Schlagwort: Persönliches

  • Gute Kommunikation mit neurotypischen Menschen

    Sorry! Ich wollte dich nicht verunsichern!
    Sorry, dass ich das nicht berücksichtigt habe.
    Danke für die gute Kommunikation!

    gemochter Politgruppenmensch

    Es ging darum, dass ich – gerade bei neuen Menschen – nicht unbedingt auseinanderhalten kann, ob Menschen im Spaß pöbeln oder ernsthaft verletzt sind. (In diesem Fall war die Begründung einfach. Die Person pöbelt gerne und ich lieferte ausnahmsweise eine Steilvorlage zum Pöbeln, die natürlich genutzt wurde.) Gute Kommunikation bedeutet, dass wir offen darüber reden können.

    Vorauseilender Gehorsam

    Ich jedoch wusste das nicht – und habe mich für meine Aussage entschuldigt, weil ich nicht einordnen konnte, ob ich eine Grenze überschritten hatte – oder nicht. Bevor ich also eine unangenehme Situation von allen Seiten überdenke, entschuldige ich mich lieber für den Fall der Fälle – und gebe die Möglichkeit, die Situation zu korrigieren. Ich habe gelernt, wenn ich das nicht tue, eskalieren Situationen. Es ist sehr anstrengend, immer darauf zu achten, „alles richtig“ zu machen. Ich habe oft Angst in sozialen Situationen.

    Ich musste auch erst lernen, dass diese Möglichkeit besteht. Seitdem ist sie ein guter Lackmus-Test, inwieweit Personen bereit sind, meine Form der Kommunikation zu akzeptieren. (Da ich jetzt weiß, dass die Person gerne pöbelt, kann ich entsprechendes Verhalten auch einordnen und reagieren – es halt also nur Klarheit gebracht. Sehr positiv.)

    Gleichzeitig entschuldigt sich die Person im Anschluss dafür, mich (und meine Form der Kommunikation) nicht bedacht zu haben. Das finde ich lieb, aber gleichzeitig ist das ein Anspruch, den ich weder an mich, noch an andere Menschen stelle. So wenig, wie ich die Bedürfnisse von neurotypischen Menschen automatisch in meine Kommunikation einbeziehen kann, so wenig erwarte ich von neurotypischen Menschen, dass sie mich in ihre einbeziehen.

    Betriebssysteme

    Wir laufen einfach auf komplett unterschiedlichen Betriebssystemen. Davon ist keins schlechter oder besser, aber sie funktionieren fundamental unterschiedlich. Das haben sogar Studien belegt. Wenn es eine Gruppe aus autistischen und eine Gruppe aus neurotypischen Menschen gibt, die „Stille Post“ spielen, ist das Ergebnis ungefähr gleich gut. Mischt man beide Gruppen, entsteht Wortsalat.

    Ich kann nicht nachvollziehen, wie Menschen Sarkasmus, Ironie, Witz oder auch versteckte Ernsthaftigkeit in Worten kommunizieren können, die für mich alle gleich klingen, während neurotypische Menschen nicht nachvollziehen können, dass für mich alles gleich klingt. Ein Gespür dafür zu haben, was „angemessen ist“, kenne ich nicht.

    Gleichzeitig kann ich verstehen, dass es „eben so ist“. Während die ableistische Gesellschaft, in der neurotypische Kommunikation die Norm ist, erwartet, dass ich „es eben kann“. Oder wenigstens so tue, als könnte ich es. Das Ergebnis: Die verletzten Gefühle neurotypischer Menschen und ein verwirrrtes, überfordertes Ich.

    Es ist also sogar eher ein Zeichen von guter, funktionierender Kommunikation, wenn ich euch „seltsam“ vorkomme – oder gar nachfrage. Ich vertraue dem Gruppengefüge ausreichend, um nicht maskieren zu müssen. Kann „ich“ sein und gleichzeitig sicher genug, dafür nicht bestraft oder ausgegrenzt zu werden. Ich erlebe aber immer wieder, dass „gute Kommunikation“ sehr viel Arbeit ist. Bestrafung von Menschen, die nicht ausreichend maskieren, ist einfacher.

    Ich kann Teil der Gruppe, der Kommunikation sein, ohne mich auf meine übliche Rolle – beispielsweise als professionell Awarenessperson – zu beschränken. Die einzig sichere Kommunikation habe ich, wenn ich eine feste Rolle übernehme. Das macht sehr einsam. Soziale Kontakte sind damit kaum möglich.

    Meine Rolle, meine Bühne

    Awarenessarbeit fällt mir leicht, weil es mehrere Punkte vereint, die mir helfen:

    1. Ich bin kein Teil des Geschehens. Von mir wird keine zwischenmenschliche Kommunikation erwartet, sondern eine beobachtende Position.
    2. Wenn ich benötigt werde, wenden sich Menschen an mich, um ein individuelles Problem zu lösen, das Teil einer strukturellen Problematik (Diskriminierung) ist.
    3. Menschen erwarten keinen Trost vom Awarenessteam, sondern Unterstützung und Hilfe. Somit werden auch Emotionen auf einer informativen Ebene übermittelt, statt zu erwarten, dass bekannt ist, was die betroffene Person braucht. (Einer der Gründe, warum ich gut darin bin: Ich nehme sehr viele Ebenen nicht wahr und kann deshalb die erhaltenen Informationen mit strukturellen Diskriminierungen vergleichen und entsprechend einordnen sowie Lösungen anbieten.)

    Wenn ich mich aus dieser begleitenden, beobachtenden Position herausbewege, ist das ein Zeichen dafür, dass ich mich in Gruppen wohlfühle. Gleichzeitig erhöht es das Risiko, dass ich Verhaltensweisen zeige, die neurotypische Menschen als „unpassend“ oder „seltsam“ wahrnehmen und ich im Anschluss nicht nur die Gruppe, sondern auch die offizielle Position als Awarenessperson verliere.

    Gute Kommunikation

    Deshalb bin ich durchaus vorsichtig, in welchen Gruppen ich mich sicher genug fühle, so aus mir herauszugehen, dass ich „die Maske absetze“, also nicht dauerhaft darauf achte, möglichst neurotypisch zu agieren.

    Ich brauche die Möglichkeit, meine Unsicherheit zu zeigen. Nachzufragen, ob ich es richtig verstanden habe. Dann muss ich gar nicht „mitgedacht“ werden. Ein gleichberechtiger Platz mit meiner Andersartigkeit umzugehen, reicht mir. Vor allem, weil ich mit Entschuldigungen, die ich als unlogisch (weil beispielsweise unmöglich) wahrnehme, ebenfalls nicht umgehen kann.

  • Erlernte Kommunikation – die Grammatik neurotypischer Interaktion

    Sei mal höflicher, sei respektvoll! Ich finde wirklich nicht gut, wie du hier mit Menschen umgehst.

    A.

    Wie?

    Ich.

    Jetzt wirst du auch noch passiv-aggressiv! Bist du denn gar nicht kritikfähig?!

    A.

    *verlässt die Gruppe*

    Ich.

    Eine – für mich – typische Situation, wenn ich (meiner Meinung nach) höflich Kritik geübt hatte. Oder auch nur in Situationen, die ich nicht genau verstanden hatte, nachfragte. Diese Situation findet sich vor allem in näherer Vergangenheit wieder. Meine erlernte Kommunikation ist offensichtlich auch nach über zwanzig Jahren noch nicht gut genug.

    Die Schulzeit dagegen war geprägt von Mobbing und Ausschlusserfahrungen. Weil ich „anders“ war und nicht verstanden habe, inwiefern sich meine Andersartigkeit bemerkbar macht. Ich war im besten Fall „seltsam“, im schlimmsten Fall wurde ich bestraft.

    Wenn sich dieses Verhalten nach jedem Schulwechsel, jedem Klassenwechsel wiederholt, dann lernt das betreffende Kind (in diesem Fall Ich), dass es definitiv nicht an den anderen Kindern liegen kann. Sonst würde der Wechsel ja helfen. Oder, um es mit einem beliebten Zitat meiner Mutter zu sagen:

    Im Radio kommt eine Durchsage über einen Geisterfahrer auf der A4. „Einer?! Hunderte!“

    Der Geisterfahrer.

    Der Witz ist hier, dass dem Geisterfahrer (also der Person, die auf der Autobahn in die falsche Richtung fährt), gar nicht bewusst ist, dass sie die Person ist, die sich falsch verhält. Und das auf alle anderen (die sich richtig verhalten) projiziert.

    Ich dagegen wusste früh: Es liegt an mir. Nur, was genau ich „falsch“ mache, das konnte mir nicht erklärt werden. Ich hatte das Gefühl, alle anderen Kinder (und mittlerweile Erwachsenen) hatten einen geheimen Lehrgang in Kommunikation. Aber ich fehlte dort. Meine erlernte Kommunikation ist also die Imitation eines intuitiven Vorgangs.

    Mittlerweile habe ich Worte dafür – und eine Erklärung.

    Während neurotypische Kinder in ihrer Sozialisation Zugang auf alle Ebenen der Kommunikation (emotionale Ebene, Beziehungsebene, Mimik und Gestik und Informationsebene) haben, bleibt (verbalen) autistischen Kindern ausschließlich die Informationsebene. Gleichzeitig ist diese ihre natürliche Art der Kommunikation. Somit fällt ihnen zunächst nicht auf, dass es bei anderen Kindern (und Erwachsenen) anders ist.

    Später fällt diese „Andersartigkeit“ dann jedoch auf. Doch weil neurotypische Kinder ihre Kommunikation als „natürlich“ empfinden (und ihn der Mehrheit sind), werden autistische Kinder als „anders“ gekennzeichnet.

    Das bedeutet, dass ich nichtautistische Kommunikation lernen musste. Wie eine Fremdsprache, deren Feinheiten sich mir nicht immer erschließen. In der ich niemals mit der gleichen Eloquenz ausgestattet werde, wie in meiner Erstsprache. Die ich jedoch mittlerweile meistens ausreichend beherrsche, um meine Fremdsprachigkeit zu maskieren.

    Der Weg dorthin war lang und schmerzhaft. Nichtautistische Menschen verstehen nicht, dass das, was ihnen intuitiv zufliegt (beispielsweise ein Verständnis davon zu haben, was „höflich“ und „respektvoll“ sein soll) für mich eine erlernte Verhaltensweise ist. Ich versuche, ihr zu entsprechen. Aber es gelingt nicht immer.

    Mein „Wie“ war also, wenn das auch in der Vorstellungskraft von Nichtautist_innen selten Raum findet, nicht passiv-aggressiv oder verletzend gemeint. Es war rein sachlich. Ich wollte wissen, was die andere Person von mir erwartet, um mein Verhalten entsprechend anpassen zu können. Das kam jedoch (wie häufig) nicht an.

    Und mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich mich nicht mehr „falsch“ fühle. Höchstens am falschen Ort und in der falschen Gruppe, aber nicht inhärent aus mir heraus.

    Es ist in Ordnung, anders zu kommunizieren als neurotypische Menschen. Es ist nicht per se schlecht; gerade in Kontexten, in denen es darauf ankommt, sachliche Zusammenhänge aus Kommunikation zu filtern. Dort habe immense Vorteile. Und auch viele Meetings, Treffen und Plena würden davon profitieren, wenn Menschen weniger auf der emotionalen Ebene und mehr auf der informativen Ebene kommunizieren. (Anstatt Gewaltfreie Kommunikation anzuwenden.)

    Gleichzeitig ist es auch in Ordnung, autistische Kommunikation nicht nachvollziehen zu können. (Ich kann es bei neurotypischer Kommunikation, auch wenn ich gelernt habe, sie nachzuahmen, schließlich auch nicht.) Wichtig ist, dass Raum gelassen wird, es zu erklären, anstatt die eigenen Erwartungen auf eine Leinwand zu projiziere. Diese besteht ärgerlicherweise nicht aus Stoff, sondern aus organischem, menschlichem, fühlendem Material.

    Darüber, wie gute erlernte Kommunikation zwischen neurotypischen Menschen und Autist_innen (vor allem in Gruppen) funktioniert, könnt ihr hier nachlesen. Wenn alle Beteiligten aufeinander zugehen und Kommunikation lernen, gewinnen auch alle davon!

  • Weihnachten und Autismus – oh, du Scheußliche

    Ich habe Angst. Ich muss lächeln. Freude. Da muss Freude da sein. Papa filmt. Ich darf nicht auffallen. Ich packe das Geschenk aus. Es ist Bettwäsche. Ich lächele. Ich freue mich. Ist das so richtig? Ich FREUE mich. Es ist Weihnachten.

    Gedanken an Weihnachen. Ich bin ungefähr sieben Jahre alt.
    Falls du dir den Blogpost lieber anhörst, als ihn zu lesen.

    Weihnachten. Fest der Liebe, des Beisammenseins, des Krippenspiels. Ich mochte das Krippenspiel, ich hab jahrelang mitgespielt. Mir fiel und fällt es leicht, Texte zu lernen, sie auswendig vorzutragen. Und Emotionen und Schauspieltalent verlangt ein Krippenspiel meist nicht.

    Danach ging es nach Hause. Es gab zuerst Abendbrot und dann die Bescherung. Ich habe immer ein bisschen Angst davor. Denn ich weiß, dass Freude erwartet wird. Kenne auch die Vorwürfe, man „könne es mir nicht recht machen“. Ich weiß, dass ich „Danke“ sagen muss, aber nur „Danke“ reicht nicht.

    Ich muss auch irgendwas mit meinem Gesicht machen. So einen Eindruck darauf hinterlassen, der richtig interpretiert wird. Ich scheitere – alle Jahre wieder. Meine Eltern und meine Großeltern sind unzufrieden. Denn ich zerstöre das Weihnachtsfest. Strahle die „falsche Stimmung“ aus.

    Ich weiß nicht, was ich verkehrt mache. Also sehe ich mir Videos an. Lerne, welchen Gesichtsausdruck Kinder in Weihnachtsfilmen haben. Ich lerne, welchen Gesichtsausdruck Kinder haben, die Geschenke bekommen. Ich lerne, überschäumende Freude und Dankbarkeit darzustellen, Menschen zu umarmen, zu küssen, mich zu freuen.

    Es ist irrelevant, was es für Geschenke sind. Meistens sind es Bettwäsche, Socken oder Unterwäsche. Aber darum geht es ja auch nicht. Sondern es geht darum, dass ich zeige, dass ich mich freue. Das ich das „richtige Gefühl“ vermittele. (Außerdem mag ich praktische Geschenke. Sie haben einen Nutzen und sollen nicht nur hübsch aussehen.)

    So, wie es von mir erwartet wird.

    Gelobt werde ich dafür, wenn ich Geschenke so auspacke, dass das Geschenkpapier wiederverwendet werden kann. Und ich bin sehr sorgfältig. Reiße keine Geschenke auf wie meine Schwester, sondern ich fummele die Klebestreifen vorsichtig ab. Ich bin immer sehr stolz auf mich, wenn ich es schaffe, sie zu lösen, ohne das Papier einzureißen oder den Aufdruck abzulösen.

    Ich würde dafür auch ein Messer benutzen, wenn ich dürfte.

    Aber ich darf nicht, Messer sind zu gefährlich. Ich lächele. Hauptsache, die „richtige Stimmung“ ausstrahlen. Mein Gesicht ist heiß, ich ich habe Kopfschmerzen. Aber die Stimmung, die Stimmung! Bloß nichts falsch machen, nichts ruinieren.

    Heute fahre ich nicht mehr zu meinen Eltern. Ich verbringe Weihnachten mit Menschen, bei denen ich nicht maskieren muss. Hier darf ich mich über Geschenke im Stillen freuen, wie ich möchte. Muss mich nicht schlecht fühlen, wenn mich „Schenken“ und „beschenkt werden“ überfordert.

    Ich bin in einem zu Hause angekommen, das mich akzeptiert.

    Aber ich weiß, dass es für meine Eltern nicht einfach war. Sie wussten nichts mit mir anzufangen, ich konnte mich nicht verständlich machen. Sie haben ihr Bestes gegeben – ohne zu wissen, was mit mir „nicht in Ordnung“ war. Ich war jahrelang in Therapie, ohne, dass es erkannt worden ist – ich mache ihnen keinen Vorwurf. Ich schreibe nur für die Autist_innen (und Eltern autistischer Kinder und Partner_innen autistischer Erwachsener), die sich in der gleichen Situation wiederfinden wie ich heute.

  • Autismus, Baby!

    Frisch diagnostiziert sitze ich bei meiner Therapeutin. Sie hat keine Expertise bezüglich Autismus, sagt sie selbst. Sie weiß, dass es das gibt und wie die Diagnoseverfahren grob laufen – mehr nicht.
    Zuerst erklärt sie mir, dass sie bezweifelt, dass ich Autismus habe. Bei ihr wirke ich erst so, wie es im Gutachten steht, seitdem es im Gutachten steht.


    Ich denke mir: „Ja, weil ich jetzt die medizinische Erlaubnis habe, nicht immer angepasst sein zu müssen. Weil es jetzt okay ist, das ich krasse Überforderungen auch einfach nicht tue. Wie beispielsweise, Ihnen in die Augen sehen zu müssen.“ Aber als ich das sage, wirkt sie nicht überzeugt. Aber sie hat mir auch nicht geglaubt, dass ich trans bin oder eine HRT haben darf. Das hat ihr „Bauchschmerzen“ bereitet.

    Vermeidung

    Ich sitze verkrampft da. Ich sitze eigentlich immer im Gespräch verkrampft da. Ab und zu sagt sie mir, ich solle aufrecht sitzen. Ich richte mich dann auf. Stimmen ist auch verboten, weil Stimming würde bedeuten, dass ich das „innere Kind“ alleine lasse. Ich versuche also, unauffällig zu stimmen, aber ich darf mich dabei nicht erwischen lassen. Zum Glück erkennt sie viele Stimmingmethoden nicht. (Nicht behandeltes Stimming bei Autismus kann zu chronischen Schmerzen führen, weil beispielsweise auf Zähneknirschen oder Muskelverkrampfungen ausgewichen wird.)

    Es ist Schematherapie, ich muss mich also in die verschiedenen Modi begeben. Es gibt Elternmodi (die sind abwertend oder verlangen zu viel in Bezug auf (emotionale) Leistung), Bewältigungsmodi (Vermeidung, Unterwerfung, Überkompensation) und Kindmodi (wütendes, glückliches, verletzliches, impulsives Kind). Und ein sogenanntes „gesundes Erwachsenes“, das einerseits alles koordinieren soll, andererseits sich um den Modus des verletzlichen Kindes kümmern soll.

    „In die Modi begeben“ heißt Rollenspiele. Ich muss dieser Modus sein. Gleichzeitig darf ich nicht von den Modi als unterschiedliche, sich austauschende Persönlichkeiten denken, ich darf nicht von „wir“ sprechen. Warum? Keine Ahnung. Weil die Therapeutin sagt, dass das falsch ist.

    Überforderung

    Wenn ich Dinge nicht verstehe (und ich verstehe viele Dinge nicht), darf ich nicht nachfragen, weil kognitives Verständnis Teil der Vermeidung ist. Sagt meine Therapeutin.
    (Es ist auch die Art, wie Autismus sich äußert, aber das darf ich nicht sagen.)
    Sie versteht mich häufig nicht, wenn ich versuche, mit ihr zu kommunizieren. Da sind Worte und ich weiß, dass ich mit diesen Worten etwas wichtiges aussagen möchte, aber es kommt nicht an. Und wenn ich darüber verzweifele, dass ich mich nicht verständlich machen kann, dann sagt sie, es wäre eine wütender Modus. Oder Vermeidung.

    Die Depression könnte eine organische Krankheit sein, die organische Auswirkungen hat. Oder eine psychische Krankheit, die organische Auswirkungen hat. Oder eine „Strategie eines Bewältigungsmodus“, die organische Auswirkungen hat. Die organischen Auswirkungen sind da, die merke ich. Aber sie hat gesagt, dass die Bewältigungsmodi dazu da sind, das „innere Kind“ zu schützen. Die Depression (zumindest die organischen Auswirkungen wie Müdigkeit, Überempfindlichkeit, Geräuschempfindlichkeit, Schmerzen) sind aber doch kein Schutz? Das passt nicht. Das fühlt sich bis auf die Knochen verschoben und falsch an. Oder sind es keine depressiven Symptome? Ist es Autismus? Ich bin verwirrt.

    Overload

    Manchmal versuche ich, eine eindeutige Antwort zu bekommen. Ich bettele um eine Antwort. Ich verstehe das nicht. Sie sagt, ich solle nicht wütend sein. Das wäre Vermeidung. Ich sitze doch im Modus des gesunden Erwachsenen, der wäre aber zu wenig da. Ich solle den gesunden Erwachsenen verkörpern. Das würde ich aber nicht tun.

    Ich bin aber nicht wütend, ich versuche, ihr wichtige Dinge zu erklären. Aber „Dinge erklären“ ist Vermeidung, sagt sie. Ich weiß nicht, wie ich etwas richtig machen soll, wenn ich es nicht verstehe. Aber ich bekomme keine Bedienungsanleitung oder Handlungsanweisungen. Ich soll sie mir selbst erarbeiten, aber ich weiß nicht, wie.
    Ich kann doch nur Dinge aufschreiben, die ich bereits erfahren oder erkannt habe.
    Aber sie sagt, ich muss das selbst entwickeln. Beispielsweise, was eine „gesunde Beziehung“ ist. Aber ich kann das nicht, weil jedes Beispiel einer gesunden Beziehung auch Zeichen einer toxischen Beziehung sein könnte und es da keine klare Trennlinie gibt. Wie soll ich  Beispiele sammeln, wenn es keine klare Trennlinie gibt?

    Shutdown

    Ich sage ihr das. Sie sagt, sie wird sich nicht auf die Strategie der Vermeidung einlassen. Ich fange an zu wippen. Sie sagt, ich muss damit aufhören, ich würde das „innere Kind“ alleine lassen. Redet immer weiter. Wird immer lauter in meinen Ohren. Ich wippe stärker. Sie sagt, ich soll aufstehen und den Stuhl wechseln. Ich bettele, dass sie den Mund hält, ich kann nicht mehr. Ja, ich weiß, dass ich nicht wippen darf, aber ich kann nicht aufhören. Ich falle auseinander. Ich brauche das Wippen gerade. Sie hält den Mund. Ich kann ein bisschen atmen. Setze mich auf anderen Stuhl. Benutze mein StimToy zum stimmen.

    Sie erkennt das StimToy nicht als StimToy. Ich habe aufgehört zu wippen. Habe mich brav an ihre Aufgaben gehalten. Sie gibt mir eine Aufgabe. Ich merke, dass ich wegdrifte. Kann nicht mehr sprechen. Ich nehme mein Handy. Nehme meine Tasche. Ich gehe. Bin ein kleiner Ball, innen eingerollt in mich. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich weiß, dass sich meine Menschen darum kümmern werden, dass ich nach Hause komme.
    Shutdown.

  • Krümel und Kuchen

    WIR WOLLEN KEIN STÜCK VOM KUCHEN, WIR WOLLEN DIE GANZE BÄCKEREI!

    Einer der beliebtesten Demosprüche vor allem feministischer Demonstrationen. Er signalisiert, dass die Betroffenen durchaus sehen, dass ihnen zwar ein bisschen gleichberechtigter entgegengekommen werden soll, aber sie eben nur ein Stückchen abhaben sollen, obwohl es grundsätzlich um eine gleichberechtigte Teilhabe geht, um ein selbstbestimmtes Leben, ohne Kapitalismus, ohne Patriarchat. Eben um die ganze Bäckerei.

    Ich war Teil dieser Demonstrationen. Ich war acht Jahre Feministin, bevor ich erkannte, dass ich Feminist_in bin. Das ich zwar sehr lange für eine Frau gehalten wurde, aber keine Frau bin – sondern nichtbinär, genderfluid. Ich hab meinen offiziellen Namen, meinen Personenstand und meine Anrede ändern lassen und eine Hormonersatztherapie begonnen.

    Ich wusste, es würde Änderungen bedeuten. Ich wusste, es würde Menschen irritieren und bereits der Weg hin zu den rechtlichen Änderungen gab mir einen Vorgeschmack dessen, was meine bloße Existenz mit der Gesellschaft machte – sie irritieren, verunsichern und viel zu oft war die Reaktion mehr oder minder gut versteckte Aggression.

    Was ich nicht erwartet hatte, war, wie viel Einfluss es auf meine feministische Arbeit haben würde. Ich war plötzlich nicht mehr gleichberechtigt in feministischen Kämpfen, sondern „nur noch“ trans. Mir wurde – und wird – das Recht abgesprochen, Teil vom 08. März sein zu dürfen, da ich ja nicht die gleichen Diskriminierungen erfahren würde wie Frauen.
    Teilweise wurde ich aus Gruppen ausgeschlossen, da die Quotierung nur für Frauen galt und meine Anwesenheit eine cis-männliche-Dominanz bedeutet hätte.
    Mein Körper wird vereinnahmt, wenn es um (ungewollte) Schwangerschaften geht, während meine intellektuellen Beiträge ausgeklammert werden, da diese ja nur trans Personen betreffen würden und für den feministischen Diskurs keinen Mehrwert hätten.

    Auf der nächsten „Marx ist Muss“ wird es Veranstaltungen geben, die sich zum Schwerpunkt gemacht haben, trans Kämpfe und Frauenkämpfe zusammenführen zu wollen – ohne daran zu denken, dass trans Frauen eigentlich schon zu den Frauenkämpfen gehören sollten und trans Männer mehr Erfahrungen mit den Themen der Frauenkämpfe haben, als allen eigentlich lieb ist. Es wird Transfeindlichkeit reproduziert, um sich im Anschluss solidarisch mit trans Personen (die Originalformulierung ist leider transfeindlich) zeigen zu können. Ein Stück vom Kuchen? Nein, ausschließlich Krümel.

    Ich weiß, wie sich feministische Kämpfe anfühlen, die mich einschließen. Ich weiß, wie sich feministische Solidarität, Solidarität unter Frauen anfühlt. Habe ich die mir erschlichen, sie heimlich ausgesaugt, wie mir so oft unterstellt wird, weil ich zu dem Zeitpunkt noch keine Worte hatte für mein Empfinden? Ist es nur gerecht, dass ich ausgeschlossen werde, schließlich habe ich durch meine Existenz keine Solidarität, zumindest keine selbstverständliche, verdient?
    Vor drei Jahren war der 08. März noch mein Tag, dieses Jahr wurde mir gesagt, er wäre nur für Frauen, ich solle mich verziehen, schweigen, solidarisch mit Frauen sein.
    Während mir keine Solidarität entgegengebracht wird, immerhin hätte ich mich ja selbst dazu entschieden, mich zu outen und müsste jetzt mit den Konsequenzen leben. Das klingt, als wäre Feminismus, dieser Femicismus, eine Gemeinschaft, aus der ich freiwillig ausgetreten wäre und nun die gerechte Strafe dafür erhielte, keine Frau zu sein.
    Ich wäre ja Teil der Transkämpfe, so als trans Person. Und natürlich müsste der Feminismus auch solidarisch mit den Kämpfen von trans Personen sein, so sei das ja nicht. Aber gleichberechtigt seien diese Kämpfe nicht. Trans Männer und nichtbinäre Personen haben am FrauenKampfTag solidarisch zu sein, um dann am NonbinaryDay alleine zu stehen.
    Oder könnt ihr mir sagen, wann NonbinaryDay ist? Könnt ihr euch auch an die großartige Solidarität, das Pushen des Tages und den eigenen Hashtag auf Twitter mit süßem Bildchen dahinter erinnern? Nein? Ich auch nicht, es hat nämlich nie stattgefunden.

    Sozialisation ist komplizierter, als cis Geschlechterdenken es uns glauben macht. Sie ist nicht nur von außen oder von innen heraus zu betrachten. Trans Frauen zu unterstellen, sie wären ausschließlich männlich sozialisiert worden, ist genauso falsch, wie trans Männern zu signalisieren, sie hätten absolut keine Ahnung, wie es sei, als Frau gelesen zu werden.

    Ich hatte den Kuchen, nun bekomme ich Krümel zugeworfen und habe dafür dankbar zu sein.

    ICH WILL KEIN STÜCK VOM KUCHEN, ICH WILL NICHT EURE KRÜMEL, ICH WILL DIE GANZE BÄCKEREI!

    Dankeschön.
    (Internationaler Tag der Nichtbinarität ist übrigens am 14. Juli, falls ihr Lust habt, dieses Jahr mal solidarisch zu sein.)

  • Risikogruppe und Eisblumen

    Unsichtbar.
    Das Leben findet in den eigenen vier Wänden statt, der Biedermeier des letzten Jahrhunderts erlebt eine Renaissance dieser Tage. Risikogruppe bleibt zu Hause. Mehr oder weniger freiwillig.

    Doch nicht die Müdigkeit der bürgerlichen Politik hat die Menschen in die Häuslichkeit getrieben, nicht der Rückzug ins Private hat den Starter für Sauerteigkulturen und DIY-Nähprojekte gelegt.
    Ein Virus geht um in Europa, das Virus SARS-Covid­19, neuartig, unerforscht, höchst ansteckend und wenn auch nicht im gleichen Maße tödlich, so doch mit Spätfolgen zu rechnend.

    Home Office

    Wer Glück, Privilegien und eine sichere Einkommensquelle hat, der lebt gut in dieser Zeit, arbeitend von zu Hause aus, das Brot kommt frisch und heiß aus dem heimischen Ofen und auf dem Balkon kann man es sich endlich gemütlich machen, während die Kolleg_innen neiderfüllt auf die eigene Gemütlichkeit schielen, während fleißig Meetings über Videoplattformen stattfinden.

    Ich atme ein.

    Knochenmüde

    Schwere legt sich auf mich, Müdigkeit umfängt mich. Ich fühle mich, als würde jeder Lebenswille, alle Energie aus mir heraus laufen. Knochenmüde, so nenne ich diesen Zustand. Müdigkeit, die in den Knochen sitzt, aus den Knochen kommt.

    Nichts hilft, es bleibt nur ausharren, ob heute nochmal Energie zurückkommt oder mein Tag dann schon vorbei ist. Wann? Dann. Das kann um drei sein, um fünf oder morgens um elf.

    Ich habe gelernt, damit umzugehen. Habe gelernt, von einem nicht beeinflussbaren, unbekannten Energiezustand auszugehen, der zu den ärgerlichsten Zeiten verbraucht sein kann.

    Ich war seit Wochen nur noch draußen, um medizinisch notwendige Termine wahrzunehmen. Habe seit Wochen keine Menschen mehr gesehen, die nicht hier wohnen.

    Lockerungen

    Ich sehe, wie die Lockerungen kommen. Sehe, wie immer mehr Menschen sich treffen wollen, ein Sozialleben.
    Ich bin Risikogruppe.

    Es passiert, was mir Angst machte: Das Leben geht weiter. Ich hab ein Fenster zur Straße, ein Fenster zum Hof, einen Zugang zum Leben, durch eine Glasscheibe hindurch. Plexiglasscheiben zum Schutz der Risikogruppe.

    Ich bleibe hier sitzen, wie eingefroren. Bis heute war das Leben aller Menschen ähnlich eingefroren, nun tauen sie auf.

    Werden sie sich erinnern, dass ich da bin? Eingefroren, die Eisblumen am Fenster bewundernd.

    Eisblumen

    Wenn das hier vorbei ist – für mich, nicht nur für sie, für die Gesunden, die JungenUndGesunden, die, die auftauen sich leisten können – werden dann noch Menschen übrig bleiben, die sich daran erinnern, dass ich mal Teil ihres Lebens war?

    Oder wird die Welt sich weitergedreht haben, zu einem „Ach ja, die Person habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, was es wohl macht?“, zu einem Bild im Gedächtnis einer Person, zu Sepia verblasst, weil keine Technicolor die Erinnerungen auffrischte. Wird das Internet, die Verschriftlichung reichen, um Kontakte aufrecht zu erhalten, um dabei sein zu können?

    Wenn die Konzerte wieder stattfinden können, Menschen auf Festivals fahren, sich gemeinsam treffen und Freund_innenschaft in Cafés und Kneipen zelebrieren, werde ich dann zu Hause sitzen, die Eisblumen am Fenster bewundern und innerlich schreien, weil das Leben weiterläuft und ich nicht auftauen darf?

    Solidarität ist eine Waffe. Sie schneidet zweischneidig.

  • Solidarität und Druck

    Solidarität muss praktisch werden!
    Hoch! Die! Inter/Antinationale! Solidarität!
    Solidarität ist eine Waffe und wir wissen ganz genau, wie man sie gebraucht!

    Menschen helfen einander, nicht, weil sie es müssen oder aus kapitalistischen Gründen, sondern, weil sie es wollen.

    Eine Person braucht Hilfe, die andere Person gibt Hilfe. Grundprinzip der meisten linken Strömungen, ob Kommunismus oder Anarchismus.
    Strukturell gesehen eine große Gefahr für den Kapitalismus. Denn funktionierende soziale Netze, die ohne Wachstums- und/oder Gewinnabsicht auskommen, machen dieses Wirtschaftssystem grundsätzlich überflüssig. Globale Solidarität ist das Gegenteil von Ausbeutung und neoliberalen Zwängen.

    Eine großartige Theorie, die ich sehr schätze. Ich spreche oft in Vorträgen über Solidarität, solidarisches Miteinander und gemeinsames Schaffen des „Guten Leben für Alle“. Aber dann fällt mir wieder auf, dass vor allem die Perspektive jener in den Fokus rückt, die „solidarisch geben“.
    In Zeiten einer weltweiten Pandemie sind das jene, die für andere Menschen einkaufen gehen. Die Risikogruppen unterstützen. Menschen von A nach B fahren, damit diese nicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Gefahr ausgesetzt sind, sich anzustecken.
    Es sind Menschen, die ihr eigenes Sozialleben zurückschrauben, um andere Menschen zu unterstützen/nicht zu gefährden.

    Es wird als selbstverständlich dargestellt diese Solidarität zu bekommen – und das sollte es auch sein.

    Neoliberale Sozialisation

    Dennoch sind wir alle in einer Gesellschaft sozialisiert worden, die „Schwäche“ ablehnt und den neoliberalen Anspruch des „eigenen Glückes Schmied“ als einzige Möglichkeit vertritt. Solidarität ist verpönt und das spüren vor allem Menschen, die auf Solidarität angewiesen sind.

    Es ist solidarisch, die Musik leiser zu drehen, wenn die Nachbarn aufgrund der Vibration nicht schlafen können.
    Aber die Person, die nicht schlafen kann, fühlt sich möglicherweise als Belastung. Weil sie nie gelernt hat, dass ihre Bedürfnisse valide sind.

    Es ist solidarisch, die Risikogruppen nicht noch größerem Risiko auszusetzen.
    Aber die Person mit Asthma, die gerade Demos von zu Hause aus verfolgt, fühlt sich womöglich „nicht ausreichend“ oder „nicht links genug“.

    Solidarität und Hürden

    Es ist solidarisch, gemeinsam zu überlegen, wie wir Armut in unserer Peer Group kommunizieren und bekämpfen können.
    Aber die Person, welche die meisten Gaben und Unterstützungen erhält, hat vielleicht das Gefühl „nicht genug geben zu können“ und  ihr Umfeld „auszunutzen“.

    Solidarität und mildtätige Gaben christlicher Konfessionen hängen geschichtlich eng zusammen. Sowohl die „Armenspeisung“ als auch die heutigen Tafeln sind ein Zeichen dafür. Staatliches Versagen und kapitalistische Ausbeutung werden durch die Schaffung eines mildtätigen Netzes ausgeglichen, woraufhin der Staat auf eben jenes Netz verweist. Anstatt selbst in die Pflicht genommen werden zu müssen (oder gar abgeschafft).

    Solidarität wirkt der Verelendungstheorie entgegen, schafft Netze und hilft Personen. Dennoch bleibt die Frage im Raum, wie wir Menschen die Sicherheit geben können, nichts zurückgeben zu müssen?
    Arbeit gleichberechtigt zu bewerten, anstatt von allen das gleiche zu fordern?

    Jedes nach dessen Bedürfnissen, jedes nach dessen Fähigkeiten und Solidarität muss praktisch werden. Wie können wir dies in den Köpfen der eigenen Szene verankern? Was können wir einem linken Imposter Syndrom und dem kapitalistischen Selbstanspruch entgegen setzen?

    Schreibt mir auf Twitter, wenn ihr praktische Ideen habt, ich habe nur Fragen.

  • „Baby Butch“ von Lou Conradi – Rezension

    Ich habe gelesen. Ich habe am Wochenende dieses Buch auf den Tisch geschoben bekommen. Von einer Person, die ich bewundere und schätze. Für seinen Mut, für seine politische Arbeit, für seine Widerständigkeit. Für seine Zärtlichkeit, passende Namen zu geben.
    Das war am Sonntag, heute ist Dienstag. Ich habe gelesen, ich habe dieses Buch gelesen, verschlungen, es kratzte auf dem Knochen und ging unter die Haut. Ich bin fertig geworden, ich habe es zur Seite gelegt. Neben den Laptop, neben mir schnurrt eine Katze, ansonsten ist es still. Nur meine Finger klackern auf der Tastatur, während ich schreibe. Das Buch heißt „Baby Butch“ und es ist beeindruckend.

    Inhalt

    Die Geschichte ist schnell zusammengefasst, ich zitiere den Klappentext, um nicht zu spoilern:
    Was hat das Einhorn mit der Jungfrau Maria zu tun und Feminismus mit Waffenexporten? Gibt es die unbefleckte Empfängnis wirklich, hilft BDSM gegen Polizeigewalt und was können trans Menschen erwidern, wenn sie mal wieder gefragt werden: „Was bist du?“
    Spätsommer 2015, Berlin.
    Während in Heidenau und Freital rassistische Mobs Geflüchtete angreifen, planen Steph, eine linksradikale Baby Butch, und Maria, eine kommunistische trans Frau, zusammen ein Kind zu bekommen. Mit Erfolg: Steph ist schwanger! Was als alternative Familiengründung geplant war, ist jedoch schnell ein Chaos aus Beziehungsgeflechten und Existenzängsten. Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Transition und Wohnungslosigkeit versucht eine Gruppe junger, impulsiver Queers, Kontrolle über ihr Leben zu behalten, während um sie herum die politische Lage längst außer Kontrolle geraten ist.
    Erschienen ist es November 2019, Edition Assemblage.

    Emotionen

    Linke Zerrissenheit, die Gratwanderung zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen, Überforderungen und Kommunikationsverhalten. Scheiße sein – ohne es zu wollen, es trotzdem zu dürfen, geliebt zu werden und von Schuldgefühlen zerfressen. Politische Diskussionen, die unter die Haut gehen und zwischen die Beine treffen. Verzweiflung an Sonntagen und das Bedürfnis, die Welt sofort verändern zu wollen; Resignation und Ausgebrannt sein.
    Wer sich in diesen Konstrukten wiederfindet, sollte dieses Buch lesen.

    Die Charaktere sind nicht (nur) nett zueinander, sie sind menschlich, sie sind politisch, sie ziehen Grenzen. Trösten sich nicht, wenn es nur um Befindlichkeiten, eigene Privilegien geht. Das kann hart sein zu lesen, weil es wehtut, weil es der Protagonist_in damit im ersten Moment nicht gut geht. Aber es ist gleichzeitig ein Punkt, an dem sowohl die Reflektion von Lesenden, als auch der Protagonist_in angestoßen wird. Ohne, dass diese Trostlosigkeit, bewusste Empathielosigkeit die Beziehung der Protagonist_innen (zer)stört. Es ist keine heile Wohlfühlwelt, es ist die unsrige.

    schmerzhaft realistisch

    Eine Welt, in der Polizeigewalt und Rassismus eine Rolle spielen. Personen sich aufgrund von Sozialisierung und Privilegien so richtig scheiße verhalten können – und dennoch versuchen, das richtige zu tun. Es geht um Dysphorie und Unsicherheit, darum, welche Begriffe für welche Person passen.
    Ob sie passend gemacht werden können. Ob sie uns überhaupt zustehen oder wir damit anderen etwas wegnehmen.

    Es geht nicht darum, eine Lösung zu finden. Lou Conradi wirft Fragen auf, ohne selbst die Antworten geben zu können. Er gibt nur einen Ausblick auf mögliche Lösungen, aber er gibt kein Patent.
    Romane sind auch nicht dazu gemacht, Patente zu vergeben. Gleichzeitig ist dieser hier so nah an meiner Realität, dass ich unbewusst doch nach möglichen Ideen für ein besseres Wir suche.
    Ich zumindest habe es getan. Und war schlussendlich erleichtert, als mir keine einfache Lösung präsentiert wurde.

    „Es gibt kein richtiges im Falschen“, sagte einst Adorno, als er die Möblierung seiner Zeit kritisierte – auf der Metaebene bestimmt noch mehr, aber das würde zu weit führen. Ein geflügeltes Wort der Szene, ironisch und unironisch verwendet, zu allem passend (ungefähr so wie Salz – oder Pommes. Ja, sie schmecken auch mit Ahornsirup.)

    Fazit

    „Baby Butch“ zeigt eindringlich und dabei nicht abgehoben, intensiv und doch nicht wehleidig, wie richtig dieser Ausspruch immer noch ist. Vor allem, wenn es um trans Themen geht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen Geschlecht. In dem, das mir zugeschrieben wurde. Gleichzeitig bleibt die Frage, ob denn „das falsche Geschlecht“ zu sagen, mir überhaupt zusteht. Ob es denn nicht andere Personen gibt, denen es noch schlechter geht. Die große Frage der meisten Eier (ungeschlüpfte trans Person), die ich on- und offline getroffen habe. Auch euch möchte ich dieses Buch ans Herz legen. Ich möchte es allen trans Geschwistern und allen verzweifelten Queers der linken Szene geben.

    Ich möchte mit euch einen Kuschelhaufen bilden und gemeinsam verzweifeln, während wir das „Gute Leben für Alle“ erreichen wollen.

    P.S.: Wenn sich das eigene Geschlecht nicht richtig (auf welche Art auch immer) anfühlt, ist es wahrscheinlich nicht das richtige.

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