Schlagwort: linkes Selbstverständnis

  • Rezension „Incels“ von Veronika Kracher

    Irgendeine muss es ja tun.

    Visitenkarte von Veronika Kracher

    Seit ich dieses Buch gelesen habe, möchte ich viele Memes, die im Freund_innenkreis geteilt werden, nicht mehr sehen – vorher fehlte mir der popkulturelle Bezug, jetzt fehlt mir immer noch der popkulturelle Bezug, aber der politisch-kulturelle wurde mir eröffnet. Ich hätte darauf verzichten können, ich habe Einblicke in eine Internet-SubKULTur erhalten, die den schlimmsten Albträumen aller Feminist_innen entsprungen zu sein scheint. (Meinen allerhöchsten Respekt an die Autorin, die Recherche muss die Hölle gewesen sein.)

    Erschienen ist „Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ im November 2020 beim VENTIL Verlag.

    Gleichzeitig ist es nur die Spitze eines Eisbergs struktureller Diskriminierung. Incels sind kein Phänomen im luftleeren Raum, sondern Symptom einer patriarchalen Gesellschaft, die Femizide noch immer als „Beziehungsdrama“ darstellt.

    Veronika Kracher schafft es, die letzten hundert Jahre politisch-philosophischer und feministischer Theorie auf 274 Seiten einzudampfen, während sie daraus eine Schablone schafft, um den Online-Kult „Incels“ zu analysieren und hinten noch ein Glossar dranhängt. Eine beeindruckende Leistung. Aufgrund des doch sehr dünnen Büchleins kann deshalb nicht auf die Analyse und Theorie jeder Person eingegangen werden, auf die sich Veronika Kracher bezieht. Im Literaturverzeichnis werden Primär- und Sekundärquellen jedoch so präzise angegeben, dass der Korrektor jeder wissenschaftlichen Arbeit damit zufrieden wäre. Somit ist die Möglichkeit zur selbstständigen Recherche jener Theorien, die naturgegeben zu kurz kommen, allen gegeben, die Lust und Muße haben, sich damit zu beschäftigen.

    Lesen und verstehen lässt sich das Buch jedoch grundsätzlich auch mit einem nur rudimentären Vorwissen über u.A. Adorno, Theweleit, Pohl, Freud und viele weitere. (Da ich nichts in dieser Richtung studiere, besitze ich eben ausschließlich jenes rudimentäre Wissen.)

    Empfehlen würde ich dieses Buch allen Menschen, die bereits ein gewisses Interesse an politischer Bildung haben – oder bereit sind, sich sehr viel Hintergrundwissen zu erarbeiten.
    Gleichzeitig ist es keine leichte Lektüre, dieser Umstand ist jedoch vor allem dem Objekt des Buches, keinesfalls des Schreibstils oder der Analyse der Autorin geschuldet. Aus diesem Grund würde ich das empfohlene Alter für dieses Buch bei nicht unter sechzehn Jahren festsetzen – die Misogynie, Transfeindlichkeit, der Rassismus, der Antisemitismus und die Beispiele aus den Foren und Image-Boards sind für jüngere Menschen eher ungeeignet.

    Schlussendlich möchte ich Veronika Kracher danken, dass sie sich mit diesen Abgründen des Internets und gesellschaftlicher Strukturen auseinandergesetzt, diese analysiert hat und es dennoch schaffte, im abschließenden „Brief an einen Incel“ noch immer positiv auf jene zuzugehen, die sich vor allem durch ihre Frauenverachtung auszeichnen. Das Buch ist sowohl sachlich und informativ, als auch ironisch, amüsant und respektvoll seinem Objekt gegenüber – eine Leistung, die ich nicht oft genug betonen kann.

    (Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar vom VENTIL Verlag zur Verfügung gestellt. Dafür möchte ich dem Verlag und der Autorin danken.)

  • Eine Perspektive in Zeiten von & mit Corona – Gastbeitrag von Foks

    Eine Perspektive in Zeiten von & mit Corona – Gastbeitrag von Foks

    Danke für das Beitragsbild an Das_Anja.

    Es sind seit 7 Tagen nur täglich wenige Minuten, die ich ohne Maske verbringe. Ein, zwei tiefe Atemzüge lang, auf dem Balkon, um kurz Pause zu haben.

    Eins meiner Kinder ist Risikopatient, hat Pflegegrad 3 & braucht dadurch im Alltag Unterstützung. Die Angst der Ansteckung ist groß, war sie schon, bevor ich infiziert wurde.

    Nähe funktioniert nur mit Maske & strikten Hygieneregeln, aber dadurch haben wir bisher eine Infektion verhindert.

    Ich erlaube mir heute ein paar Minuten mehr Pause, einmal mehr tief einatmen, es funktioniert wieder ohne Schmerzen, das Fieber ist weg, ich fühl mich nicht mehr so abgeschlagen. Es fühlt sich gut an. Versuche noch einmal, ein paar Reserven zu mobilisieren, um die nächsten 6-7 Tage irgendwie auf die Reihe zu bekommen, in denen wir auf uns alleine gestellt sind, habe Angst, dass die Besserung wieder umschlägt – wie ein paar Tage zuvor.

    Mich beschäftigen Gedanken wie, dass ich gespannt auf Jahresstudien zu Corona & Infektionsverläufen bin. Ich kann 1 zu 1 sagen, wo ich mich infiziert habe: Es war in einem Raum, mit Abstand, Maske & Lüften. Derweil häng ich hier mit zwei Kindern seit 7 Tagen in Quarantäne auf engstem Raum, mit Maske, ohne Abstand & Lüften. Beide sind nach wie vor negativ.

    Dann geht es weiter mit Gedanken wie, was für Kommentare mir auf dem Weg der Quarantäne zu Ohren kamen: „Krass, du trägst den ganzen Tag Maske, dass könnt ich nicht“
    – ein Kommentar dazu von mir: Doch kannst du! Denn es gibt keine Alternative, solange wie eins ansteckend ist, um andere zu schützen.

    Dabei gibt es immer noch Menschen, die sich über das Tragen einer Maske, wenn sie mal eben 20 Minuten einkaufen gehen, beschweren. Es macht mich unfassbar wütend, während ich hier in den paar Momenten an der frischen Luft über all die Augenblicke nachdenke, an denen ich bedroht & angegriffen wurde, wenn ich Solidaritätsverweigerer_innen auf das (richtige) Tragen einer Maske hinwies. Es macht mich wütend, wieder einmal zu merken, wie viele Solidaritätsverweigerer_innen da draußen versuchen „für ihr Recht auf Freiheit zu kämpfen“. Wie bewusst diese Menschen mit dem Leben anderer spielen. 

    Eigentlich sind Masken vs. Viren nicht das überraschendste Konzept; aber anscheinend ist alles, was zu klein oder zu transparent fürs menschliche Auge ist, irgendwie zu viel Aufwand, auch wenn es tödlich sein könnte (danke an Dr. Carmilla Qarnstein für die geliehenen & so passenden Worte).

    Es gibt keine Alternative, das Virus kostet Leben, viele. Es ist lernbar, dass bestimmte Dinge notwendig sind, um Andere zu schützen, weil es für diese lebensnotwendig ist & ich würde mir wünschen, dass das ein paar mehr Menschen begreifen.

    Ich muss seit 7 Tagen, infiziert, meine Kinder versorgen, beschäftigen, eins teilpflegen. Ich suche noch ein wenig die Ironie in den Worten, ich solle mich so gut es geht von meinen Kindern isolieren, ausruhen, alles regelmäßig desinfizieren. Dabei bin ich froh, wenn ich hier für regelmäßige Mahlzeiten & Beschäftigungen sorgen kann, während mein Körper vor sich hin fiebert, Atmung schwer fällt, während mein Gehirn mir eine Predigt darüber hält, dass ich funktionieren muss, dass die Kinder nicht zu lange digitalen Medien ausgesetzt werden sollten, Homeschooling stattfand & noch vielen weiteren Erwartungen, die an Elter(n) gestellt werden.

    Ich habe einen relativ milden Verlauf, dass ist Glück, denn ich wüsste nicht, wie all das Alleinerziehende bewältigen sollten, wenn es schlimmer kommt. Nach außen hin wirkt mein 15jähriger Sohn oft sehr selbstständig, aber viele haben einfach keine Vorstellung davon, was Pflege alles beinhaltet: Es fängt beim Essen an & hört nicht bei Hygienedingen vor- & nachbereiten auf. Du musst eine halbwegs ok Tagesstruktur & Beschäftigung aufrechterhalten, die sonst von den Einrichtungen, die dafür ausgebildet sind, erledigt wird & das ist nur ein kleiner Auszug. Dabei geht es nicht nur um Corona, sondern ist eine immer wiederkehrende Frage, wenn Alleinerziehende krank werden, nur das jetzt eine 100% Isolation von der räumlichen Außenwelt dazu kommt.

    Ohne das seit Jahren aufgebaute, praktisch solidarische Netzwerk könnte ich das nicht so gut bewältigen. Auch wenn hier, auf den paar Quadratmetern, uns niemand helfen kann, niemand sagt: „Ruh dich aus, kurier dich“, ist das doch etwas, was sehr hilft. Es fängt bei der Lebensmittelversorgung an, geht über ‚fertige Mahlzeiten vor der Tür abstellen‘, über Gespräche die für ein wenig mental health sorgen, bis hin zu Menschen, die selbst schon Corona hatten, für die es möglich wäre, Kinder aufzunehmen, um diese zu schützen, aber auch, falls Infizierte schwerere Verläufe haben, für Entlastung zu sorgen. 

    Ein weiterer Gedanke ist, wie das Risiko andere zu infizieren, minimiert werden könnte, wie gegenseitiges Entlasten in verschiedenen Bereichen möglich gemacht werden kann.

    Dazu braucht es ein Umdenken, es braucht eine Gesellschaft, die das System umlenkt, damit Menschen dafür Raum bekommen oder sich diesen endlich nehmen & nicht nur für Staat, Miete & Kapitalismus funktionieren.

    Ein praktisch-solidarisches Miteinander aufzubauen braucht Zeit, es gibt viel Theorie dazu, aber mehr denn je rückt in den Mittelpunkt, dass diese auch praktisch umgesetzt werden muss, in diesen Umständen, in dieser Zeit und ich bitte jede_n sich selbst zu hinterfragen, inwiefern das mit den eigenen Kapazitäten möglich werden kann & nicht nur eine immer wiederkehrende Utopie bleibt.

    Für ein praktisch solidarisches Miteinander & um Leben zu retten.

  • Erlernte Kommunikation – die Grammatik neurotypischer Interaktion

    Sei mal höflicher, sei respektvoll! Ich finde wirklich nicht gut, wie du hier mit Menschen umgehst.

    A.

    Wie?

    Ich.

    Jetzt wirst du auch noch passiv-aggressiv! Bist du denn gar nicht kritikfähig?!

    A.

    *verlässt die Gruppe*

    Ich.

    Eine – für mich – typische Situation, wenn ich (meiner Meinung nach) höflich Kritik geübt hatte. Oder auch nur in Situationen, die ich nicht genau verstanden hatte, nachfragte. Diese Situation findet sich vor allem in näherer Vergangenheit wieder. Meine erlernte Kommunikation ist offensichtlich auch nach über zwanzig Jahren noch nicht gut genug.

    Die Schulzeit dagegen war geprägt von Mobbing und Ausschlusserfahrungen. Weil ich „anders“ war und nicht verstanden habe, inwiefern sich meine Andersartigkeit bemerkbar macht. Ich war im besten Fall „seltsam“, im schlimmsten Fall wurde ich bestraft.

    Wenn sich dieses Verhalten nach jedem Schulwechsel, jedem Klassenwechsel wiederholt, dann lernt das betreffende Kind (in diesem Fall Ich), dass es definitiv nicht an den anderen Kindern liegen kann. Sonst würde der Wechsel ja helfen. Oder, um es mit einem beliebten Zitat meiner Mutter zu sagen:

    Im Radio kommt eine Durchsage über einen Geisterfahrer auf der A4. „Einer?! Hunderte!“

    Der Geisterfahrer.

    Der Witz ist hier, dass dem Geisterfahrer (also der Person, die auf der Autobahn in die falsche Richtung fährt), gar nicht bewusst ist, dass sie die Person ist, die sich falsch verhält. Und das auf alle anderen (die sich richtig verhalten) projiziert.

    Ich dagegen wusste früh: Es liegt an mir. Nur, was genau ich „falsch“ mache, das konnte mir nicht erklärt werden. Ich hatte das Gefühl, alle anderen Kinder (und mittlerweile Erwachsenen) hatten einen geheimen Lehrgang in Kommunikation. Aber ich fehlte dort. Meine erlernte Kommunikation ist also die Imitation eines intuitiven Vorgangs.

    Mittlerweile habe ich Worte dafür – und eine Erklärung.

    Während neurotypische Kinder in ihrer Sozialisation Zugang auf alle Ebenen der Kommunikation (emotionale Ebene, Beziehungsebene, Mimik und Gestik und Informationsebene) haben, bleibt (verbalen) autistischen Kindern ausschließlich die Informationsebene. Gleichzeitig ist diese ihre natürliche Art der Kommunikation. Somit fällt ihnen zunächst nicht auf, dass es bei anderen Kindern (und Erwachsenen) anders ist.

    Später fällt diese „Andersartigkeit“ dann jedoch auf. Doch weil neurotypische Kinder ihre Kommunikation als „natürlich“ empfinden (und ihn der Mehrheit sind), werden autistische Kinder als „anders“ gekennzeichnet.

    Das bedeutet, dass ich nichtautistische Kommunikation lernen musste. Wie eine Fremdsprache, deren Feinheiten sich mir nicht immer erschließen. In der ich niemals mit der gleichen Eloquenz ausgestattet werde, wie in meiner Erstsprache. Die ich jedoch mittlerweile meistens ausreichend beherrsche, um meine Fremdsprachigkeit zu maskieren.

    Der Weg dorthin war lang und schmerzhaft. Nichtautistische Menschen verstehen nicht, dass das, was ihnen intuitiv zufliegt (beispielsweise ein Verständnis davon zu haben, was „höflich“ und „respektvoll“ sein soll) für mich eine erlernte Verhaltensweise ist. Ich versuche, ihr zu entsprechen. Aber es gelingt nicht immer.

    Mein „Wie“ war also, wenn das auch in der Vorstellungskraft von Nichtautist_innen selten Raum findet, nicht passiv-aggressiv oder verletzend gemeint. Es war rein sachlich. Ich wollte wissen, was die andere Person von mir erwartet, um mein Verhalten entsprechend anpassen zu können. Das kam jedoch (wie häufig) nicht an.

    Und mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich mich nicht mehr „falsch“ fühle. Höchstens am falschen Ort und in der falschen Gruppe, aber nicht inhärent aus mir heraus.

    Es ist in Ordnung, anders zu kommunizieren als neurotypische Menschen. Es ist nicht per se schlecht; gerade in Kontexten, in denen es darauf ankommt, sachliche Zusammenhänge aus Kommunikation zu filtern. Dort habe immense Vorteile. Und auch viele Meetings, Treffen und Plena würden davon profitieren, wenn Menschen weniger auf der emotionalen Ebene und mehr auf der informativen Ebene kommunizieren. (Anstatt Gewaltfreie Kommunikation anzuwenden.)

    Gleichzeitig ist es auch in Ordnung, autistische Kommunikation nicht nachvollziehen zu können. (Ich kann es bei neurotypischer Kommunikation, auch wenn ich gelernt habe, sie nachzuahmen, schließlich auch nicht.) Wichtig ist, dass Raum gelassen wird, es zu erklären, anstatt die eigenen Erwartungen auf eine Leinwand zu projiziere. Diese besteht ärgerlicherweise nicht aus Stoff, sondern aus organischem, menschlichem, fühlendem Material.

    Darüber, wie gute erlernte Kommunikation zwischen neurotypischen Menschen und Autist_innen (vor allem in Gruppen) funktioniert, könnt ihr hier nachlesen. Wenn alle Beteiligten aufeinander zugehen und Kommunikation lernen, gewinnen auch alle davon!

  • Awarenessarbeit – Partypolizei mit Machtgelüsten

    Wir brauchen kein Awarenessteam. Wir sind doch schon alle aware und passen gut aufeinander auf! Awarenessarbeit ist überflüssig!

    Veranstalter.

    Sagen wir so, meine Sympathie mit den Veranstaltenden war zu dem Zeitpunkt ohnehin auf den Grad flüssigen Stickstoffs gesunken. Aber ich war ja nicht da, um den Veranstaltenden zu gefallen, sondern, um meinen Job zu machen.

    Awarenessarbeit

    Mein Job nennt sich „Awarenessarbeit“. Awareness kommt aus dem Englischen und bedeutet soviel wie „Achtsamkeit“. Im deutschen Sprachgebrauch wird damit eine Sensibilität gegenüber strukturellen Diskriminierungen und sexualisierter Gewalt gemeint. Ein Awarenessteam soll also dafür sorgen, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt und/oder Diskriminierungen einen Anlaufpunkt haben. Wir sind die, an die sich Leute wenden können.

    Ein Awarenessteam ist nicht dazu da, betroffene Personen zu trösten oder mit ihnen über ihre Erfahrungen zu diskutieren. Wir wollen die Veranstaltung zu einem sichereren und diskriminierungsärmeren Raum machen. Meine Veranstaltungen sollen nicht sein wie Jeja Klein hier sehr gut kritisiert. Ich will kein Feigenblatt sein. Sondern fundamentale Veränderung.

    Umsetzung

    Es gibt verschiedene Varianten, wie Awareness aussehen kann. Ich persönlich habe eine sehr spezialisierte und konkrete Vorstellung davon, wie sie auszusehen hat. In meinen Workshops biete ich aber auch immer die jeweiligen Alternativen an.

    Definitionsmacht

    Definitionsmacht (oder DefMa) ist ein Konzept, dass Betroffenen die alleinige Macht gibt, Situationen als Übergriff zu bezeichnen. Entwickelt wurde das Konzept, um patriarchalen Strukturen (victim blaming) und bürgerlichen Gesetzestexten eine alternative, autonome und empowernde Möglichkeit entgegenzusetzen. Es ist also nicht Aufgabe des Awarenessteams, die Darstellung der betroffenen Person zu hinterfragen. Sie gehört als gegeben hingenommen

    Machtgefälle

    Machtgefälle. Nein, Awarenessteams sind nicht dazu da, dass sich „alle“ wohlfühlen. Wir sind dafür da, dass sich „vor allem Marginalisierte“ wohlfühlen können. Wir sind nicht die Schlichtungseinrichtung und wir sind nicht dafür da, auszudiskutieren, „ob das jetzt wirklich schlimm war“. Unser Job ist es, Marginalisierte zu schützen und zu unterstützen. Wer sich konfliktscheu zurückzieht und Nazis die Tanzfläche überlässt, weil sie ja (noch) nicht übergriffig waren, macht seinen Job falsch. Ja, Awareness schafft ein Machtgefälle. Dieses Machtgefälle gleicht (wenn auch nicht mal annähernd) das strukturelle Machtgefälle aus, das sexualisierte Gewalt und Diskriminierungen unterstützt und schützt.

    Voraussetzungen

    Awareness ist Arbeit. Wir sind diejenigen, die Ahnung von Substanzenkonsum haben müssen. (Weil wir vor allem auf Partys zwangsläufig diejenigen sind, die auch Menschen mit Überkonsum betreuen).
    Uns mit Gewalt auskennen, strukturelle Diskriminierung erkennen und benennen. Wir stehen (teilweise über Stunden) mit Betroffenen in engem Kontakt.
    Awarenessarbeit ist anstrengend. Sie ist belastend (physisch und psychisch). Es sollte definitiv nicht von Leuten gemacht werden, die zu langsam waren, als die Frage aufkam, wer „heute Abend die Awareness macht“.
    (In Teams, in denen ich arbeite, gibt es für neue Menschen ein Tandemprinzip, damit Leute voneinander lernen können. Außerdem ist die Faustregel „zwei Menschen pro Floor“, damit ausreichend Ressourcen für Fälle zur Verfügung stehen.)

    struktureller Ansatz

    Awarenessarbeit ist kein „Trost“. Wir sollen strukturelle Probleme auf eine individuelle Situation anpassen und erkennen. Danach eine Lösung für die Situation finden, welche die Diskriminierung mit einbezieht. Es geht nicht (nur) darum, einer Person über den Rücken zu streicheln und ihr zu sagen, dass alles gut wird. Eher darum, der Person zu ermöglichen, eine machtlose Situation in eine zu verändern, in der sie Selbst_Ermächtigung erfährt. Übergriffe sind in den meisten Fällen etwas, womit Betroffene aufgrund der gesellschaftlichen Struktur ohnehin dauerhaft konfrontiert werden. Awarenessarbeit ist, den Kreislauf von 1. Ich wurde in eine machtlose Situation gebracht.
    2. Niemensch hilft mir.
    3. Ich bleibe allein und machtlos.
    zu brechen und Menschen handlungsfähig zu machen.

    Abschluss

    Eine letze Anmerkung noch zu dem Typen aus dem Eingangszitat. Wenn hier alle so aware und achtsam wären, hätte ich nicht vor Beginn der Party zwei Shoa-leugnende-Hippies verweisen müssen. (In diesem Fall auch wichtig: Eine Security, die das Awarenesskonzept unterstützt.)

  • Jüdischer Widerstand – ein Gastbeitrag von Naomi

    In diesem Gerichtssaal hängt die Frage in der Luft, warum hat sich das [jüdische] Volk nicht erhoben. Als kämpferischer Jude protestiere ich mit aller Leidenschaft gegen diese Frage, soweit sie auch nur die Spur eines Vorwurfs enthält. Dem Mann [Adolf Eichmann], der mir hier gegenüber sitzt und den 80 Millionen, die auf der Straße das Lied sangen ‚Wenn Judenblut vom Messer spritzt‘, denen schulde ich keine Antwort.

    Abba Kovner, während des Eichmannprozesses

    Diese Worte sprach Abba Kovner, leidenschaftlicher Widerstandskämpfer aus Vilnius, während des Eichmannprozesses in Jerusalem. Er antwortete damit auf eine zentrale Frage, die sich bis heute zahlreiche Menschen innerhalb und außerhalb der jüdischen Community stellen.

    Auf der, vom fzs, von JSUD und anderen studentischen Gruppen 2019 organisierten, Deutsch-Israelischen Studierendenkonferenz wurde eine Diskussionsrunde mit Shahar Arieli, Botschaftsrat und außenpolitischer Sprecher der Israelischen Botschaft in Berlin, veranstaltet. In dieser ging es auch um die Bedeutung der Worte „Never Again“. Nach Arieli bedeuten diese Worte für die Jüdische Gemeinschaft, dass sie sich nie wieder wehrlos gegenüber einer solchen Katastrophe ergeben werden. Auch dieser Ausdruck fügt sich ein in das Narrativ folgender Frage: Warum lies die Jüdische Bevölkerung die Shoah über sich ergehen? Warum gingen sie „wie die Schafe zur Schlachtbank“?

    „Wie die Schafe zur Schlachtbank“
    Noch immer wird dieses Narrativ präsentiert. Was wird damit impliziert? Die „Juden“ hätten sich nicht gewehrt, sie wären also in Teilen selber Schuld an dem, was passiert ist. Wenn sie überleben, nicht untergehen sollen, dann brauchen sie andere Leute, die sie beschützen. Zelebriert werden also meist (deutsche) Widerstandskämpfer_innen, um sich selbst das Gefühl zu geben, es wären ja nicht alle schlecht gewesen, es hätte auch „gute Deutsche“ gegeben. Die einzige Geschichte, die hin und wieder bekannt ist, ist die des Aufstands im Warschauer Ghetto. Er wird jedoch weniger als Befreiungsversuch dargestellt, sondern vielmehr symbolisch für die Brutalität des NS-Regimes verwendet und präsentiert.

    Max Czollek spricht in „Desintegriert Euch!“ davon, dass die „Juden“ Objekte sind, anhand deren die Deutschen ihre Identität als geläuterte Gesellschaft entwickeln und aufrechterhalten können. Dieses Bild schließt sich auch das von mir dargestellte Narrativ ein. Wehrhafte jüdische Menschen würden einfach nicht hineinpassen.

    Wie perfide dies ist, zeigt sich anhand des oben bereits erwähnten, symbolischen Zitat „wie die Schafe zur Schlachtbank“. Dieses Zitat wurde von ebenjenem Abba Kovner benutzt. Nicht jedoch als Beschreibung der Shoah:

    „Jüdische Jugend! Traut nicht jenen, die euch zu täuschen versuchen. Hitler plant die Zerstörung aller Juden [sic!] in Europa. […] Wir werden nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen! Es stimmt dass wir schwach und wehrlos sind, aber die einzige Antwort auf den Mörder ist Widerstand! Brüder! Lieber fallen wir als freie Kämpfer[_innen] als bei der Gnade der Mörderer[_innen] zu leben. Wehrt euch! Wehrt euch bis zum letzten Atemzug!“

    Abba Kovner, Anfang 1942

    Diese Worte fielen Anfang 1942. Sie stehen in komplettem Widerspruch zum Narrativ, welches sich hinter diesem Zitat heute verbirgt. Ein Narrativ, das nicht nur einen Jüdischen Schlachtruf für sich beansprucht, sondern dessen Bedeutung fundamental die eigentlichen Tatsachen verschweigt. Ein Narrativ, das jedoch nicht überall besteht, denn die US-Amerikanische jüdische Community zelebriert und gedenkt dem Widerstand.

    Welche Folgen hat dies alles? Es gibt kein Selbstbewusstsein, kein Bewusstsein hinsichtlich des Widerstands, geschweige denn Gedenken oder Zelebrieren. Jüdische Menschen werden noch weiter zu Objekten degradiert. Nicht nur zum Bekämpfen oder Erlangen der Absolution, sondern auch zum Beschützen und Verteidigen. Quer durch die Lager hinweg, von Antideutschen, die „ein sicheres Zuhause für ihre jüdischen Freund_innen“ schaffen wollen und in diesem Kontext Bestrafungen auch innerhalb von Freundeskreisen verteilen, bis hin zu Nationalist_innen, welche die Jüdische Bevölkerung vor dem bösen Islam schützen wollen. Wahrlich, ihr seid edle Ritter_innen, was wäre ich armes, kleines, jüdisches Wesen nur ohne euch. (Sarkasmus aus).

    Das ist keine Hilfe, das ist Bevormundung. Ich will und ich werde mich nicht von Goyim (nichtjüdische Menschen) abhängig machen, nur damit sie sich ach so geläutert, ach so offen, ach so anti-antisemitisch präsentieren können. Eine Abhängigkeit, symbolisch an der Thematik der stabilen Holztür in Halle darstellbar.

    Wir haben gekämpft und gesiegt! Wir haben in Konzentrationslagern Menschen befreit, in Armeen und in Partisan_innengruppen Wehrmacht und SS das Leben schwer gemacht! Wir haben Menschen versteckt, zur Flucht verholfen, außer Landes gebracht und versorgt, teilweise gegen unsere eigenen Leute.

    Abba Kovner, Vitka Kempner, Itizk Vitnberg, Zivia Lubetkin, der Aufstand in Sobibor, die Armée Juive, die FPO …

    Wir werden sie ehren. Und wir werden all dies, wenn es sein muss, wieder tun. Mag sein, dass nur die Alliierten Deutschland besiegen konnten und nicht wir allein, mag sein, dass Polizei vor Synagogen weiterhin notwendig ist (und am Ende dennoch stabile Holztüren uns besser schützen als die vormals so edlen Ritter_innen). Aber uns die Schuld dafür geben? Niemals! „[…] den 80 Millionen, die auf der Straße das Lied sangen ‚Wenn Judenblut vom Messer spritzt‘, denen schulde ich keine Antwort.“

    Gerade jetzt braucht es keine Geschichten der Angst und des Leids. Es braucht Wehrhaftigkeit, Widerstand und vor allem Selbstbewusstsein. Widerstand muss zelebriert werden, denn er zeigt, dass wir uns wehren können, wehren dürfen! Liebe Goyim, mit welchem Recht nehmt ihr uns diese Geschichten weg, mit welchem Recht zelebriert ihr, gerade ihr, euren Widerstand, ohne unseren zu erwähnen? Wenn ihr tatsächlich Hilfe sein wollt, dann verteidigt uns nicht nur, sondern helft uns, unsere Wehrfähigkeit, unser Selbstbewusstsein zu erlangen!

    Disclaimer: Es gab und es gibt auch in Deutschland Personen und Projekte, welche Widerstand, auch jüdischen, zelebrieren und ehren. Ihnen gebührt Dank, dass sie diese Erzählung, dieses kleine Licht, am Leben halten.

  • Suck my dick, Boi!

    Ich bin wütend. Ich bin außerdem aufgedreht, empowert und habe Lust auf Sekt, aber vorher will ich diesen Artikel schreiben, solange der Eindruck noch frisch ist.

    Linke Männer. Nehmen wir einen Typen, nennen wir ihn Matze. Matze ist gar kein Macker, Matze ist „kritisch männlich“. Matze kennt alle Buzzwords (Feminismus, Aktivismus, Anarchismus, Männlichkeit, Diskriminierung). Matze lebt schon irgendwie in einer offenen Beziehung, zumindest hat seine Freundin zugestimmt, dass er herumvögeln kann. Laut ihm kommt sie damit zwar nicht gut zurecht, aber er hat halt so große Lust dazu.

    Matze ist ein Arschloch. Aber weil Matze das immer nur bei einzelnen Personen macht, wird Matze dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Matze trifft vor allem FLINT-Personen. Er übertritt keine Grenzen, er verschiebt nur Grenzen immer weiter nach hinten, bis er bekommt, was er will.
    Wird er dafür kritisiert, tut er überrascht – er würde NIE eine Grenze überschreiten, das wäre ja fürchterlich!
    Zurück bleibt eine verwirrte Person, die ihre eigenen Erfahrungen hinterfragt. Aber Matze ist für ihre emotionalen Bedürfnisse auch nicht zuständig, schließlich sei ja alles casual und abgesprochen.

    Im besten Fall redet diese Person mit Freund_innen. Im allerbesten Fall trifft die Person Menschen, die ebenfalls Erfahrungen mit Matze haben. Und dann stellen alle fest: Es sind immer wieder die gleichen Geschichten, sie unterscheiden sich nur situativ. Hinterher steht im Raum… …was jetzt? Und: Warum haben wir das nicht viel früher erkannt?

    Weil patriarchale Strukturen auch in linken Räumen ein Problem sind. Weil Menschen wie Matze geschickt darin sind, ihr manipulatives Verhalten hinter „Szenezugehörigkeit“ zu verstecken. Weil FLINT immer noch vorgeworfen wird, sie würden ihre „persönlichen Probleme“ in Gruppen tragen, wenn sie darüber reden wollen. Weil das private, das sexuelle bitte innerhalb der eigenen vier Wände zu bleiben hat. Weil linke Räume immer noch eher Rufmord wittern, als Verhalten zu hinterfragen.
    Weil das Patriarchat auch unsere Szene vergiftet und FLINT die Verantwortung bei sich suchen, anstatt auf ihre eigenen Grenzen zu hören und sie zu beachten.

    Wir alle kennen einen solchen Matze. Aber die Szene ist klein, wir können nicht alle cis Dudes verlieren, die irgendwie uncool sind. Und wir wollen ja auch nicht, dass Menschen Angst vor einem Outcall haben müssen.

    Wollen wir nicht? Ich schon. Ich will, dass Menschen den Arsch hochkriegen. Und wenn sie es aus Angst vor feministischer Intervention tun, nun, dann ist dem eben so. Befreite Gesellschaft heißt, dass wir Normen überwinden und die des Patriarchats sind eindeutig Teil davon. Ich will ohne Angst reden können. Ich will das Private politisch machen.

    Und vor allem… Ich will Anerkennung für die Arbeit, die jeder Matze auslöst. Treffen organisieren. Erfahrungen abgleichen. Die eigene Betroffenheit von Übergriffen anerkennen. Die Auseinandersetzung mit eigenen Emotionen. Die Übersetzung eigener Emotionen in strukturelle Diskriminierungen. Die Abgrenzung. Das Aushalten von Schmerz, von „Warum hab ich nichts getan“, von internalisiertem victim blaming.

    Das Verhalten von Matze hat Auswirkungen – und die wenigsten Matze machen sich Gedanken darum. Nebenbei Tätertum – obwohl ja „eigentlich“ nichts schlimmes passiert ist. Bla.

    Ich möchte einen umfassenden Feminismus. Kein Feigenblatt, keine Kirsche auf der Torte. Und ja, heute bin ich nicht analytisch. Ich bin wütend über das Patriarchat und glücklich, dass Empowerment wichtig ist, richtig ist und funktioniert. Und jetzt gönne ich mir Sekt mit Glitzer und zeige den Matzes dieser Welt den Mittelfinger.

    Suck my Testodick, Boi.

  • Risikogruppe und Eisblumen

    Unsichtbar.
    Das Leben findet in den eigenen vier Wänden statt, der Biedermeier des letzten Jahrhunderts erlebt eine Renaissance dieser Tage. Risikogruppe bleibt zu Hause. Mehr oder weniger freiwillig.

    Doch nicht die Müdigkeit der bürgerlichen Politik hat die Menschen in die Häuslichkeit getrieben, nicht der Rückzug ins Private hat den Starter für Sauerteigkulturen und DIY-Nähprojekte gelegt.
    Ein Virus geht um in Europa, das Virus SARS-Covid­19, neuartig, unerforscht, höchst ansteckend und wenn auch nicht im gleichen Maße tödlich, so doch mit Spätfolgen zu rechnend.

    Home Office

    Wer Glück, Privilegien und eine sichere Einkommensquelle hat, der lebt gut in dieser Zeit, arbeitend von zu Hause aus, das Brot kommt frisch und heiß aus dem heimischen Ofen und auf dem Balkon kann man es sich endlich gemütlich machen, während die Kolleg_innen neiderfüllt auf die eigene Gemütlichkeit schielen, während fleißig Meetings über Videoplattformen stattfinden.

    Ich atme ein.

    Knochenmüde

    Schwere legt sich auf mich, Müdigkeit umfängt mich. Ich fühle mich, als würde jeder Lebenswille, alle Energie aus mir heraus laufen. Knochenmüde, so nenne ich diesen Zustand. Müdigkeit, die in den Knochen sitzt, aus den Knochen kommt.

    Nichts hilft, es bleibt nur ausharren, ob heute nochmal Energie zurückkommt oder mein Tag dann schon vorbei ist. Wann? Dann. Das kann um drei sein, um fünf oder morgens um elf.

    Ich habe gelernt, damit umzugehen. Habe gelernt, von einem nicht beeinflussbaren, unbekannten Energiezustand auszugehen, der zu den ärgerlichsten Zeiten verbraucht sein kann.

    Ich war seit Wochen nur noch draußen, um medizinisch notwendige Termine wahrzunehmen. Habe seit Wochen keine Menschen mehr gesehen, die nicht hier wohnen.

    Lockerungen

    Ich sehe, wie die Lockerungen kommen. Sehe, wie immer mehr Menschen sich treffen wollen, ein Sozialleben.
    Ich bin Risikogruppe.

    Es passiert, was mir Angst machte: Das Leben geht weiter. Ich hab ein Fenster zur Straße, ein Fenster zum Hof, einen Zugang zum Leben, durch eine Glasscheibe hindurch. Plexiglasscheiben zum Schutz der Risikogruppe.

    Ich bleibe hier sitzen, wie eingefroren. Bis heute war das Leben aller Menschen ähnlich eingefroren, nun tauen sie auf.

    Werden sie sich erinnern, dass ich da bin? Eingefroren, die Eisblumen am Fenster bewundernd.

    Eisblumen

    Wenn das hier vorbei ist – für mich, nicht nur für sie, für die Gesunden, die JungenUndGesunden, die, die auftauen sich leisten können – werden dann noch Menschen übrig bleiben, die sich daran erinnern, dass ich mal Teil ihres Lebens war?

    Oder wird die Welt sich weitergedreht haben, zu einem „Ach ja, die Person habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, was es wohl macht?“, zu einem Bild im Gedächtnis einer Person, zu Sepia verblasst, weil keine Technicolor die Erinnerungen auffrischte. Wird das Internet, die Verschriftlichung reichen, um Kontakte aufrecht zu erhalten, um dabei sein zu können?

    Wenn die Konzerte wieder stattfinden können, Menschen auf Festivals fahren, sich gemeinsam treffen und Freund_innenschaft in Cafés und Kneipen zelebrieren, werde ich dann zu Hause sitzen, die Eisblumen am Fenster bewundern und innerlich schreien, weil das Leben weiterläuft und ich nicht auftauen darf?

    Solidarität ist eine Waffe. Sie schneidet zweischneidig.

  • Solidarität und Druck

    Solidarität muss praktisch werden!
    Hoch! Die! Inter/Antinationale! Solidarität!
    Solidarität ist eine Waffe und wir wissen ganz genau, wie man sie gebraucht!

    Menschen helfen einander, nicht, weil sie es müssen oder aus kapitalistischen Gründen, sondern, weil sie es wollen.

    Eine Person braucht Hilfe, die andere Person gibt Hilfe. Grundprinzip der meisten linken Strömungen, ob Kommunismus oder Anarchismus.
    Strukturell gesehen eine große Gefahr für den Kapitalismus. Denn funktionierende soziale Netze, die ohne Wachstums- und/oder Gewinnabsicht auskommen, machen dieses Wirtschaftssystem grundsätzlich überflüssig. Globale Solidarität ist das Gegenteil von Ausbeutung und neoliberalen Zwängen.

    Eine großartige Theorie, die ich sehr schätze. Ich spreche oft in Vorträgen über Solidarität, solidarisches Miteinander und gemeinsames Schaffen des „Guten Leben für Alle“. Aber dann fällt mir wieder auf, dass vor allem die Perspektive jener in den Fokus rückt, die „solidarisch geben“.
    In Zeiten einer weltweiten Pandemie sind das jene, die für andere Menschen einkaufen gehen. Die Risikogruppen unterstützen. Menschen von A nach B fahren, damit diese nicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Gefahr ausgesetzt sind, sich anzustecken.
    Es sind Menschen, die ihr eigenes Sozialleben zurückschrauben, um andere Menschen zu unterstützen/nicht zu gefährden.

    Es wird als selbstverständlich dargestellt diese Solidarität zu bekommen – und das sollte es auch sein.

    Neoliberale Sozialisation

    Dennoch sind wir alle in einer Gesellschaft sozialisiert worden, die „Schwäche“ ablehnt und den neoliberalen Anspruch des „eigenen Glückes Schmied“ als einzige Möglichkeit vertritt. Solidarität ist verpönt und das spüren vor allem Menschen, die auf Solidarität angewiesen sind.

    Es ist solidarisch, die Musik leiser zu drehen, wenn die Nachbarn aufgrund der Vibration nicht schlafen können.
    Aber die Person, die nicht schlafen kann, fühlt sich möglicherweise als Belastung. Weil sie nie gelernt hat, dass ihre Bedürfnisse valide sind.

    Es ist solidarisch, die Risikogruppen nicht noch größerem Risiko auszusetzen.
    Aber die Person mit Asthma, die gerade Demos von zu Hause aus verfolgt, fühlt sich womöglich „nicht ausreichend“ oder „nicht links genug“.

    Solidarität und Hürden

    Es ist solidarisch, gemeinsam zu überlegen, wie wir Armut in unserer Peer Group kommunizieren und bekämpfen können.
    Aber die Person, welche die meisten Gaben und Unterstützungen erhält, hat vielleicht das Gefühl „nicht genug geben zu können“ und  ihr Umfeld „auszunutzen“.

    Solidarität und mildtätige Gaben christlicher Konfessionen hängen geschichtlich eng zusammen. Sowohl die „Armenspeisung“ als auch die heutigen Tafeln sind ein Zeichen dafür. Staatliches Versagen und kapitalistische Ausbeutung werden durch die Schaffung eines mildtätigen Netzes ausgeglichen, woraufhin der Staat auf eben jenes Netz verweist. Anstatt selbst in die Pflicht genommen werden zu müssen (oder gar abgeschafft).

    Solidarität wirkt der Verelendungstheorie entgegen, schafft Netze und hilft Personen. Dennoch bleibt die Frage im Raum, wie wir Menschen die Sicherheit geben können, nichts zurückgeben zu müssen?
    Arbeit gleichberechtigt zu bewerten, anstatt von allen das gleiche zu fordern?

    Jedes nach dessen Bedürfnissen, jedes nach dessen Fähigkeiten und Solidarität muss praktisch werden. Wie können wir dies in den Köpfen der eigenen Szene verankern? Was können wir einem linken Imposter Syndrom und dem kapitalistischen Selbstanspruch entgegen setzen?

    Schreibt mir auf Twitter, wenn ihr praktische Ideen habt, ich habe nur Fragen.

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