden, als wäre es das erste Mal:

    Sollten wir die Möglichkeit vorantreiben, pränatal zu bestimmen, ob ein Kind behindert sein könnte? Sollten wir die genetischen Gründe für Autismus suchen?
    In den 80ern war es kein Autismus, damals gab es vor allem die pränatalen Untersuchen für Trisomie 21 – auch „Downsyndrom“ genannt. Mittlerweile gehört diese Untersuchung zum Standard, ebenso die drängende Stimme der Ärzt_innen, wenn die Wahrscheinlichkeit anschlägt: „Wollen Sie das wirklich behalten?“

    Nun, wollen wir? Wollen wir uns als Gesellschaft behinderte Kinder leisten? Können wir gebärenden Personen die körperliche Selbstbestimmung zusprechen, im Fall eines behinderten Kindes aber absprechen? Können wir Eltern zwingen, behinderte Kinder zu bekommen? Derzeit ist es andersherum. Derzeit wird über die Körper schwangerer Personen per Gesetz entschieden, derzeit sind die Paragraphen 218 und 219a in Kraft, derzeit wird ihnen die körperliche Selbstbestimmung abgesprochen. Eine Abtreibung ist eine Straftat, sie bleibt nur manchmal straffrei – wenn die Fristen und die Bestimmungen eingehalten werden.

    Die Fristen und die Bestimmungen stehen fest – außer, es handelt sich um ein behindertes Kind. Diese dürfen, sollen teilweise gar, sogar deutlich länger abgetrieben werden als ihre normalen, normal-gemachten, normal-verdachten Geschwister.

    Krüppel und Krüpplfrauen

    Bereits die Krüppelfrauen hatten mit diesem Dilemma zu kämpfen und auch wir heute können uns nur auf die Lösung einigen, die sie Mitte der 80er vorgeschlagen haben: Eine Abschaffung der Paragraphen 218 und 219a Strafgesetzbuch, aber gleichzeitig keine Unterstützung eugenischer Forschung, eine Abschaffung der Sonderregelungen für behinderte Kinder und mehr Unterstützung für schwangere Personen, bei denen eine Wahrscheinlichkeit für ein behindertes Kind festgestellt wurde.

    Wenn zwischen 70 und 90% der cis Frauen, die ein Kind mit Trisomie 21 erwarten, die Schwangerschaft abbrechen, dann ist das ein Symptom einer Gesellschaft, die behindertes Leben als unzureichend darstellt und keine individuelle Verantwortung gebärender Personen!

    Radikalität heißt, radikal für das Selbstbestimmungsrecht aller Personen einzustehen. Es heißt, radikal inklusiv zu sein. Die eigenen Räume zu überprüfen.

    Sichtbarkeit

    Warum gibt es kaum sichtbare Behinderte in linken, in autonomen, in emanzipatorischen Räumen? Warum gibt es keine Unterstützung für unsichtbar Behinderte, warum kann das nicht ermöglicht werden? Sind wir so inklusiv, wie wir es fordern, dass die Gesellschaft zu werden hat? Diese Fragen sollten wir uns alle stellen – und nicht nur uns selbst, sondern auch den Verantwortlichen aller Räume, in denen wir uns bewegen – oder bewegen wollen.

    Hier gibt es jetzt noch Sticker, auf dass jeder Krüppel seinen Knüppel erheben mag, gegen Ableismus und für praktische Inklusion.

  • Der „freie Marktplatz der Ideen“ – neoliberal statt emanzipatorisch

    Wir sind ein Debattenmagazin. Wenn du dich zu einem unserer Inhalte äußern möchtest, steht es dir frei, einen eigenen Beitrag zu verfassen. Wir haben bei dem betreffenden Artikel keine Diskriminierungsformen gesehen, sonst hätten wir ihn ja nicht veröffentlicht.

    Ein linkes „Debattenmagazin“.

    Ich mag Debatten. Debatten sorgen dafür, dass Menschen Argumente austauschen und im besten Fall mit mehr Wissen aus einer Situation hervorgehen, als sie hineingekommen sind – selbst, wenn sich keine Einigkeit innerhalb der Situation erzielen lässt.

    Ich empfinde politischen Konsens als schwierig bis langweilig – ohne andere Gesichtspunkte (die durchaus valide sein können, es müssen nur nicht meine sein), gibt es keine Bewegung, nur Stillstand. Bereits Marx und Bakunin hatten einen lebhaften Briefwechsel, in dem sie sich gegenseitig die Schwächen der jeweiligen Analyse (und Lösungsansätze) vorwarfen (leider nicht Bakunins Antisemitismus, das hätte es noch besser gemacht. Aber auch Marx sah dort wohl keine zu kritisierende Diskriminierung). Eine objektive Wahrheit existiert ohnehin nicht, dafür sind die meisten Themen zu komplex und Personen zu verschieden.

    Aber.

    Für eine Debatte müssen Grundsätze eingehalten werden. Gerade linke Debatten zeichnen sich – normalerweise – dadurch aus, dass ihre Grundsätze über jene des Bürgertums hinausgehen.
    Gegen jeden Sexismus, Rassismus, Antisemitismus (ab jetzt wird es schwieriger, Queerfeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Inklusion sind schon deutlich seltener vorhanden).

    Und ab jetzt wird es völlig kompliziert. Was Sexismus, Rassismus und Antisemitismus ist, darüber streiten sich bereits die Geister. Wenn für die einen die Gespräche darüber, ob „Frauen eh nur Falschaussagen bezüglich Vergewaltigung machen“ bloß eine Polemik darstellen, bezeichnen andere (darunter auch ich) diese durchaus als sexistisch. Geht doch die Aussage davon aus, dass Frauen

    a) öfter lügen würden

    b) seltener vergewaltigt werden, als sie (und Studien) behaupten

    Wer ein Problem mit derlei Aussagen hat, darf gerne einen Debattenbeitrag schreiben und widerlegen, dass Frauen lügen und seltener vergewaltigt werden. Der freie Marktplatz der Ideen, eben.

    Doch, ist dieser Marktplatz wirklich so „frei“? Gerade jene Strömungen, die (wahlweise) Feminist_innen oder Queers per se Sprechverbote unterstellen und den Queerfeminismus als „neoliberales Feigenblatt“ bezeichnen, berufen sich plötzlich auf den „freien Marktplatz der Ideen“, wenn es darum geht, die eigenen Veröffentlichungen mal materialistisch zu prüfen.

    Materialistisch heißt hier: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
    Es heißt, dass wir in einer patriarchalen, sexistischen Struktur leben, die dafür sorgt, dass (cis) Frauen dazu erzogen werden, körperliche Übergriffe eher über sich ergehen zu lassen, weil ihnen aberzogen wurde, ihre eigenen Grenzen setzen zu dürfen.
    Es heißt, dass wir in einer Struktur leben, die (cis) Frauen dazu erzieht, Täter_innen im eigenen Umfeld zu negieren, da ihnen die Angst vor dem „Fremden in den Büschen“ beigebracht wurde, nicht aber die Angst vor der Vergewaltigung im eigenen Bett.

    Diese Struktur, das Patriarchat, ist real. (Das wir das immer noch diskutieren müssen, ist seit den Tomatenwürfen von 1968 und dem Buch „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir nun wirklich mehr als peinlich, aber offensichtlich sind wir tatsächlich noch nicht weiter.)

    Es ist so real, dass es nicht „weggedacht“ werden kann. Eine Debatte, auf der einerseits weiße dya-cis Männer die Lebensrealität und die Erfahrungen von FLINTA diskutieren wollen und andererseits diese „beweisen“ sollen, dass der „Advocatus diaboli“, der sogenannte „Advokat des Teufels“ im Unrecht ist, ist von Haus aus nicht gleichwertig. Jedes Argument, das eine persönliche Situation als Grundlage hat (und jeder sexualisierte Übergriff ist eine persönliche Situation, strukturell sind nur Häufigkeit und Reaktionen darauf), kann als „emotional“ oder „erlogen“ abgeschmettert werden – so wird sexualisierte Gewalt zu einer philosophischen Frage, abgerundet mit dem Zitat eines Täters:

    Taten – und ihre Konsequenzen – werden zu philosophischen Debatten, zu Wortklaubereien. Gleichzeitig wird jenen, die das nicht hinnehmen wollen, vorgeworfen, zu emotional zu reagieren, „Sprechverbote“ zu erteilen oder „überall Diskriminierung zu wittern“.

    Nun, bei dieser Form der Debattenkultur brauche ich nicht die Nase eines Spürhunds, um Diskriminierung zu riechen – die stinkt bereits zum Himmel. Strukturelle Diskriminierungen mit einer „gleichbleibenden Debattengrundlage“ zu verunsichtbaren, um dann diskriminierende Klischees mit dem Anstrich einer intellektuellen Auseinandersetzung aneinanderzureihen, ist konservativer und neo-liberaler als den Menschen, die das tun, möglicherweise lieb ist. Es ignoriert gesellschaftliche Fakten und verklärt diese zu reinem Wunschdenken, anstatt sich realistisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
    Das wäre vermutlich einerseits zu anstrengend und andererseits komplizierter, als Behauptungen aufzustellen, wie beispielsweise, dass die Umbenennung einer Leipziger Studi-Zeitschrift die Islamisierung der Stadt belegen würde.

    Eine persönliche Bemerkung zum Abschluss: Wenn du den Eindruck hast, nur von „verletzlichen Gefühlen auf Beinen“ umgeben zu sein, selbst aber den harten Macker markieren musst, dem Emotionen fremd sind, warum stehst du damit inhaltlich einer schlagenden Verbindung näher als feministischen Grundsätzen?

  • Rostiges Herz Berlin – Buchrezension

    Berlin, die rastlose Stadt am Meer. Hier ragen die Türme der Zauberer bis in den Himmel. Im Schein der Glühlichter werden rauschende Partys gefeiert. Zucker wird in Gold aufgewogen und die Geheimpolizei wacht über den zerbrechlichen Frieden zwischen Zauberern und Erfindern.

    https://amrun-verlag.de/produkt/berlin/

    Berlin, die Stadt der Türme, der Zauberer_innen und der Erfindenden – eine Dystopie, ein wenig Urban Fantasy, ein wenig Puderzucker (und der Geschmack von Macarons).

    Berlin liegt neuerdings am Meer. „Neuerdings“ ist allerdings grob gesagt einige hundert bis tausend Jahre in einer nicht näher definierten Zukunft (aber den Klimawandel scheint es auch dort gegeben zu haben).
    Kurz vorm dem Auslöschen der Menschheit kommen die Magiebegabten zurück und retten die Überlebenden.

    Ergebnis ist ein halb magisches, halb technisches Gesellschaftserleben, mit steampunkartiger Glasur und einer kleinen, aber feinen Unterscheidung zwischen „Fingerschnipsern“ und „Rostfressern“ – die einen führten die Menschheit in den Untergang, die anderen erretteten sie.

    Zentrum der Geschichte ist eine lesbische Erfinderin, deren beste Freundin und langjähriger, heimlicher Schwarm vor ihren Augen ermordet wird (und da diese aus einer Zaubererfamilie stammt, muss natürlich die Protagonistin schuld sein). Daraus entwickelt sich eine interessante, bildgewaltige Jagd nach dem_der wahren Strippenzieher_in und den echten Täter_innen, inklusive Katz-und-Maus-Spiel, Befreundung eigentlich verfeindeter Personen, ein wenig Detektivarbeit und sehr viel Aktion.

    Das Buch punktet mit seinen lebhaften Beschreibungen, es lässt sich gut in die Geschichte eintauchen und wer schon einmal (oder öfter) im heutigen Berlin war, wird sich darin wiederfinden. Die Routen der Protagonist_innen lassen sich jedenfalls ganz hervorragend mit ein paar Macarons in der Hand im heutigen Berlin flanierend nachvollziehen, wenn auch die Dystopie nicht viel der Stadt übrig gelassen hat.
    Wer mag, darf sich das dazu passende Outfit anziehen und ein wenig vom Steampunk träumen.

    Der Plot ist solide, der Umgang der Held_innen mit Schmerz und Trauma nicht wegwischend lapidar, sondern nachfühlbar – ohne dabei zu pathetisch zu werden. Magie und Erfindungsreichtum runden es ab, nebenbei wird noch ein wenig klassische Gesellschaftskritik vermittelt. So weit, so gelungen.

    Kritikwürdig (gerade in einem Setting, in dem Homosexualität vollständig akzeptiert zu sein scheint) ist die Reproduktion klassischer Geschlechterrollen in Kleidung und Haarpracht – Männer tragen Anzug, Frauen Kleider (maximal noch einen dezenten Hosenanzug). Trans Personen gibt es in der Gesellschaft schlicht und ergreifend nicht, latenten Sexismus dagegen schon – sowohl die mächtigen Erfinder, Zuckerbäcker, als auch die mächtigsten Zauberer sind Männer, die weiblichen Rollen (bis auf die Protagonistin und eine weitere Person) bleiben blass, beinahe farblos. Da ginge mehr und da würde ich mir bei den kommenden Bänden mehr wünschen – gerade in einem Roman, der sich LGBTIQ+ auf die Fahne geschrieben hat. Gleichzeitig ist eine lesbische Frau als Protagonistin einer Fantasy-Reihe schon ein Fortschritt dieses Genres, den ich freudig begrüße, davon braucht es definitiv mehr!

    Alles in allem ist „Rostiges Herz Berlin“ von Sarah Stoffers eine Bereicherung meines Fantasy-Regals und ich würde jeder Person, die gut gemachte Fantasy genießt, empfehlen, es zu lesen. Am besten mit ein paar guten (!) Macarons in einer Schüssel neben sich und einem heißen Kaffee.
    Den zweiten Band habe ich schon vorbestellt und werde natürlich auch dann wieder darüber berichten!

  • Geschlechterneutrale Sprache und Autismus.

    Das Missy-Magazin hat ein neues Layout. Sie präsentieren stolz einen „eigenen“ Asterisk (umgangssprachlich „Genderstern“ genannt) und ein „missy-exklusives m“. Der Asterisk wird für geschlechterneutrale Sprache verwendet. Das „m“ hat einen kleinen Schnörkel nach unten. Es wird von jetzt an in jeder Überschrift, die ein „m“ enthält, sein.
    Schwerpunkt des Heftes ist – unter Anderem – feministisches Design. Für ein Heft, das sich „intersektionalen Feminismus“ auf die Fahne geschrieben hat, ein etwas kläglicher Schwerpunkt. Denn an Autismus, Neurodivergenz und Leseschwächen wurde nicht gedacht.

    Intersektionalität ist die Verschränkung unterschiedlicher Diskriminierungsformen. Die Bezeichnung geht auf die Arbeit Schwarzer Feminist_innen zurück. Sie sahen sich weder von weißem Feminismus, noch der Schwarzen, männlich dominierten Bürgerrechtsbewegung in ihren Kämpfen repräsentiert.
    Das Einstellen ausschließlich weißer Frauen und Schwarzer Männer (wenn Unternehmen verpflichtet sind, Minderheiten einzustellen) ist legal. Selbst wenn Schwarze Frauen dadurch spezifisch diskriminiert werden.

    Kurzer Exkurs, zurück zur heutigen Problematik der Intersektionalität. Auch die Verflechtungen von Ableismus, Sexismus, Trans- und Queerfeindlichkeit fallen darunter.
    Und da kommen wir zum Problem: Design und geschlechterneutrale Sprache. Autismus und Neurodivergenzen.

    Geschlechterneutrale Sprache

    Sprache schafft Realität – und bildet Realitäten ab. Unterschiedliche Studien haben bewiesen, dass das generische Maskulinum dazu führt, dass Lesende/Hörende ein männliches Bild im Kopf haben. Das verunsichtbart alle Personen, die nicht männlich sind. Es sorgt langfristig dafür, dass unsere Realität weiterhin eine männlich geprägte, männlich dominierte ist. (Und dafür, dass beispielsweise Mädchen eher Berufe als Wunschberuf angeben, die mit „Weiblichkeit“ assoziiert sind.)

    Eine Lösung dafür können Passivkonstruktionen (Lesende, Lernende, Hörende, etc.) sein. Unterschiedliche Varianten des Entgeschlechtlichens – also beispielsweise Sonderzeichen oder Binnen-I. (Lehrer_innen, Lehrer*innen, LehrerInnen). Sonderzeichen wurden vor allem aus der trans Community heraus entwickelt und gefordert. Es geht um Sichtbarkeit von nichtbinären Personen (und die Einbeziehung dieser). Das Binnen-I kommt vor allem aus einer cis-feministischen Perspektive und war dazu gedacht, Frauen sichtbarer zu machen. Geschlechterneutrale Sprache hat also unterschiedliche Möglichkeiten.

    Klingt gut? Klingt gut. Bisschen ungewohnt, aber da gewöhnen sich Menschen nach und nach dran.
    Aber.

    Probleme

    Ich kann die Missy in Zukunft nur noch mit Pausen lesen. Die Variante des * (in der Mitte des Wortes statt hochgestellt) und des „m“ kann ich nicht flüssig lesen. Ich bin Autist_in. Autimus ist eine Neurodivergenz. Unser Gehirn arbeitet ein wenig anders als die Norm.

    Viele Autisten, Autistinnen und Autist_innen haben das Problem, dass wir Sprache anders wahrnehmen. Uns fehlt ein Filter, der Reize sortiert und in „wichtig“ und „unwichtig“ einordnet. Wenn in einem Text (sehr viele) Sonderzeichen auftauchen, wird dieser Text für neurodiverse schlecht bis un-lesbar. Das betrifft auch blinde und sehbehinderte Menschen. Screenreader sind Programme, die Schriftsprache in Lautsprache übersetzen. Gerade Screenreader können oft Sonderzeichen nicht adäquat (als Glottal Stop) übersetzen. Dadurch klingt ein Text dann so: Lehrer_innen wird zu LehrerUnterstrichInnen. Klingt anstrengend? Ist es auch.

    Screenreader sind eine technische Problematik. Technik ist lösbar. Die Gehirne jener neurodiversen Menschen mit dieser Problematik, sind nicht durch ein IT-Update behandelbar.

    Bedürfnisse

    Wir haben also zwei unterschiedliche Bedürfnisse, die sich konträr gegenüberstehen. Einerseits Sichtbarkeit (die zur Normalisierung führt), andererseits Lesbarkeit und Erfassbarkeit von Informationen.

    Ist eines dieser Bedürfnisse (ich las kürzlich von Exkludierung 1. und 2. Ordnung) dadurch wichtiger als das andere? Ich denke nicht. Studien haben die Problematik des generischen Maskulinums belegt (nämlich, dass es Assoziationen zu Männern herstellt und eben nicht neutral wirkt). Es ist eine komplexe und nicht individuelle Situation. Die Lösung muss eine gesellschaftliche sein. Unsichtbarkeit von nicht-männlichen Personen in der Sprache hat Konsequenzen auf das Leben dieser. Ausschließende Texte aufgrund von Unlesbarkeit haben Konsequenzen für Personen, die diese Texte nicht lesen können.

    Das wiederum gilt auch für beispielsweise Hashtags wie #noAfD oder #TSGabschaffen. Sie werden synonym zum kritisierten Gegenstand verwendet. Es geht darum, z.B. der AfD keine Reichweite zu geben. Der #AfD würde ihr Reichweite geben. Wird statt „AfD“ in einem Tweet #noAfD verwendet, brauche ich deutlich länger, um den Inhalt zu verstehen. Statt flüssigem Lesen ist es eine bewusst-kognitive Handlung – und die kostet deutlich mehr Energie.

    Eine einheitliche, neutrale Form ist wünschenswert. Sowohl für Personen, die unter geschlechtlicher Diskriminierung leiden, als auch für alle, die unter Ableismus leiden. Und noch viel mehr für alle Personen, die von beidem betroffen sind.

    Fazit

    Sonderzeichen waren ein weiterer Schritt auf einem langen Weg. Aber sie sind nicht das Ende der Debatte – auch nicht die Diskussion um ein „korrektes“ Sonderzeichen.
    Gleichzeitig schmerzt es mich, dass ich mich zerrissen fühle zwischen den Bedürfnissen als trans Person und als Autist_in. Hier habe ich schon darüber geschrieben. Als ob es nur eine Möglichkeit gäbe, anstatt gemeinsam nach einer Lösung zu suchen.
    (Ich persönlich verwende den Unterstrich. Er bietet mir die bestmögliche Variante, meine eigenen Texte zu schreiben, zu lesen und zu verstehen.)

  • „Wenn du geredet hättest Desdemona – ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“. Hier jetzt ein ungehaltener Krüppel. – Ein Gastbeitrag von CatInChief

    4 Menschen sind gestorben. Eine Frau wurde verletzt.

    Moment einmal?

    „Gestorben“?

    So, wie in: „nach langer Krankheit gestorben“?

    Oder wie in „in hohem Alter lebenssatt gestorben“?

    Oder wie in „durch einen Unfall gestorben“? Ein Erdbeben“?

    Ist Jesus „gestorben“?

    Friedlich, lebenssatt oder durch einen Unglücksfall?

    Oder wurde er ans Kreuz geschlagen?

    Durch Menschen?

    Ermordet?

    Starb er friedlich?

    „Eli eli lama sabachtani“ schrie er.

    Mein Gott.

    Mein Gott.

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen.

    Wer ist „gestorben“?

    Sind nicht 4 Menschen ermordet worden und eine schwer verletzt?

    Ermordet.

    Bestialisch.

    Quälend.

    Eli

    Eli

    Lama

    Sabachtani

    Haben sie gewiss nicht gesagt.

    Aber vielleicht geschrien. Vielleicht wollten sie schreien. Vielleicht haben sie gebetet. Vielleicht gejammert.

    Mein Gott

    Mein Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    Oder gestöhnt vor Qual. Sich geängstigt. In gottesferner Todesqual.

    Überraschend ermordet.

    Hinterrücks.

    Unerwartet.

    Von einer, die für sie zu sorgen versprach.

    Die dafür ausgebildet war.

    Dafür eingestellt.

    Dafür bezahlt.

    Einer wie uns. Die wir gerne auf „die geringsten Brüder und Schwestern unseres Herrn Jesus Christus“ herab sehen. Denn WIR sind ja die „Besseren“, die „nicht Geringen“.

    Aber – sind sie nur „Geschwister“ und dann noch „geringste“?

    Oder steht nicht der Gekreuzigte, der Leidende, der Schreiende

    Eli

    Eli

    Laba

    Sabachtani

    Mein

    Gott

    Mein

    Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    an ihrer Seite? An ihrem Bett? Leidend wie sie?

    Und NEIN. Nicht der Auferstandene. Nicht der, den wir uns so gern malen. Der „im Himmel“ mit dem vergeistigten Leib. Oder dort, wo, wie ein Plakat sagte, „die Toten jetzt fliegen können wie die Engel.“

    Es war Mord.

    Es war Qual.

    Es war Menschenferne.

    Es war Gottesferne.

    Eli

    Eli

    Laba

    Sabachtani

    Mein

    Gott

    Mein

    Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    Und sie hauchten ihren Geist aus.

    „Hauchten“? Haucht jemand, der mit dem Messer an der Kehle ermordet wird?

    Haben sie nicht eher ihren „Geist ausgeröchelt“? Sind elend gestorben?

    Sie starben nicht lebenssatt. Sie „hauchten“ nicht. So einfach dürfen wir uns das nicht machen mit dem konkreten Tod. An Ermordung ist nichts Sanftes. Nichts friedlich. Auch wenn Jesus der Überlieferung nach „haucht“ am Ende.

    Und wir? Wir „trösten“ uns. Mit Auferstehungslauben und „Hoffnung“.

    Verkaufen den Karfreitag für ein billiges Ostern.

    Nein.

    Nein.

    Nein.

    Karfreitag war real für uns.

    Karfreitag ist.

    Karfreitag war in dieser Nacht.

    Und nicht Ostern.

    Für einige, die Mitbehinderten, wird es für lange Zeit Karsamstag sein.

    Grablegung.

    Grabesruhe.

    Vermissen.

    Angst haben.

    Not haben.

    Klittern wir ihnen nicht UNSER Wohlfühl- und Todesneutralisationsostern um die Ohren, bevor wir auch ihr

    Eli

    Eli

    Laba

    Sabachtani

    Mein

    Gott

    Mein

    Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    Wahrgenommen haben. Ernst genommen haben.

    Dann brauchen wir auch keine Klitterung mehr. Keinen Glaubenszuckerguss über die elende Welt.

    Denn dann ist das Elend etwas, in dem Christus neben uns ist. Solidarisch und wissend. Nicht „schon überwindend“. Elend, am Kreuz. Leidend. Sterbend.

    Und er hauchte seinen Geist aus.

    Martina W.
    Geboren 1990
    Ermordet in ihrem Bett im Oberlinhaus am 28.4.2021

    Christian S.
    Geboren 1985
    Ermordet in seinem Bett im Oberlinhaus am 28.4 2021

    Lucille H.
    Geboren 1978
    Ermordet in ihrem Bett im Oberlinhaus am 28.4 2021

    Andreas K.
    Geboren 1964
    Ermordet in seinem Bett im Oberlinhaus am 28.4 2021

  • Eugenik.

    Ihr seid zu Hause. An einem Ort, den ihr seit eurer Kindheit kennt. Den einzigen Ort, den ihr "Zuhause" nennen könnt. Ihr könnt euch nicht äußern. Ihr könnt nicht mitteilen, ob es euch gut geht oder nicht. 
    Ihr seid abhängig von den Menschen, die um euch herum sind. Und eines Abends kommt eine Person, eine Person, die ihr kennt, die sich um euch kümmert - und tötet euch. 

    Klingt wie der Beginn eines Horrorfilms? Mag sein. Ist aber leider Realität. Es ist die Realität jener Menschen, die in Potsdam-Babelsberg getötet wurden. Es ist die Realität jener Person, die in der gleichen Einrichtung schwer verletzt worden ist. Es ist das Risiko jeder Person, die in einer stationären Einrichtung lebt. Es ist eine banale Realität der Bösartigkeit. Das Böse ist schlussendlich… banal.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Und die Berichterstattung enthält einen Werbeblock für die betreffende Einrichtung.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Und am Ende wird über die Überforderung des_r Täter_in geredet.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Aber es waren ja nur Behinderte.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Aber es war ja nur ne Psychose, die_r Täter_in war psychisch krank!

    Im Oberlinhaus wurden vier Menschen getötet, eine Person wurde schwer verletzt. In Bad Oeynhausen läuft die Anklage gegen eine Person, die in 145 Fällen Freiheitsberaubung gegen Behinderte begangen haben soll. In Japan tötete ein Mann 19 Behinderte, erhält die Todesstrafe – und die Medien nehmen ihn in Schutz. Gewalt in Werkstätten für Menschen mit Behinderung ist soweit Alltag, als das es eine Broschüre in Leichter Sprache gibt, um Betroffene aufzuklären. Die Gewalt ist so weit Alltag, dass die Begründung „sind häufiger Gewalt ausgesetzt“ nicht einmal mehr einem Beleg bedarf und sich die Studie speziell mit betroffenen Frauen auseinandersetzt. Die Gewalt ist so weit Alltag, dass ich mir vorwerfen lassen muss, mit der „Nazikeule“ zu kommen, wenn ich die Aktion T4 in den Kontext dieser Taten setze – oder eben die nationalsozialistische Lehre der sogenannten „Euthanasie„.

    Eigentlich dürfte nichts davon existieren. Eigentlich gibt es die UN-Behindertenrechtskonvention, die für eine Teilhabe an der Gesellschaft für ALLE sorgen soll. Eigentlich sollte es weder Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) geben (in denen diese für ein „Taschengeld“ ausgebeutet werden), noch sogenannte „Kümmerknäste“ (entschuldigung, selbstverständlich meinte ich „stationäre Einrichtungen“), in denen Behinderte teilweise von Kindheit an isoliert leben. Eigentlich.

    Aber es existiert. Alles davon existiert und es existiert nicht in einem luftleeren Raum. Ich trauere und ich habe Angst. Ich bin behindert, ich bin pflegebedürftig. Das Damoklesschwert einer Einrichtung schwebt unsichtbar über meinem Kopf (Redewendung). Ich kenne die Toten nicht. Sie haben keine Namen. Ich weiß nicht, wie es den anderen Menschen in der Einrichtung geht. Darüber wird nicht berichtet. Die gesamte Berichterstattung kreist um die vermutliche Täterin. Sie kreist um ihre Gefühle, ihre Emotionen, ihr Motiv. Sie enthält Werbung für die Einrichtung des Oberlinhaus, darüber, wie lange es diese gibt und wie „aufopferungsvoll“ sich das Personal „kümmert“. Es wird gesagt, dass nicht einmal Zeit bliebe, zu trauern, da „gearbeitet werden müsse“. Ich weiß immer noch nicht, wie es jenen geht, deren Zuhause, deren Sicherheit gerade zerstört wurde. Wird ihnen gesagt, was passiert ist? Wird diese Situation psychologisch aufgefangen? Wird auf die Bedürfnisse eingegangen? Warum wird darüber berichtet, dass für die schwerverletzte Person gebetet wird, nicht aber, wie es den Menschen, die nicht dort arbeiten, die dort leben, geht?

    Ich habe Fragen. Ich habe viele Fragen, die sich alle darum drehen, was das mit Menschen macht, die so sind wie ich.
    Wir unterscheiden uns darin, inwieweit wir in dieser Gesellschaft zurechtkommen, wir unterscheiden uns in der Ausprägung unserer Behinderung. Wir unterscheiden uns in unserer Wahrnehmung und in unserer physischen Gestalt. Aber wir sind dennoch – für jene, die es nicht betrifft – gleich. Wir sind „behindert“.

    Wir sind die, über die in den Kommentarspalten der Meldungen in einer dehumanisierenden, entmenschlichenden Art gesprochen wird, dass mir ganz schlecht wird. Wir sind „dieda“, die „zu bekümmernden“, die „Behinderten“, „die aus den Werkstätten“, die „Hochrisikogruppe“ oder auch die, die umgebracht werden und hinterher wird von der Überforderung der Täter_innen gesprochen. Wir sind die, die an oder mit Corona sterben und hinterher als „Risikogruppe“ oder als „behindert“ oder als „mit Vorerkrankungen“ in die Statistik eingehen.

    Wir sind die, bei denen gerne weggeschaut wird, die außerhalb der Gesellschaft existieren und bei denen ohnehin niemand so richtig Interesse hat, dass sich das ändert.

    Ich schreibe normalerweise Analysen. Heute weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.

    Behinderten die Menschlichkeit abzusprechen, ist alt. Es ist so alt, dass das dritte Reich, die nationalsozialistische Ideologie, es verhältnismäßig einfach hatte, das sogenannte „unwerte Leben“ als erstes auslöschen zu wollen. Es ist so alt, dass Studien, in denen errechnet wird, wie viel ein autistischer Mensch im Leben den Sozialstaat kostet, kommentarlos durchgeführt werden. Es ist so alt, dass Menschen, die ein behindertes Kind erwarten, gefragt werden „ob das denn nötig sei“.

    Ich…. ich möchte das heute nicht analysieren. Ich möchte trauern, trauern um die ungenannten Menschen.
    Ich möchte trauern um jene, die der Ideologie zum Opfer fielen, wir seien nichts wert.
    Ich möchte trauern.

    Und euch gleichzeitig ins Gesicht schreien, dass es an euch ist, die Informationen zu nehmen und zu nutzen und zu verbreiten. Lasst mir meine Trauer. Aber kümmert euch darum, dass es nie wieder geschehen mag!

  • Tiimo – eine App für neurodiverse Menschen

    Ich habe es schon öfter erwähnt, aber jetzt endlich kommt der Beitrag: Meine Rezension zu Tiimo.

    Tiimo ist eine Art Kalenderapp, jedoch werden keine Ereignisse oder Termine eingetragen, sondern Routinen. Als Autist_in brauche ich Routinen, ich vergesse sonst Nahrung, Trinken, auf die Toilette zu gehen, wann ich losgehen muss (und verpasse dementsprechend den Bus oder bin viel zu früh da), etc.

    Routinen geben mir Sicherheit und die Möglichkeit, mein Leben so „normal“ wie möglich zu leben. (Nein, es ist nicht „normal“. Aber es kommt nahe genug an eure Vorstellung von Normalität dran, um den Begriff zu rechtfertigen.) Mit funktionierenden Routinen bin ich entspannt(er), kann studieren, arbeiten und Texte wie diesen schreiben. Unvorhergesehene Ereignisse zerstören Routinen, sind deshalb nicht gerne gesehen.

    Aber zurück zu Tiiimo. Es ist die erste App, der ich trotz Verbesserungsvorschläge fünf Sterne in der Bewertung geben würde. Ich nutze die Version für Android, kann also zur Apple-App nichts sagen (nehme aber gerne Eindrücke entgegen. Kommentarfunktion ist offen.).

    Es gibt sowohl voreingestellte Routinen und Ereignisse, als auch die Option, eigene Routinen und Ereignisse zu erstellen. Dazu werden die Dauer des Ereignisses, ein Bild/Emoji, bei Bedarf eine Hintergrundfarbe und eine Checkliste erstellt. Außerdem kann eingestellt werden, ob die Aktivität vorzeitig begonnen oder beendet werden kann (praktisch bei variablen Aktivitäten wie beispielsweise „auf Toilette gehen“).

    Außer der Dauer der Aktivität sind alle Einstellungen optional. Damit ist Tiimo sowohl für Menschen, die es minimalistisch-übersichtlich brauchen, als auch für jene, die mittels Farben/Emojis eine sofortige Zuordnung machen können, geeignet. Die App kann auf mehreren Geräten gleichzeitig laufen und zusätzlich auch über den PC bearbeitet werden.

    Mehrere Aktivitäten können zu Routinen zusammengefasst werden. Das erspart Zeit, da z.B. „Morgens“ als Routine in meinem Fall sechs verschiedene Aktivitäten umfasst: Aufstehen, Skincare, Yoga (falls möglich), Morgenhygiene, Anziehen, ins Wohnzimmer wechseln. Einige dieser Aktivitäten sind in (per Checkliste abhakbare) Unteraktivitäten unterteilt, um beispielsweise die nötige Reihenfolge bei der Skincare und der Morgenhygiene einhalten zu können. Da diese Routine grundsätzlich gleich bleibt, muss die erstellende Person für den Wochenplan (in meinem Fall der Herzmensch) nicht sechs einzelne Aktivitäten eintragen, sondern nur den Startpunkt der Routine – den Rest erledigt die App.

    Nachteile gibt es aber auch, deshalb hier meine Verbesserungsvorschläge:

    1. Eine Liste mit Aktivitäten, die nur einmal erstellt werden müssen. Derzeit wird jedes Mal eine „neue“ Aktivität erstellt, wodurch die Auflistung sehr unübersichtlich wird und es schlussendlich einfacher ist, jedes Mal wieder eine Aktivität „neu“ zu erstellen, anstatt sie in der Liste zu suchen.
    2. Eine Suchfunktion für Aktivitäten.
    3. Die Möglichkeit, Aktivitäten/Routinen löschen zu können.

    Sollten diese Dinge umgesetzt werden, wäre die App perfekt für mich. Derzeit ist sie nur fast perfekt (aber hat dennoch meine Lebensqualität deutlich erhöht.) Diese lange Liste an sich doppelnden Aktivitäten überfordert mich, jedes Mal eine neue Aktivität zu erstellen, überfordert dagegen auch, weil ich es immer gleichbleibend (optisch) brauche. Damit muss ich immer überlegen, welche Farbe ich welcher Gruppe von Aktivitäten zugeordnet habe.

    Kostenlos ist Tiimo nicht, dafür werbefrei und datensicher (nach eigener Aussage). Hinter der App steht ein Team, das sehr schnell und freundlich auf Kommentare und Anfragen reagiert. Meine Twitter-TL kann auch ihrem Twitter-Account folgen.
    Die Kosten belaufen sich auf (entweder) monatlich $4.49 / €3.99 / £4.49 oder $23.49 / €19.99 / £17.99 im Jahr (Stand 28.04.2021). In Anbetracht dessen, was ich bekomme (eine App, die mir ein lebenswerteres Leben als vorher ermöglicht), empfinde ich den Preis als fair.

    Falls eine Person diese Rezension auf Englisch übersetzen und Tiimo zukommen lassen möchte, wäre ich sehr dankbar!

  • Eisblumen III – pflegebedürftig? Du?!

    Sag mal, so ganz unter uns: Brauchst du das wirklich oder hast du einfach beim Antrag übertrieben und willst das Geld?

    Ein Freund, im Vertrauen.

    Damals hab ich gelacht. Gelacht, weil die Frage mein Imposter (bin ich wirklich pflegebedürftig, wirklich behindert genug?) traf, gelacht, weil es gleichzeitig so absurd war, gelacht, weil ich überfordert war.

    Aber es geht mir nicht aus dem Kopf und eigentlich ist es nicht zum Lachen. Die Frage geht in die gleiche Richtung wie „Du bist behindert? Du siehst gar nicht so aus!“ und „Ach, komm schon, du bist viel zu hübsch, um pflegebedürftig zu sein!“. Ob ich hübsch bin (oder zu hübsch), kann ich nicht beurteilen. Aber pflegebedürftig bin ich wohl – hat zumindest der MDK begutachtet und mir einen Pflegegrad von drei (von fünf) zugestanden.

    Seitdem kann ich Witze darüber machen, dass der Herzmensch dafür bezahlt wird, mit mir zusammenzuleben. Witze machen die Angst, die Abhängigkeit erträglicher. Wenn er geht (und sich keine andere Person findet), komme ich ins Heim. Er kann gehen, ich nicht. Er trägt die Verantwortung für mich. Und ganz nebenbei versuchen wir, eine gleichberechtigte Beziehung, auf Augenhöhe, polyamor und mit Kommunikation zu führen.

    Eine Beziehung, in der gleichzeitig er für mich verantwortlich ist, weil ich mich nicht alleine versorgen kann. Ich denke nicht an solche Sachen wie Essen, ich hab kein Zeitgefühl, kein Zahlengefühl, kein Gefühl für Verhältnisse. (Ich kann nicht einschätzen, ob etwas „viel“ ist oder „wenig“, ob eine Zeitspanne „lang“ ist oder „kurz“, ob ich „genug“ mache – oder nicht.) Ich bekomme Panikattacken, weil ich nicht einschätzen kann, ob das Geld reicht oder die Zeit, die ich für meine Hausarbeit(en) aufwende.

    Ich kann nicht alles essen – und was ich essen kann, ändert sich von Tag zu Tag, je nachdem, wie viele Reize ich gerade ertrage. Ich kann nicht alleine rausgehen, seit der Pandemie ist meine Reizschwelle so weit gesunken, dass ich bereits beim „aus der Tür treten“ in einem Overload gefangen bin.

    Ich kann mich meistens alleine waschen – aber eben nicht immer. Demütigung? Schamgefühl? Können wir uns nicht leisten. Es muss erledigt werden, es muss gepflegt und sich gekümmert werden. Darüber, ob wir die Badtür abschließen, weil „man das halt so macht“ können wir nur müde lächeln – das Risiko, dass ich die Tür nicht öffnen kann und Hilfe brauche, ist zu groß. Er wäscht mich, cremt mich ein, zieht mich aus und wieder an.

    Der Herzmensch organisiert meinen Alltag, unterstützt von Tiimo (dazu wird es noch einen eigenen Beitrag geben), einem Bullet Journal und einem Kalender. Er übersetzt für mich, wenn ich nonverbal bin, wir kommunizieren über Bildkarten und Telegram-Sticker (es gibt ein großartiges Stickerpack für solche Situationen, das sehr einfach und intuitiv ist). Er bietet mir Essen an, trinken, Stimming-Dinge, Kopfhörer, Ruhe, Decke. Er entscheidet für mich, wenn ich es nicht kann und setzt Grenzen, wo ich es nicht kann (wir erinnern uns, ich kann Verhältnisse nicht einschätzen, also auch nicht, wie viele Ressourcen ich für den Tag noch habe).

    Gleichzeitig müssen wir die Balance finden, zwischen Pflege und Beziehung, zwischen notwendigen Entscheidungen und Paternalismus, zwischen „ich entscheide für dich, weil du es nicht kannst“ und Übergriffigkeit. Es ist jedes Mal ein Abwägen, aber gleichzeitig bleibt nicht die Zeit, bewusst darüber nachzudenken oder es zu kommunizieren – das muss vorher geschehen, in ruhigen Momenten, nicht dann, wenn es notwendig ist, Entscheidungen zu treffen. (Ich kann da meist nicht helfen, mir in einem Overload Entscheidungen zu überlassen, sorgt zielsicher für Meltdown oder Shutdown. Es ist ohnehin alles zu viel.)

    Aber… reicht das, um „pflegebedürftig“ zu sein? Ist es wirklich Einschränkung genug? Ich habe keine Vorstellung davon, wie Menschen leben, die das nicht benötigen – ich habe es auch benötigt, als es noch nicht bezahlt wurde und der Herzmensch hat es bereitwillig übernommen.

    Wie leben Menschen, die mein Leben als „seltsam“ und „krank“ und „ich könnte das nicht“ beschreiben? Wie lebt ihr? Was ist eigentlich dieses „normal“ und warum habe ich so oft das Gefühl, gar nicht so weit weg davon zu sein – und gleichzeitig, es nie erreichen zu können?

    Ich hab nur ein Leben. Dieses. Mit all seinen Möglichkeiten und noch viel mehr seinen Begrenzungen. Brauche ich diese Unterstützung „wirklich“? Ja. Ja, brauche ich. Abhängigkeit und Hilflosigkeit sind keine schönen Gefühle, ich tausche die nicht begeistert gegen 500 Euro im Monat ein.

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