Schlagwort: Euthanasie

  • Eugenik.

    Ihr seid zu Hause. An einem Ort, den ihr seit eurer Kindheit kennt. Den einzigen Ort, den ihr "Zuhause" nennen könnt. Ihr könnt euch nicht äußern. Ihr könnt nicht mitteilen, ob es euch gut geht oder nicht. 
    Ihr seid abhängig von den Menschen, die um euch herum sind. Und eines Abends kommt eine Person, eine Person, die ihr kennt, die sich um euch kümmert - und tötet euch. 

    Klingt wie der Beginn eines Horrorfilms? Mag sein. Ist aber leider Realität. Es ist die Realität jener Menschen, die in Potsdam-Babelsberg getötet wurden. Es ist die Realität jener Person, die in der gleichen Einrichtung schwer verletzt worden ist. Es ist das Risiko jeder Person, die in einer stationären Einrichtung lebt. Es ist eine banale Realität der Bösartigkeit. Das Böse ist schlussendlich… banal.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Und die Berichterstattung enthält einen Werbeblock für die betreffende Einrichtung.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Und am Ende wird über die Überforderung des_r Täter_in geredet.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Aber es waren ja nur Behinderte.

    Da läuft eine Person herum und tötet Menschen….
    Aber es war ja nur ne Psychose, die_r Täter_in war psychisch krank!

    Im Oberlinhaus wurden vier Menschen getötet, eine Person wurde schwer verletzt. In Bad Oeynhausen läuft die Anklage gegen eine Person, die in 145 Fällen Freiheitsberaubung gegen Behinderte begangen haben soll. In Japan tötete ein Mann 19 Behinderte, erhält die Todesstrafe – und die Medien nehmen ihn in Schutz. Gewalt in Werkstätten für Menschen mit Behinderung ist soweit Alltag, als das es eine Broschüre in Leichter Sprache gibt, um Betroffene aufzuklären. Die Gewalt ist so weit Alltag, dass die Begründung „sind häufiger Gewalt ausgesetzt“ nicht einmal mehr einem Beleg bedarf und sich die Studie speziell mit betroffenen Frauen auseinandersetzt. Die Gewalt ist so weit Alltag, dass ich mir vorwerfen lassen muss, mit der „Nazikeule“ zu kommen, wenn ich die Aktion T4 in den Kontext dieser Taten setze – oder eben die nationalsozialistische Lehre der sogenannten „Euthanasie„.

    Eigentlich dürfte nichts davon existieren. Eigentlich gibt es die UN-Behindertenrechtskonvention, die für eine Teilhabe an der Gesellschaft für ALLE sorgen soll. Eigentlich sollte es weder Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) geben (in denen diese für ein „Taschengeld“ ausgebeutet werden), noch sogenannte „Kümmerknäste“ (entschuldigung, selbstverständlich meinte ich „stationäre Einrichtungen“), in denen Behinderte teilweise von Kindheit an isoliert leben. Eigentlich.

    Aber es existiert. Alles davon existiert und es existiert nicht in einem luftleeren Raum. Ich trauere und ich habe Angst. Ich bin behindert, ich bin pflegebedürftig. Das Damoklesschwert einer Einrichtung schwebt unsichtbar über meinem Kopf (Redewendung). Ich kenne die Toten nicht. Sie haben keine Namen. Ich weiß nicht, wie es den anderen Menschen in der Einrichtung geht. Darüber wird nicht berichtet. Die gesamte Berichterstattung kreist um die vermutliche Täterin. Sie kreist um ihre Gefühle, ihre Emotionen, ihr Motiv. Sie enthält Werbung für die Einrichtung des Oberlinhaus, darüber, wie lange es diese gibt und wie „aufopferungsvoll“ sich das Personal „kümmert“. Es wird gesagt, dass nicht einmal Zeit bliebe, zu trauern, da „gearbeitet werden müsse“. Ich weiß immer noch nicht, wie es jenen geht, deren Zuhause, deren Sicherheit gerade zerstört wurde. Wird ihnen gesagt, was passiert ist? Wird diese Situation psychologisch aufgefangen? Wird auf die Bedürfnisse eingegangen? Warum wird darüber berichtet, dass für die schwerverletzte Person gebetet wird, nicht aber, wie es den Menschen, die nicht dort arbeiten, die dort leben, geht?

    Ich habe Fragen. Ich habe viele Fragen, die sich alle darum drehen, was das mit Menschen macht, die so sind wie ich.
    Wir unterscheiden uns darin, inwieweit wir in dieser Gesellschaft zurechtkommen, wir unterscheiden uns in der Ausprägung unserer Behinderung. Wir unterscheiden uns in unserer Wahrnehmung und in unserer physischen Gestalt. Aber wir sind dennoch – für jene, die es nicht betrifft – gleich. Wir sind „behindert“.

    Wir sind die, über die in den Kommentarspalten der Meldungen in einer dehumanisierenden, entmenschlichenden Art gesprochen wird, dass mir ganz schlecht wird. Wir sind „dieda“, die „zu bekümmernden“, die „Behinderten“, „die aus den Werkstätten“, die „Hochrisikogruppe“ oder auch die, die umgebracht werden und hinterher wird von der Überforderung der Täter_innen gesprochen. Wir sind die, die an oder mit Corona sterben und hinterher als „Risikogruppe“ oder als „behindert“ oder als „mit Vorerkrankungen“ in die Statistik eingehen.

    Wir sind die, bei denen gerne weggeschaut wird, die außerhalb der Gesellschaft existieren und bei denen ohnehin niemand so richtig Interesse hat, dass sich das ändert.

    Ich schreibe normalerweise Analysen. Heute weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.

    Behinderten die Menschlichkeit abzusprechen, ist alt. Es ist so alt, dass das dritte Reich, die nationalsozialistische Ideologie, es verhältnismäßig einfach hatte, das sogenannte „unwerte Leben“ als erstes auslöschen zu wollen. Es ist so alt, dass Studien, in denen errechnet wird, wie viel ein autistischer Mensch im Leben den Sozialstaat kostet, kommentarlos durchgeführt werden. Es ist so alt, dass Menschen, die ein behindertes Kind erwarten, gefragt werden „ob das denn nötig sei“.

    Ich…. ich möchte das heute nicht analysieren. Ich möchte trauern, trauern um die ungenannten Menschen.
    Ich möchte trauern um jene, die der Ideologie zum Opfer fielen, wir seien nichts wert.
    Ich möchte trauern.

    Und euch gleichzeitig ins Gesicht schreien, dass es an euch ist, die Informationen zu nehmen und zu nutzen und zu verbreiten. Lasst mir meine Trauer. Aber kümmert euch darum, dass es nie wieder geschehen mag!

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