Schlagwort: Awareness

  • Leitfaden – Komplimente und Übergriffigkeit

    Weil dieser Leitfaden leider notwendig ist: Alle weiblich gelesenen Personen kennen es wahrscheinlich: Wir treiben uns unschuldig und ohne etwas zu ahnen in social media herum, in Chatgruppen, auf Discord.

    Die Situation

    Plötzlich ploppt eine private Nachricht auf:

    Hey Süße!
    Wir kennen uns aus X und dein Profilbild ist echt niedlich. Wie geht es dir so, was machst du heute?

    Irgendein Dude.

    Klingt ja ganz, nett, erstmal. Immerhin findet er mein Profilbild „niedlich“ und will mich offensichtlich näher kennenlernen. Gleichzeitig ist dieses Verhalten zutiefst übergriffig. Deshalb gibts diesen Leitfaden.

    1. Solange es keine Dating-App ist (die wir hier mal ausschließen), ist meine Anwesenheit im digitalen Raum keine Einladung zum Flirten. So wenig wie ich es angenehm finde, wenn ich offline von Wildfremden angesprochen werde, so wenig ist es online angemessen.
    2. Daraus folgt, dass ich nie mein Einverständnis gegeben habe, offen für Privatnachrichten oder Geflirte zu sein. Anders als offline, kann ich auch nicht durch Blickkontakt oder Gestik/Mimik meinen Konsens zu derartigem Verhalten geben.
    3. Die Erwartungshaltung, weiblich gelesene Personen müssten jeden (positiven) Kommentar zu ihrem Äußeren oder ihrem Verhalten begrüßen („Das war doch nur ein Kompliment!“), ist in ihrem Kern sexistisch, weil weiblich gelesene Personen zu Objekten (meist männlicher) Aufmerksamkeit degradiert werden.
    4. Kosenamen zu verteilen, ohne sich vorher einen Konsens eingeholt zu haben, ist in den meisten Communities übergriffig, weil verpönt. Solange dies nicht Konsens in der Community ist (z.B. weil auch im gemeinsamen Gruppenchat sich alle mit unterschiedlichen Kosenamen anreden), wird ein Machtungleichgewicht geschaffen: Die Person, die verniedlichende Bezeichnungen nutzt und die Person, die sie hinnehmen muss.

    Ein Leitfaden zur Lösung

    Wenn du nun Admin einer dieser Gruppen bist und das Menschen passiert – was kannst du tun? Hier ein Leitfaden:

    1. Nimm die Person ernst. Nur, weil du möglicherweise nicht nachvollziehen kannst, dass sich dieses Verhalten übergriffig anfühlt, heißt das nicht, dass es nicht übergriffig ist.
      1. Du definierst deine Grenzen und die Grenzen innerhalb der Gruppe, nicht aber die Grenzen einer anderen Person. Kommentare wie „Nimm das nicht so ernst, das war nur ein Kompliment!“ untergraben die Wahrnehmung der betroffenen Person.
      2. Sei dir des Machtungleichgewichts bewusst – du kannst dafür sorgen, dass sich andere Personen in der Gruppe, die du moderierst, wohl oder unwohl fühlen (und möglicherweise gehen).
    2. Frag die betroffene Person, was sie sich wünscht.
      1. Reflektiere, ob es eine Person im Admin_a-Team gibt, die (möglicherweise) die Erfahrungen der betroffenen Person teilt.
      2. Wenn es keine weiteren Admin_as gibt, dann frage dich, warum das der Fall ist.
      3. Würde es sich lohnen, ein Admin_a-Team aufzustellen, das mit Diskriminierungen vertraut ist?
    3. Triff eine Entscheidung bezüglich des Verhaltens in deiner Gruppe.
      1. Teile diese Entscheidung öffentlich mit. (Wenn es für dich in Ordnung ist, dass Menschen andere Personen übergriffig anschreiben dürfen, mache dies deutlich. Das sorgt für Klarheit bezüglich der eigenen Erwartungen an eine Gruppe.)

    Schlussbemerkung

    Im Übrigen muss es nicht einmal eine Nachricht sein, die so offensichtlich und flirty daherkommt. Grundsätzlich gilt, auch im online Raum: Ich habe ausschließlich Konsens gegeben, dass ich mich im öffentlichen Bereich aufhalte. Ich möchte nicht, wenn ich an der Bushaltestelle stehe, in ein Wartehäuschen gezerrt und mit „Hallo!“ angequatscht werden und ich lade auch nicht andere Menschen an der Bushaltestelle zu einem privaten Treffen zu mir nach Hause ein – wenn ich das tue (also, wenn öffentlich gefragt wird und ich meinen Konsens gebe), ist das eine andere Geschichte.

  • Gute Kommunikation mit neurotypischen Menschen

    Sorry! Ich wollte dich nicht verunsichern!
    Sorry, dass ich das nicht berücksichtigt habe.
    Danke für die gute Kommunikation!

    gemochter Politgruppenmensch

    Es ging darum, dass ich – gerade bei neuen Menschen – nicht unbedingt auseinanderhalten kann, ob Menschen im Spaß pöbeln oder ernsthaft verletzt sind. (In diesem Fall war die Begründung einfach. Die Person pöbelt gerne und ich lieferte ausnahmsweise eine Steilvorlage zum Pöbeln, die natürlich genutzt wurde.) Gute Kommunikation bedeutet, dass wir offen darüber reden können.

    Vorauseilender Gehorsam

    Ich jedoch wusste das nicht – und habe mich für meine Aussage entschuldigt, weil ich nicht einordnen konnte, ob ich eine Grenze überschritten hatte – oder nicht. Bevor ich also eine unangenehme Situation von allen Seiten überdenke, entschuldige ich mich lieber für den Fall der Fälle – und gebe die Möglichkeit, die Situation zu korrigieren. Ich habe gelernt, wenn ich das nicht tue, eskalieren Situationen. Es ist sehr anstrengend, immer darauf zu achten, „alles richtig“ zu machen. Ich habe oft Angst in sozialen Situationen.

    Ich musste auch erst lernen, dass diese Möglichkeit besteht. Seitdem ist sie ein guter Lackmus-Test, inwieweit Personen bereit sind, meine Form der Kommunikation zu akzeptieren. (Da ich jetzt weiß, dass die Person gerne pöbelt, kann ich entsprechendes Verhalten auch einordnen und reagieren – es halt also nur Klarheit gebracht. Sehr positiv.)

    Gleichzeitig entschuldigt sich die Person im Anschluss dafür, mich (und meine Form der Kommunikation) nicht bedacht zu haben. Das finde ich lieb, aber gleichzeitig ist das ein Anspruch, den ich weder an mich, noch an andere Menschen stelle. So wenig, wie ich die Bedürfnisse von neurotypischen Menschen automatisch in meine Kommunikation einbeziehen kann, so wenig erwarte ich von neurotypischen Menschen, dass sie mich in ihre einbeziehen.

    Betriebssysteme

    Wir laufen einfach auf komplett unterschiedlichen Betriebssystemen. Davon ist keins schlechter oder besser, aber sie funktionieren fundamental unterschiedlich. Das haben sogar Studien belegt. Wenn es eine Gruppe aus autistischen und eine Gruppe aus neurotypischen Menschen gibt, die „Stille Post“ spielen, ist das Ergebnis ungefähr gleich gut. Mischt man beide Gruppen, entsteht Wortsalat.

    Ich kann nicht nachvollziehen, wie Menschen Sarkasmus, Ironie, Witz oder auch versteckte Ernsthaftigkeit in Worten kommunizieren können, die für mich alle gleich klingen, während neurotypische Menschen nicht nachvollziehen können, dass für mich alles gleich klingt. Ein Gespür dafür zu haben, was „angemessen ist“, kenne ich nicht.

    Gleichzeitig kann ich verstehen, dass es „eben so ist“. Während die ableistische Gesellschaft, in der neurotypische Kommunikation die Norm ist, erwartet, dass ich „es eben kann“. Oder wenigstens so tue, als könnte ich es. Das Ergebnis: Die verletzten Gefühle neurotypischer Menschen und ein verwirrrtes, überfordertes Ich.

    Es ist also sogar eher ein Zeichen von guter, funktionierender Kommunikation, wenn ich euch „seltsam“ vorkomme – oder gar nachfrage. Ich vertraue dem Gruppengefüge ausreichend, um nicht maskieren zu müssen. Kann „ich“ sein und gleichzeitig sicher genug, dafür nicht bestraft oder ausgegrenzt zu werden. Ich erlebe aber immer wieder, dass „gute Kommunikation“ sehr viel Arbeit ist. Bestrafung von Menschen, die nicht ausreichend maskieren, ist einfacher.

    Ich kann Teil der Gruppe, der Kommunikation sein, ohne mich auf meine übliche Rolle – beispielsweise als professionell Awarenessperson – zu beschränken. Die einzig sichere Kommunikation habe ich, wenn ich eine feste Rolle übernehme. Das macht sehr einsam. Soziale Kontakte sind damit kaum möglich.

    Meine Rolle, meine Bühne

    Awarenessarbeit fällt mir leicht, weil es mehrere Punkte vereint, die mir helfen:

    1. Ich bin kein Teil des Geschehens. Von mir wird keine zwischenmenschliche Kommunikation erwartet, sondern eine beobachtende Position.
    2. Wenn ich benötigt werde, wenden sich Menschen an mich, um ein individuelles Problem zu lösen, das Teil einer strukturellen Problematik (Diskriminierung) ist.
    3. Menschen erwarten keinen Trost vom Awarenessteam, sondern Unterstützung und Hilfe. Somit werden auch Emotionen auf einer informativen Ebene übermittelt, statt zu erwarten, dass bekannt ist, was die betroffene Person braucht. (Einer der Gründe, warum ich gut darin bin: Ich nehme sehr viele Ebenen nicht wahr und kann deshalb die erhaltenen Informationen mit strukturellen Diskriminierungen vergleichen und entsprechend einordnen sowie Lösungen anbieten.)

    Wenn ich mich aus dieser begleitenden, beobachtenden Position herausbewege, ist das ein Zeichen dafür, dass ich mich in Gruppen wohlfühle. Gleichzeitig erhöht es das Risiko, dass ich Verhaltensweisen zeige, die neurotypische Menschen als „unpassend“ oder „seltsam“ wahrnehmen und ich im Anschluss nicht nur die Gruppe, sondern auch die offizielle Position als Awarenessperson verliere.

    Gute Kommunikation

    Deshalb bin ich durchaus vorsichtig, in welchen Gruppen ich mich sicher genug fühle, so aus mir herauszugehen, dass ich „die Maske absetze“, also nicht dauerhaft darauf achte, möglichst neurotypisch zu agieren.

    Ich brauche die Möglichkeit, meine Unsicherheit zu zeigen. Nachzufragen, ob ich es richtig verstanden habe. Dann muss ich gar nicht „mitgedacht“ werden. Ein gleichberechtiger Platz mit meiner Andersartigkeit umzugehen, reicht mir. Vor allem, weil ich mit Entschuldigungen, die ich als unlogisch (weil beispielsweise unmöglich) wahrnehme, ebenfalls nicht umgehen kann.

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