Wir brauchen kein Awarenessteam. Wir sind doch schon alle aware und passen gut aufeinander auf! Awarenessarbeit ist überflüssig!
Veranstalter.
Sagen wir so, meine Sympathie mit den Veranstaltenden war zu dem Zeitpunkt ohnehin auf den Grad flüssigen Stickstoffs gesunken. Aber ich war ja nicht da, um den Veranstaltenden zu gefallen, sondern, um meinen Job zu machen.
Mein Job nennt sich "Awarenessarbeit". Awareness kommt aus dem Englischen und bedeutet soviel wie "Achtsamkeit". Im deutschen Sprachgebrauch wird damit eine Sensibilität gegenüber strukturellen Diskriminierungen und sexualisierter Gewalt gemeint. Ein Awarenessteam soll also dafür sorgen, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt und/oder Diskriminierungen einen Anlaufpunkt haben. Wir sind die, an die sich Leute wenden können.
Ein Awarenessteam ist nicht dazu da, betroffene Personen zu trösten oder mit ihnen über ihre Erfahrungen zu diskutieren. Wir wollen die Veranstaltung zu einem sichereren und diskriminierungsärmeren Raum machen. Meine Veranstaltungen sollen nicht sein wie Jeja Klein hier sehr gut kritisiert. Ich will kein Feigenblatt sein. Sondern fundamentale Veränderung.
Es gibt verschiedene Varianten, wie Awareness aussehen kann. Ich persönlich habe eine sehr spezialisierte und konkrete Vorstellung davon, wie sie auszusehen hat. In meinen Workshops biete ich aber auch immer die jeweiligen Alternativen an.
Definitionsmacht (oder DefMa) ist ein Konzept, dass Betroffenen die alleinige Macht gibt, Situationen als Übergriff zu bezeichnen. Entwickelt wurde das Konzept, um patriarchalen Strukturen (victim blaming) und bürgerlichen Gesetzestexten eine alternative, autonome und empowernde Möglichkeit entgegenzusetzen. Es ist also nicht Aufgabe des Awarenessteams, die Darstellung der betroffenen Person zu hinterfragen. Sie gehört als gegeben hingenommen
Machtgefälle. Nein, Awarenessteams sind nicht dazu da, dass sich "alle" wohlfühlen. Wir sind dafür da, dass sich "vor allem Marginalisierte" wohlfühlen können. Wir sind nicht die Schlichtungseinrichtung und wir sind nicht dafür da, auszudiskutieren, "ob das jetzt wirklich schlimm war". Unser Job ist es, Marginalisierte zu schützen und zu unterstützen. Wer sich konfliktscheu zurückzieht und Nazis die Tanzfläche überlässt, weil sie ja (noch) nicht übergriffig waren, macht seinen Job falsch. Ja, Awareness schafft ein Machtgefälle. Dieses Machtgefälle gleicht (wenn auch nicht mal annähernd) das strukturelle Machtgefälle aus, das sexualisierte Gewalt und Diskriminierungen unterstützt und schützt.
Awareness ist Arbeit. Wir sind diejenigen, die Ahnung von Substanzenkonsum haben müssen. (Weil wir vor allem auf Partys zwangsläufig diejenigen sind, die auch Menschen mit Überkonsum betreuen).
Uns mit Gewalt auskennen, strukturelle Diskriminierung erkennen und benennen. Wir stehen (teilweise über Stunden) mit Betroffenen in engem Kontakt.
Awarenessarbeit ist anstrengend. Sie ist belastend (physisch und psychisch). Es sollte definitiv nicht von Leuten gemacht werden, die zu langsam waren, als die Frage aufkam, wer "heute Abend die Awareness macht".
(In Teams, in denen ich arbeite, gibt es für neue Menschen ein Tandemprinzip, damit Leute voneinander lernen können. Außerdem ist die Faustregel "zwei Menschen pro Floor", damit ausreichend Ressourcen für Fälle zur Verfügung stehen.)
Awarenessarbeit ist kein "Trost". Wir sollen strukturelle Probleme auf eine individuelle Situation anpassen und erkennen. Danach eine Lösung für die Situation finden, welche die Diskriminierung mit einbezieht. Es geht nicht (nur) darum, einer Person über den Rücken zu streicheln und ihr zu sagen, dass alles gut wird. Eher darum, der Person zu ermöglichen, eine machtlose Situation in eine zu verändern, in der sie Selbst_Ermächtigung erfährt. Übergriffe sind in den meisten Fällen etwas, womit Betroffene aufgrund der gesellschaftlichen Struktur ohnehin dauerhaft konfrontiert werden. Awarenessarbeit ist, den Kreislauf von 1. Ich wurde in eine machtlose Situation gebracht.
2. Niemensch hilft mir.
3. Ich bleibe allein und machtlos.
zu brechen und Menschen handlungsfähig zu machen.
Eine letze Anmerkung noch zu dem Typen aus dem Eingangszitat. Wenn hier alle so aware und achtsam wären, hätte ich nicht vor Beginn der Party zwei Shoa-leugnende-Hippies verweisen müssen. (In diesem Fall auch wichtig: Eine Security, die das Awarenesskonzept unterstützt.)
"Afab nichtbinäre Personen werden immer die sein, die transmisogyn sind. Du kannst ihnen nicht trauen!"
Ein Take auf Twitter, unterschiedlich gesehen, zusammengefasst und verkürzt. Von trans Frauen geteilt und favorisiert. Schwierig, freundlich ausgedrückt, finde ich.
Aber fangen wir mit Begriffsdefinitionen an. Ich mag Definitionen, sie bringen alle Beteiligten auf das gleiche Level an Informationen. Weniger Raum für Interpretationen, mehr klare Kommunikation. Winwin - und so.
Transfeindlichkeit: Abwertung von trans Personen, weil sie trans sind. (Die Kurzfassung.)
AMAB: Assigned male at birth (bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet.)
AFAB: Assigned female at birth (bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet.)
Transmisogynie: Eine bestimmte Form der Transfeindlichkeit, die nur transfeminine Personen betrifft.
Jetzt kommen die Langfassungen und die Begründungen, warum ich den Take so schwierig finde.
Kindern wird - durch Genitalienbeschau - ein Geschlecht zugeordnet. Dieses Geschlecht wird mit Erwartungen verknüpft, die wiederum mit den Genitalien gleichgesetzt werden. Ein Penis = cis Männlichkeit. Eine Vulva = cis Weiblichkeit. Diese Zuordnung an und für sich ist bereits inhärent transfeindlich, weil Genitalien kein eigenes Geschlecht haben - sie haben nur das Geschlecht der Person, zu der sie gehören. Gleichzeitig ist es eine Gleichsetzung, mit der wir in dieser Gesellschaft aufwachsen - und die erst mühsam verlernt werden muss.
Währenddessen wird AFAB Personen beigebracht, dass von Jungs und Männern (also innerhalb der cissexistischen Gesellschaft "Menschen mit Penis") eine gewisse Gefahr ausgeht. "Selbst wenn sie dich mögen, werden sie dir wehtun." ist der Schlüsselsatz, der hängenbleibt, wenn "was sich liebt, das neckt sich" und "der X, der meint das nicht so, wenn er dir an den Haaren zieht, der kann nur seine Sympathie nicht anders ausdrücken" als Relativierung und "boys will be boys" verwendet wird. "Geh nicht alleine nach Hause!", "Geh nicht im Dunkeln nach Hause!", "Zieh das nicht an!" sind ebenfalls Glaubenssätze, mit denen AFAB Personen aufwachsen - und die auch in "züchtige Kleidung für die Schule" Verwendung finden. Selbst bei den berechtigten Kritikstürmen, die regelmäßig entstehen, wenn Schulen auf so eine Idee kommen - die grundsätzliche Annahme, das AFAB Körper sexualisierend und problematisch sind, bleibt bestehen. (Etwas, wogegen der Feminismus seit Jahren kämpft. Aus Gründen.)
Wir haben also eine Ausgangslage, die für trans Frauen in feministischen Räumen ziemlich beschissen ist. Weil die Gleichsetzung von Genitalien mit Geschlecht und die daraus folgende Erziehung zu Männern als "Gefährdern" in Form von Transmisogynie direkt auf (trans) Frauen projiziert wird. Und während feministische Strukturen gegen Patriarchat und Sexismus kämpfen, unterstützen sie häufig aufgrund dieser unreflektierten Projektion den Ausschluss von trans Frauen aus feministischen Räumen. Das beginnt bei "Frauen*" und endet beim "transsexual Empire" und dem richtig harten TERF-Shit.
Wir haben aber auch eine Ausgangslage, die AFAB nichtbinäre Personen zu "Frauen light" oder auch "cis Frauen mit ein bisschen Glitzer" erklärt. Schließlich wollen sie sich aus der patriarchalen Kategorie "Frau" lösen, aber ja "nicht so richtig" (i.S.v. binäre Transition.) Das kann dazu führen, dass AFAB nichtbinäre Personen (und teilweise trans Männer) Zugang zu feministischen Räumen haben, der AMAB Personen verwehrt bleibt. Aufgrund internalisierter Transmisogynie wird dann diese Form von Transfeindlichkeit ("Frau light") als Waffe gegen unliebsame AMAB Personen verwendet. Weil "Penis = Mann = gefährlich" oft nicht ausreichend reflektiert wird - und tief in der derzeitigen Gesellschaft steckt. Weil AFAB Personen von Kindheit an die Gleichsetzung "Penis = Männlichkeit = Gefahr" internalisiert haben, projizieren sie diese in Form von Transmisogynie auf trans Frauen und AMAB nichtbinäre Personen, was zum Ausschluss jener aus feministischen Räumen führt. Im Wissen, dass sie als "weiblich gelesen" bzw. "Frauen light" in feministischen Räumen eher Schutz zu erwarten haben, da bei anderen AFAB Menschen (wie beispielsweise cis Frauen) der gleiche Bias besteht. Muss bewusst verlernt werden, muss nicht bewusst passieren. Aber. Hat bewusst verlernt zu werden. Ja.
Aber auch AFAB Personen leiden unter Transfeindlichkeit.
AMAB Personen erleben es in folgender Ausprägung:
Schlussendlich läuft Transfeindlichkeit also grundsätzlich auf eine Angst vor der Fragilität des Cistems hinaus. Transmisogynie dagegen ist die Projektion internalisierter Erwartungen an Männlichkeit auf Frauen. (Auch gerne mit vermeintlich "männlicher Sozialisierung" begründet. Was die Komplexität von Sozialisation zwar unfassbar verkürzt, aber hübsch einfach klingt.)
Als Person, die sehr lange (fast zehn Jahre) in femicistischen Gruppen aktiv war, kann ich aber - im Gegensatz zu transfemininen Personen, die diesen Zugang nie erhielten, auch diese Sichtweise beitragen:
Die gefallene Schwester zu sein, die im Patriarchat aufsteigen will und den Feminismus verraten hat, der mehr oder weniger direkt psychiatrischer Aufenthalt nahegelegt wird und die gleichzeitig weder im Feminismus, noch auf der Straße stealth (also im korrekten Geschlecht, aber unerkannt) leben kann, von "du verstümmelst deinen Körper" ganz abgesehen - der Vergewaltigungsvorwurf kommt auch da. Spätestens, wenn 1 mit Testo anfängt, weil wieder "Testosteron = Männlichkeit = Gefahr" greift.
Ja, es gibt bestimmt AFAB Personen, welche den Vorteil des "feministische Räume schützen mich" gegen AMAB Personen verwenden. Das ist problematisch. Daraus einen Vorwurf an eine Gruppe zu imaginieren, die ebenfalls massiv unter dem Cistem leidet - und niemals die Option auf Passing (als das Geschlecht wahrgenommen werden, das 1 ist) hat - ist mindestens genauso problematisch.
Der eigene Tellerrand eignet sich nur schlecht bis gar nicht für eine strukturelle Machtanalyse.
Ich bin wütend. Ich bin außerdem aufgedreht, empowert und habe Lust auf Sekt, aber vorher will ich diesen Artikel schreiben, solange der Eindruck noch frisch ist.
Linke Männer. Nehmen wir einen Typen, nennen wir ihn Matze. Matze ist gar kein Macker, Matze ist "kritisch männlich". Matze kennt alle Buzzwords (Feminismus, Aktivismus, Anarchismus, Männlichkeit, Diskriminierung). Matze lebt schon irgendwie in einer offenen Beziehung, zumindest hat seine Freundin zugestimmt, dass er herumvögeln kann. Laut ihm kommt sie damit zwar nicht gut zurecht, aber er hat halt so große Lust dazu.
Matze ist ein Arschloch. Aber weil Matze das immer nur bei einzelnen Personen macht, wird Matze dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Matze trifft vor allem FLINT-Personen. Er übertritt keine Grenzen, er verschiebt nur Grenzen immer weiter nach hinten, bis er bekommt, was er will.
Wird er dafür kritisiert, tut er überrascht - er würde NIE eine Grenze überschreiten, das wäre ja fürchterlich!
Zurück bleibt eine verwirrte Person, die ihre eigenen Erfahrungen hinterfragt. Aber Matze ist für ihre emotionalen Bedürfnisse auch nicht zuständig, schließlich sei ja alles casual und abgesprochen.
Im besten Fall redet diese Person mit Freund_innen. Im allerbesten Fall trifft die Person Menschen, die ebenfalls Erfahrungen mit Matze haben. Und dann stellen alle fest: Es sind immer wieder die gleichen Geschichten, sie unterscheiden sich nur situativ. Hinterher steht im Raum... ...was jetzt? Und: Warum haben wir das nicht viel früher erkannt?
Weil patriarchale Strukturen auch in linken Räumen ein Problem sind. Weil Menschen wie Matze geschickt darin sind, ihr manipulatives Verhalten hinter "Szenezugehörigkeit" zu verstecken. Weil FLINT immer noch vorgeworfen wird, sie würden ihre "persönlichen Probleme" in Gruppen tragen, wenn sie darüber reden wollen. Weil das private, das sexuelle bitte innerhalb der eigenen vier Wände zu bleiben hat. Weil linke Räume immer noch eher Rufmord wittern, als Verhalten zu hinterfragen.
Weil das Patriarchat auch unsere Szene vergiftet und FLINT die Verantwortung bei sich suchen, anstatt auf ihre eigenen Grenzen zu hören und sie zu beachten.
Wir alle kennen einen solchen Matze. Aber die Szene ist klein, wir können nicht alle cis Dudes verlieren, die irgendwie uncool sind. Und wir wollen ja auch nicht, dass Menschen Angst vor einem Outcall haben müssen.
Wollen wir nicht? Ich schon. Ich will, dass Menschen den Arsch hochkriegen. Und wenn sie es aus Angst vor feministischer Intervention tun, nun, dann ist dem eben so. Befreite Gesellschaft heißt, dass wir Normen überwinden und die des Patriarchats sind eindeutig Teil davon. Ich will ohne Angst reden können. Ich will das Private politisch machen.
Und vor allem... Ich will Anerkennung für die Arbeit, die jeder Matze auslöst. Treffen organisieren. Erfahrungen abgleichen. Die eigene Betroffenheit von Übergriffen anerkennen. Die Auseinandersetzung mit eigenen Emotionen. Die Übersetzung eigener Emotionen in strukturelle Diskriminierungen. Die Abgrenzung. Das Aushalten von Schmerz, von "Warum hab ich nichts getan", von internalisiertem victim blaming.
Das Verhalten von Matze hat Auswirkungen - und die wenigsten Matze machen sich Gedanken darum. Nebenbei Tätertum - obwohl ja "eigentlich" nichts schlimmes passiert ist. Bla.
Ich möchte einen umfassenden Feminismus. Kein Feigenblatt, keine Kirsche auf der Torte. Und ja, heute bin ich nicht analytisch. Ich bin wütend über das Patriarchat und glücklich, dass Empowerment wichtig ist, richtig ist und funktioniert. Und jetzt gönne ich mir Sekt mit Glitzer und zeige den Matzes dieser Welt den Mittelfinger.
Suck my Testodick, Boi.
"Ich habe meine Privilegien reflektiert und mir ist bewusst, dass dies nicht mein Sprechort ist, dennoch möchte ich sagen..." - ich verdrehe innerlich die Augen. Ein weiteres Mal habe ich einen "kritischen Mann" kennengelernt. Kritische Männlichkeit ist mittlerweile in Teilen feministischer Kreise der neue, heiße Shit. Ermöglicht sie doch Männern (hier vornehmlich cis Männern), sich aus dem patriarchalen Gefüge herauszulösen und ein besserer, ein kritischer Mann zu werden.
So zumindest die Theorie und die Überzeugung jener, die ihre "kritische Männlichkeit" wie einen Schild vor sich tragen. Ein Beispiel ist mein Exemplar von oben. (Seine gesamte Selbstreflektion hat ihn nicht daran gehindert, mir danach zu erklären, warum ich in all meinen Äußerungen falsch läge. Scheint ja gewirkt zu haben.)
Wir merken, ich bin ein wenig ungehalten. Aber nun gut. Kommen wir zuerst zur Theorie.
Wir leben alle im Patriarchat. Das Patriarchat hat ein sehr enges Bild von Geschlecht und dessen, wie Geschlecht performt werden muss. So werden Männer als stark, durchsetzungsfähig, entschlossen, mutig, objektiv (...) beschrieben - und die Performance dieser Eigenschaften im Umkehrschluss von ihnen erwartet. Das Bild von Männlichkeit (und in Abhängigkeit dazu Weiblichkeit) ist dabei gesellschaftlich wandelbar, gleichzeitig bleibt die Aufwertung des Mannes. (Alternativ dessen, was als "männlich" definiert ist.) Einhergehend damit die Abwertung alles nicht-männlichen. (Weiblichkeit, aber auch Queerness und cis Männer, die sich nicht den Erwartungen an Männlichkeit anpassen können/wollen.)
Männlichkeit ist dabei (dank Kolonialismus) universell, wir wissen aufgrund unserer Sozialisierung intuitiv "wie ein Mann zu sein hat". Es wurde uns bereits von Geburt an wissentlich und unwissentlich beigebracht. Durch den äußeren Druck und Zwang zur Performance entsteht ein Muster, das als "toxische Männlichkeit" bekannt ist. Namentlich ist es das Konzept, dass unter den Erwartungen an Männlichkeit nicht nur diejenigen leiden, die vom Patriarchat als "das andere Geschlecht" gekennzeichnet werden, sondern auch diejenigen, die den Zwang zur Performance verspüren. Kurz: Unter dem Patriarchat leiden auch cis Männer, unter Sexismus jedoch nur nicht-cis Männer.
Das Verlernen dieser Erwartungen (die keinesfalls biologisch begründet sind) ist hierbei der Knackpunkt - und da setzt "Kritische Männlichkeit" an.
Schwerpunktmäßig werden in Vorträgen, Workshops, "kritischen Männlichkeitsrunden" und den wenigen Büchern zum Thema zunächst die Erwartungen an Männlichkeit analysiert. Dann sollen sie schlussendlich geändert werden können.
Meist richten sich die Aufrufe dieser Veranstaltungen explizit (und teilweise ausschließlich) an cis Männer. Schließlich sind sie diejenigen, um die es hauptsächlich geht. Gleichzeitig geht es in den meisten Runden, die ich erlebt habe, vor allem darum, Einzelfallsituationen und Verhaltensweisen zu analysieren. Im besten Fall hat es etwas von Gruppentherapie bzw. Selbsthilfegruppe, im schlechtesten Fall von "wir klopfen uns gegenseitig auf die Schulter und vermeiden direkte Kritik, immerhin haben wir uns alle schon mal irgendwie mies und/oder diskriminierend verhalten". Alternativ wird direkte Kritik geübt und dann in die einzelne Verhaltensweise abgetaucht und ergründet, auf welchen gesellschaftlichen Strukturen sie beruht. Am Ende ist die Gruppe so weit in den Metaebenen der strukturellen Konstruktionen verschwunden, dass die einzelne Verhaltensweise mikroskopisch klein und unbedeutend wirkt.
Die Gefahr hierbei ist, dass am Ende des Tages zwar sehr viel über strukturelle Diskriminierung, Erwartungen an Männlichkeit, Männlichkeit im Spiegel der Gesellschaft und ähnliche Dinge gesprochen wurde, aber das konkrete Verhalten nicht verändert wird.
"Ich habe meine Privilegien reflektiert" ist ein hübscher, aber unsinniger Satz. Er beruht auf der Tatsache, dass die Person jetzt möglicherweise ein erweitertes Wissen gewonnen hat, aber damit dennoch nichts tut.
Die reine Nabelschau der eigenen Privilegien ändert weder an den Privilegien, noch an den diskriminierenden Strukturen oder den Verhaltensweisen der einzelnen Person etwas. Im Gegenteil. Gleichzeitig wird diese Reflektion als Argumentation verwendet, um die eigene Machtposition zu sichern, ohne sie als Machtposition anerkennen zu müssen. Die Arbeit (namentlich die Erkenntnis der eigenen Privilegien) haben sie schließlich bereits geleistet.
Die Erkenntnis, Teil einer diskriminierenden Struktur zu sein (gleichzeitig als Profiteur und als Betroffener) ist schmerzhaft, der Widerspruch schwierig auszuhalten. Gleichzeitig betrifft diese Struktur sowohl Vergangenheit, als auch Gegenwart. Sie ist schwierig bis unmöglich von Charakter und Sozialisierung der einzelnen Person zu trennen. Dennoch ist diese Trennung notwendig, um aus der Analyse konkrete Verhaltensweisen ableiten zu können.
Beispielsweise hilft es nicht, zu wissen, dass cis Männer durchschnittlich einen höheren Redeanteil haben als nicht-cis Männer. Die Frage ist auch, woher dieser Redeanteil kommt und etwas dagegen tun zu können. Ähnlich verhält es sich mit der Erkenntnis, dass cis Männern selten bis nie lernten, auf konstruktive Weise über Emotionen zu reden. Die Sozialisierung als cis Mann sieht diese Verhaltensweise schlicht nicht vor. (Die Sozialisierung von nicht-cis Männern dagegen, sich vor allem um die emotionalen Belange ihrer Mitmenschen zu kümmern, tut ein übriges.) Bleibt die Frage: Wer bringt diese Verhaltensweise bei? Wie wird diese Verhaltensweise produktiv?
Wie trennen wir die emotionalen Bedürfnisse gegenüber nicht-cis Männern von dem Anspruch, dass diese von der emotionalen Arbeit ent- und nicht belastet werden? Wo beginnen unsere Bedürfnisse, wo endet unsere Sozialisierung? Wie kann das getrennt werden, ohne, dass sich Personen in der Analyse und Nabelschau völlig verzetteln?
Diese Fragen werden in den meisten Kontexten, die sich mit "Kritischer Männlichkeit" beschäftigen, im besten Fall angerissen, nicht aber beantwortet. Hier spricht eine Gruppe von Menschen, die ein pro:feministisches Café organisiert hatten, von ihren Erfahrungen mit kritischer Männlichkeit. Und spart dabei nicht mit Selbstkritik.
Schwerwiegender ist die Auswirkung von "Kritischer Männlichkeit", wenn selbige als Waffe wahrgenommen wird, um die eigene Machtposition zu sichern. Die Erkenntnisse verwenden diese Männer, sich besonders "woke" und "reflektiert" darzustellen. Nur, um dann die eigenen Bedürfnisse (emotionaler und politischer Literatur) in den Vordergrund zu rücken. Hier ist ein sehr guter Artikel, der sich mit linken Männlichkeitsbildern auseinandersetzt und diese kritisch beleuchtet.
Gleichzeitig haben diese Männer das Vokabular erlernt, um ihre Bedürfnisse nicht "mackerhaft", sondern "bedürfnisorientiert" zu kommunizieren. Am Ende jedoch diejenigen zu sein, welche eine Debatte dominieren. Kritikabwehr mittels emotionaler Verletzlichkeit und die Verantwortung für einen liebevollen, freundlichen Umgang denjenigen gegeben, welche kritisierten. Das Eingehen auf Kritik elegant vermieden. Schließlich geht es dann nicht mehr um inhaltliche Fragen, sondern um Emotionen - und die BeKümmerung selbiger. Es wird Sprachkritik noch und nöcher geübt - aber die Strukturen bleiben die gleichen.
Statt Nabelschau und Sprachkritik - für eine effektive Änderung der Verhältnisse!
Frisch diagnostiziert sitze ich bei meiner Therapeutin. Sie hat keine Expertise bezüglich Autismus, sagt sie selbst. Sie weiß, dass es das gibt und wie die Diagnoseverfahren grob laufen - mehr nicht.
Zuerst erklärt sie mir, dass sie bezweifelt, dass ich Autismus habe. Bei ihr wirke ich erst so, wie es im Gutachten steht, seitdem es im Gutachten steht.
Ich denke mir: "Ja, weil ich jetzt die medizinische Erlaubnis habe, nicht immer angepasst sein zu müssen. Weil es jetzt okay ist, das ich krasse Überforderungen auch einfach nicht tue. Wie beispielsweise, Ihnen in die Augen sehen zu müssen." Aber als ich das sage, wirkt sie nicht überzeugt. Aber sie hat mir auch nicht geglaubt, dass ich trans bin oder eine HRT haben darf. Das hat ihr "Bauchschmerzen" bereitet.
Ich sitze verkrampft da. Ich sitze eigentlich immer im Gespräch verkrampft da. Ab und zu sagt sie mir, ich solle aufrecht sitzen. Ich richte mich dann auf. Stimmen ist auch verboten, weil Stimming würde bedeuten, dass ich das "innere Kind" alleine lasse. Ich versuche also, unauffällig zu stimmen, aber ich darf mich dabei nicht erwischen lassen. Zum Glück erkennt sie viele Stimmingmethoden nicht. (Nicht behandeltes Stimming bei Autismus kann zu chronischen Schmerzen führen, weil beispielsweise auf Zähneknirschen oder Muskelverkrampfungen ausgewichen wird.)
Es ist Schematherapie, ich muss mich also in die verschiedenen Modi begeben. Es gibt Elternmodi (die sind abwertend oder verlangen zu viel in Bezug auf (emotionale) Leistung), Bewältigungsmodi (Vermeidung, Unterwerfung, Überkompensation) und Kindmodi (wütendes, glückliches, verletzliches, impulsives Kind). Und ein sogenanntes "gesundes Erwachsenes", das einerseits alles koordinieren soll, andererseits sich um den Modus des verletzlichen Kindes kümmern soll.
"In die Modi begeben" heißt Rollenspiele. Ich muss dieser Modus sein. Gleichzeitig darf ich nicht von den Modi als unterschiedliche, sich austauschende Persönlichkeiten denken, ich darf nicht von "wir" sprechen. Warum? Keine Ahnung. Weil die Therapeutin sagt, dass das falsch ist.
Wenn ich Dinge nicht verstehe (und ich verstehe viele Dinge nicht), darf ich nicht nachfragen, weil kognitives Verständnis Teil der Vermeidung ist. Sagt meine Therapeutin.
(Es ist auch die Art, wie Autismus sich äußert, aber das darf ich nicht sagen.)
Sie versteht mich häufig nicht, wenn ich versuche, mit ihr zu kommunizieren. Da sind Worte und ich weiß, dass ich mit diesen Worten etwas wichtiges aussagen möchte, aber es kommt nicht an. Und wenn ich darüber verzweifele, dass ich mich nicht verständlich machen kann, dann sagt sie, es wäre eine wütender Modus. Oder Vermeidung.
Die Depression könnte eine organische Krankheit sein, die organische Auswirkungen hat. Oder eine psychische Krankheit, die organische Auswirkungen hat. Oder eine "Strategie eines Bewältigungsmodus", die organische Auswirkungen hat. Die organischen Auswirkungen sind da, die merke ich. Aber sie hat gesagt, dass die Bewältigungsmodi dazu da sind, das "innere Kind" zu schützen. Die Depression (zumindest die organischen Auswirkungen wie Müdigkeit, Überempfindlichkeit, Geräuschempfindlichkeit, Schmerzen) sind aber doch kein Schutz? Das passt nicht. Das fühlt sich bis auf die Knochen verschoben und falsch an. Oder sind es keine depressiven Symptome? Ist es Autismus? Ich bin verwirrt.
Manchmal versuche ich, eine eindeutige Antwort zu bekommen. Ich bettele um eine Antwort. Ich verstehe das nicht. Sie sagt, ich solle nicht wütend sein. Das wäre Vermeidung. Ich sitze doch im Modus des gesunden Erwachsenen, der wäre aber zu wenig da. Ich solle den gesunden Erwachsenen verkörpern. Das würde ich aber nicht tun.
Ich bin aber nicht wütend, ich versuche, ihr wichtige Dinge zu erklären. Aber "Dinge erklären" ist Vermeidung, sagt sie. Ich weiß nicht, wie ich etwas richtig machen soll, wenn ich es nicht verstehe. Aber ich bekomme keine Bedienungsanleitung oder Handlungsanweisungen. Ich soll sie mir selbst erarbeiten, aber ich weiß nicht, wie.
Ich kann doch nur Dinge aufschreiben, die ich bereits erfahren oder erkannt habe.
Aber sie sagt, ich muss das selbst entwickeln. Beispielsweise, was eine "gesunde Beziehung" ist. Aber ich kann das nicht, weil jedes Beispiel einer gesunden Beziehung auch Zeichen einer toxischen Beziehung sein könnte und es da keine klare Trennlinie gibt. Wie soll ich Beispiele sammeln, wenn es keine klare Trennlinie gibt?
Ich sage ihr das. Sie sagt, sie wird sich nicht auf die Strategie der Vermeidung einlassen. Ich fange an zu wippen. Sie sagt, ich muss damit aufhören, ich würde das "innere Kind" alleine lassen. Redet immer weiter. Wird immer lauter in meinen Ohren. Ich wippe stärker. Sie sagt, ich soll aufstehen und den Stuhl wechseln. Ich bettele, dass sie den Mund hält, ich kann nicht mehr. Ja, ich weiß, dass ich nicht wippen darf, aber ich kann nicht aufhören. Ich falle auseinander. Ich brauche das Wippen gerade. Sie hält den Mund. Ich kann ein bisschen atmen. Setze mich auf anderen Stuhl. Benutze mein StimToy zum stimmen.
Sie erkennt das StimToy nicht als StimToy. Ich habe aufgehört zu wippen. Habe mich brav an ihre Aufgaben gehalten. Sie gibt mir eine Aufgabe. Ich merke, dass ich wegdrifte. Kann nicht mehr sprechen. Ich nehme mein Handy. Nehme meine Tasche. Ich gehe. Bin ein kleiner Ball, innen eingerollt in mich. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich weiß, dass sich meine Menschen darum kümmern werden, dass ich nach Hause komme.
Shutdown.
WIR WOLLEN KEIN STÜCK VOM KUCHEN, WIR WOLLEN DIE GANZE BÄCKEREI!
Einer der beliebtesten Demosprüche vor allem feministischer Demonstrationen. Er signalisiert, dass die Betroffenen durchaus sehen, dass ihnen zwar ein bisschen gleichberechtigter entgegengekommen werden soll, aber sie eben nur ein Stückchen abhaben sollen, obwohl es grundsätzlich um eine gleichberechtigte Teilhabe geht, um ein selbstbestimmtes Leben, ohne Kapitalismus, ohne Patriarchat. Eben um die ganze Bäckerei.
Ich war Teil dieser Demonstrationen. Ich war acht Jahre Feministin, bevor ich erkannte, dass ich Feminist_in bin. Das ich zwar sehr lange für eine Frau gehalten wurde, aber keine Frau bin - sondern nichtbinär, genderfluid. Ich hab meinen offiziellen Namen, meinen Personenstand und meine Anrede ändern lassen und eine Hormonersatztherapie begonnen.
Ich wusste, es würde Änderungen bedeuten. Ich wusste, es würde Menschen irritieren und bereits der Weg hin zu den rechtlichen Änderungen gab mir einen Vorgeschmack dessen, was meine bloße Existenz mit der Gesellschaft machte - sie irritieren, verunsichern und viel zu oft war die Reaktion mehr oder minder gut versteckte Aggression.
Was ich nicht erwartet hatte, war, wie viel Einfluss es auf meine feministische Arbeit haben würde. Ich war plötzlich nicht mehr gleichberechtigt in feministischen Kämpfen, sondern "nur noch" trans. Mir wurde - und wird - das Recht abgesprochen, Teil vom 08. März sein zu dürfen, da ich ja nicht die gleichen Diskriminierungen erfahren würde wie Frauen.
Teilweise wurde ich aus Gruppen ausgeschlossen, da die Quotierung nur für Frauen galt und meine Anwesenheit eine cis-männliche-Dominanz bedeutet hätte.
Mein Körper wird vereinnahmt, wenn es um (ungewollte) Schwangerschaften geht, während meine intellektuellen Beiträge ausgeklammert werden, da diese ja nur trans Personen betreffen würden und für den feministischen Diskurs keinen Mehrwert hätten.
Auf der nächsten "Marx ist Muss" wird es Veranstaltungen geben, die sich zum Schwerpunkt gemacht haben, trans Kämpfe und Frauenkämpfe zusammenführen zu wollen - ohne daran zu denken, dass trans Frauen eigentlich schon zu den Frauenkämpfen gehören sollten und trans Männer mehr Erfahrungen mit den Themen der Frauenkämpfe haben, als allen eigentlich lieb ist. Es wird Transfeindlichkeit reproduziert, um sich im Anschluss solidarisch mit trans Personen (die Originalformulierung ist leider transfeindlich) zeigen zu können. Ein Stück vom Kuchen? Nein, ausschließlich Krümel.
Ich weiß, wie sich feministische Kämpfe anfühlen, die mich einschließen. Ich weiß, wie sich feministische Solidarität, Solidarität unter Frauen anfühlt. Habe ich die mir erschlichen, sie heimlich ausgesaugt, wie mir so oft unterstellt wird, weil ich zu dem Zeitpunkt noch keine Worte hatte für mein Empfinden? Ist es nur gerecht, dass ich ausgeschlossen werde, schließlich habe ich durch meine Existenz keine Solidarität, zumindest keine selbstverständliche, verdient?
Vor drei Jahren war der 08. März noch mein Tag, dieses Jahr wurde mir gesagt, er wäre nur für Frauen, ich solle mich verziehen, schweigen, solidarisch mit Frauen sein.
Während mir keine Solidarität entgegengebracht wird, immerhin hätte ich mich ja selbst dazu entschieden, mich zu outen und müsste jetzt mit den Konsequenzen leben. Das klingt, als wäre Feminismus, dieser Femicismus, eine Gemeinschaft, aus der ich freiwillig ausgetreten wäre und nun die gerechte Strafe dafür erhielte, keine Frau zu sein.
Ich wäre ja Teil der Transkämpfe, so als trans Person. Und natürlich müsste der Feminismus auch solidarisch mit den Kämpfen von trans Personen sein, so sei das ja nicht. Aber gleichberechtigt seien diese Kämpfe nicht. Trans Männer und nichtbinäre Personen haben am FrauenKampfTag solidarisch zu sein, um dann am NonbinaryDay alleine zu stehen.
Oder könnt ihr mir sagen, wann NonbinaryDay ist? Könnt ihr euch auch an die großartige Solidarität, das Pushen des Tages und den eigenen Hashtag auf Twitter mit süßem Bildchen dahinter erinnern? Nein? Ich auch nicht, es hat nämlich nie stattgefunden.
Sozialisation ist komplizierter, als cis Geschlechterdenken es uns glauben macht. Sie ist nicht nur von außen oder von innen heraus zu betrachten. Trans Frauen zu unterstellen, sie wären ausschließlich männlich sozialisiert worden, ist genauso falsch, wie trans Männern zu signalisieren, sie hätten absolut keine Ahnung, wie es sei, als Frau gelesen zu werden.
Ich hatte den Kuchen, nun bekomme ich Krümel zugeworfen und habe dafür dankbar zu sein.
ICH WILL KEIN STÜCK VOM KUCHEN, ICH WILL NICHT EURE KRÜMEL, ICH WILL DIE GANZE BÄCKEREI!
Dankeschön.
(Internationaler Tag der Nichtbinarität ist übrigens am 14. Juli, falls ihr Lust habt, dieses Jahr mal solidarisch zu sein.)
Unsichtbar.
Das Leben findet in den eigenen vier Wänden statt, der Biedermeier des letzten Jahrhunderts erlebt eine Renaissance dieser Tage. Risikogruppe bleibt zu Hause. Mehr oder weniger freiwillig.
Doch nicht die Müdigkeit der bürgerlichen Politik hat die Menschen in die Häuslichkeit getrieben, nicht der Rückzug ins Private hat den Starter für Sauerteigkulturen und DIY-Nähprojekte gelegt.
Ein Virus geht um in Europa, das Virus SARS-Covid19, neuartig, unerforscht, höchst ansteckend und wenn auch nicht im gleichen Maße tödlich, so doch mit Spätfolgen zu rechnend.
Wer Glück, Privilegien und eine sichere Einkommensquelle hat, der lebt gut in dieser Zeit, arbeitend von zu Hause aus, das Brot kommt frisch und heiß aus dem heimischen Ofen und auf dem Balkon kann man es sich endlich gemütlich machen, während die Kolleg_innen neiderfüllt auf die eigene Gemütlichkeit schielen, während fleißig Meetings über Videoplattformen stattfinden.
Ich atme ein.
Schwere legt sich auf mich, Müdigkeit umfängt mich. Ich fühle mich, als würde jeder Lebenswille, alle Energie aus mir heraus laufen. Knochenmüde, so nenne ich diesen Zustand. Müdigkeit, die in den Knochen sitzt, aus den Knochen kommt.
Nichts hilft, es bleibt nur ausharren, ob heute nochmal Energie zurückkommt oder mein Tag dann schon vorbei ist. Wann? Dann. Das kann um drei sein, um fünf oder morgens um elf.
Ich habe gelernt, damit umzugehen. Habe gelernt, von einem nicht beeinflussbaren, unbekannten Energiezustand auszugehen, der zu den ärgerlichsten Zeiten verbraucht sein kann.
Ich war seit Wochen nur noch draußen, um medizinisch notwendige Termine wahrzunehmen. Habe seit Wochen keine Menschen mehr gesehen, die nicht hier wohnen.
Ich sehe, wie die Lockerungen kommen. Sehe, wie immer mehr Menschen sich treffen wollen, ein Sozialleben.
Ich bin Risikogruppe.
Es passiert, was mir Angst machte: Das Leben geht weiter. Ich hab ein Fenster zur Straße, ein Fenster zum Hof, einen Zugang zum Leben, durch eine Glasscheibe hindurch. Plexiglasscheiben zum Schutz der Risikogruppe.
Ich bleibe hier sitzen, wie eingefroren. Bis heute war das Leben aller Menschen ähnlich eingefroren, nun tauen sie auf.
Werden sie sich erinnern, dass ich da bin? Eingefroren, die Eisblumen am Fenster bewundernd.
Wenn das hier vorbei ist – für mich, nicht nur für sie, für die Gesunden, die JungenUndGesunden, die, die auftauen sich leisten können – werden dann noch Menschen übrig bleiben, die sich daran erinnern, dass ich mal Teil ihres Lebens war?
Oder wird die Welt sich weitergedreht haben, zu einem „Ach ja, die Person habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, was es wohl macht?“, zu einem Bild im Gedächtnis einer Person, zu Sepia verblasst, weil keine Technicolor die Erinnerungen auffrischte. Wird das Internet, die Verschriftlichung reichen, um Kontakte aufrecht zu erhalten, um dabei sein zu können?
Wenn die Konzerte wieder stattfinden können, Menschen auf Festivals fahren, sich gemeinsam treffen und Freund_innenschaft in Cafés und Kneipen zelebrieren, werde ich dann zu Hause sitzen, die Eisblumen am Fenster bewundern und innerlich schreien, weil das Leben weiterläuft und ich nicht auftauen darf?
Solidarität ist eine Waffe. Sie schneidet zweischneidig.
Solidarität muss praktisch werden!
Hoch! Die! Inter/Antinationale! Solidarität!
Solidarität ist eine Waffe und wir wissen ganz genau, wie man sie gebraucht!
Menschen helfen einander, nicht, weil sie es müssen oder aus kapitalistischen Gründen, sondern, weil sie es wollen.
Eine Person braucht Hilfe, die andere Person gibt Hilfe. Grundprinzip der meisten linken Strömungen, ob Kommunismus oder Anarchismus.
Strukturell gesehen eine große Gefahr für den Kapitalismus. Denn funktionierende soziale Netze, die ohne Wachstums- und/oder Gewinnabsicht auskommen, machen dieses Wirtschaftssystem grundsätzlich überflüssig. Globale Solidarität ist das Gegenteil von Ausbeutung und neoliberalen Zwängen.
Eine großartige Theorie, die ich sehr schätze. Ich spreche oft in Vorträgen über Solidarität, solidarisches Miteinander und gemeinsames Schaffen des "Guten Leben für Alle". Aber dann fällt mir wieder auf, dass vor allem die Perspektive jener in den Fokus rückt, die "solidarisch geben".
In Zeiten einer weltweiten Pandemie sind das jene, die für andere Menschen einkaufen gehen. Die Risikogruppen unterstützen. Menschen von A nach B fahren, damit diese nicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Gefahr ausgesetzt sind, sich anzustecken.
Es sind Menschen, die ihr eigenes Sozialleben zurückschrauben, um andere Menschen zu unterstützen/nicht zu gefährden.
Es wird als selbstverständlich dargestellt diese Solidarität zu bekommen - und das sollte es auch sein.
Dennoch sind wir alle in einer Gesellschaft sozialisiert worden, die "Schwäche" ablehnt und den neoliberalen Anspruch des "eigenen Glückes Schmied" als einzige Möglichkeit vertritt. Solidarität ist verpönt und das spüren vor allem Menschen, die auf Solidarität angewiesen sind.
Es ist solidarisch, die Musik leiser zu drehen, wenn die Nachbarn aufgrund der Vibration nicht schlafen können.
Aber die Person, die nicht schlafen kann, fühlt sich möglicherweise als Belastung. Weil sie nie gelernt hat, dass ihre Bedürfnisse valide sind.
Es ist solidarisch, die Risikogruppen nicht noch größerem Risiko auszusetzen.
Aber die Person mit Asthma, die gerade Demos von zu Hause aus verfolgt, fühlt sich womöglich "nicht ausreichend" oder "nicht links genug".
Es ist solidarisch, gemeinsam zu überlegen, wie wir Armut in unserer Peer Group kommunizieren und bekämpfen können.
Aber die Person, welche die meisten Gaben und Unterstützungen erhält, hat vielleicht das Gefühl "nicht genug geben zu können" und ihr Umfeld "auszunutzen".
Solidarität und mildtätige Gaben christlicher Konfessionen hängen geschichtlich eng zusammen. Sowohl die "Armenspeisung" als auch die heutigen Tafeln sind ein Zeichen dafür. Staatliches Versagen und kapitalistische Ausbeutung werden durch die Schaffung eines mildtätigen Netzes ausgeglichen, woraufhin der Staat auf eben jenes Netz verweist. Anstatt selbst in die Pflicht genommen werden zu müssen (oder gar abgeschafft).
Solidarität wirkt der Verelendungstheorie entgegen, schafft Netze und hilft Personen. Dennoch bleibt die Frage im Raum, wie wir Menschen die Sicherheit geben können, nichts zurückgeben zu müssen?
Arbeit gleichberechtigt zu bewerten, anstatt von allen das gleiche zu fordern?
Jedes nach dessen Bedürfnissen, jedes nach dessen Fähigkeiten und Solidarität muss praktisch werden. Wie können wir dies in den Köpfen der eigenen Szene verankern? Was können wir einem linken Imposter Syndrom und dem kapitalistischen Selbstanspruch entgegen setzen?
Schreibt mir auf Twitter, wenn ihr praktische Ideen habt, ich habe nur Fragen.