Schlagwort: Psychiatriekritk

  • Trans und Autist_in – ein Spagat zwischen zwei Welten.

    Stell dich nicht so an, du willst doch Toleranz.

    Twitter (anonymisiert)

    Ich brauche den Unterstrich zwischen Autist und _in, um mich repräsentiert zu fühlen. Ich bin nicht nur Autist oder Autistin, ich bin nichtbinär – und Autist_in.

    Ich habe mein Leben lang (gut, seitdem ich fünf Jahre alt war) mit unterschiedlichen Diagnosen gelebt. AD(H)S war dabei, Borderline, histrionische Persönlichkeitsstörung, Depression – letztere ist mir geblieben, alles andere wurde mehr oder weniger ausprobiert und als unpassend verworfen. Das AD(H)S erst, als auch der zweite Versuch mit einem Ritalinpräparat gnadenlos und grandios schief ging.

    Die Therapeutin, bei der ich war, um meine Transgeschlechtlichkeit pathologisieren zu lassen (und die das sehr wohlmeinend und umsichtig getan hat), hat mir außerdem Fragebögen mitgegeben zu Auffälligkeiten, die ihr ebenfalls aufgefallen waren. Dabei: ein Fragebogen zu Essstörungen (das war mir bekannt, dass ich damit Probleme habe) und ein Fragebogen zu Autismus (das war neu).

    Der letzte Fragebogen brachte dann den sprichwörtlichen Stein ins Rollen – ich überschritt die Grenzwerte so deutlich, dass sie mir eine Diagnostik bei einem Autismus-Spezialisten nahelegte. Schlussendlich suchte ich einen auf. Noch mehr Fragebögen.

    Fragebögen, deren Fragen für mich so formuliert waren, dass ich mehrmals schreiend auf dem Sessel saß, voll Verzweiflung, weil sie keine passende Antwortmöglichkeit boten, weil sie nicht nachvollziebar waren, nicht logisch genug. („Sind Sie nachtragend?“ – Ich weiß es nicht. Was meint die fragenstellende Person mit „nachtragend“? Ab wann ist ein Verhalten „nachtragend“? Bis wann ist es angemessen, Menschen ihre Taten vorzuhalten? – ein Beispiel von vielen, jedoch eines, das mir als besonders schwierig in Erinnerung geblieben ist.)

    Außerdem persönliche Interviews, es wurde mit mir gesprochen, mit meinem Vater, die Kindheit wurde komplett aufgerollt, meine Mobbingerfahrungen, die Menge von Freund_innen, mein Sexual- und Beziehungsleben. ich musste zeigen, wie ich mir die Zähne putze, das beschreiben, Comics beschreiben und Puzzles lösen. Am Ende blieb ein Gutachten, das Asperger-Syndrom bescheinigt – kurz: Autismus.

    Jetzt hatte ich einen Namen für das, was mich „anders“ machte. Ich verstand, warum ich mich in den meisten Gruppen und bei Gruppenarbeiten schnell unbeliebt machte, warum ich dissoziierte, wenn ich ohne Kopfhörer draußen unterwegs war, warum ich so dringend Routinen in meinem Leben brauchte. Gleichzeitig nahm ich Testosteron, änderte meinen Personenstand und meinen Vornamen, wurde zu MIR.

    Ich sah Bilder von mir, als ich Kind und Jugendliches war, ich sah, dass ich nicht in das erwartete Geschlecht passte, ich performte es nicht. Ich erinnerte mich, wie ich gesellschaftliche Konventionen, Smalltalk und „typisch dörfliche“ Höflichkeit (die ich eher als übergriffig empfand) nie verstanden hatte – oder gar selbst darstellen konnte.

    Ich hatte Worte gefunden. Worte, die mich zu mir machten.

    Gleichzeitig las ich Bücher über Autismus, die das Thema „trans“ nie auch nur anschnitten und Bücher über Transgeschlechtlichkeit, in denen Autismus nicht vorkam.

    Ich war nicht vorgesehen und jedes Mal fehlte von mir ein Stück, das aber gleichzeitig inhärent wichtig war, um meine Weltsicht darzustellen.
    Neurotypische trans Personen erleben die Welt anders als ich – und cis AutistInnen ebenfalls.

    Selbsthilfegruppen für AutistInnen waren transfeindlich – absichtlich oder unabsichtlich oder wollten sich gar nicht mit dem Thema befassen. Nachdem ich zu oft misgendert wurde oder nach meinen Genitalien ausgefragt, ging ich nicht mehr hin.

    Gruppen für trans Personen waren offener, gleichzeitig wurde oft und viel auf einer emotionalen Ebene kommuniziert, zu der ich keinen Zugang habe. Dadurch kam es vor, dass ich Menschen verletzt habe, ohne es zu wollen, weil ich nicht kommunizieren konnte, ohne missverstanden zu werden – ein Problem, das viele Autist_innen ebenfalls kennen.

    Ich lese vermehrt, dass sich autistische Kinder und Jugendliche für trans halten würden, um Anschluss zu finden, um Zugang zu Hilfe zu erhalten und „vorschnelle, lebensverändernde Maßnahmen“ ergreifen würden. Gleichzeitig wäre es tragisch, dass diese Kinder „nur noch“ eine trans-Sichtweise kennenlernen würden. Das macht mich fassungslos. Ich weiß nicht, in welcher Welt diese Menschen leben, aber ein als AutistIn diagnostiziertes Kind wird höchstwahrscheinlich nicht in einer Welt aufwachsen, in der Transgeschlechtlichkeit der „übliche“ Lebensweg ist.

    Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die trans Community nicht unbedingt ein rosafarbener, fluffiger Raum voll Liebe und Zuneigung ist – und als neurodiverse Person macht 1 sich auch nicht unbedingt Freund_innen, wenn grundsätzliche Ebenen der Kommunikation nicht betreten werden können. Warum sollte also der Rückhalt einer autistischen peer group verlassen werden, um eine trans Gruppe zu finden, in der eine Person im Zweifel unerwünscht und unglücklich ist – wenn die Person cis ist?

    Trans zu sein, ist kein Zuckerschlecken und um „lebensverändernde“ Maßnahmen zu ergreifen, stehen Psycholog_innen, Mediziner_innen, geltendes Medizinrecht (Operationen frühestens mit der Volljährigkeit) und eine argwöhnische Gesellschaft dem gegenüber.

    Es ist anstrengend, misgendert zu werden, sich selbst einen Platz suchen zu müssen, öffentliche Toiletten nicht benutzen zu können. Das machen Menschen nicht, weil sie es können oder es Spaß macht.

    Es gibt sogar Studien, die eine Korrelation zwischen trans und Autismus erkennen.1 Ich möchte nicht, dass Kinder in dem Klima aufwachsen, in dem ich aufgewachsen bin.

    Ich möchte, dass sie alle Optionen haben. Trans zu sein, autistisch zu sein, in beiden Fällen Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Wenn sie sich gegen eine Transition entscheiden, wenn es „nur eine Phase“ ist, dann ist es gut. Auch in einzelnen Phasen des Lebens sollen Menschen alle Unterstützung bekommen, die sie brauchen und wollen. Und wenn sie sich für eine Transition entscheiden, auch dann sollen sie Hilfe und Unterstützung erhalten. Ich möchte mich für Inklusion und Transgeschlechtlichkeit einsetzen können, ohne abwechselnd zurechtgewiesen zu werden, ich wolle doch Toleranz, ich müsse doch mit dem Ableismus/der Transfeindlichkeit zurecht kommen. Ich wäre doch das Problem, ich wolle doch zu viel.

    Nein. Ich will das gleiche wie ihr, aber ich muss es an zwei Fronten durchsetzen. Ich will Autist_in sein – trans inklusive. Ich kann nicht einen Teil von mir zu Hause lassen, um Aktivismus in einem Feld zu machen – und dann den anderen Teil mitnehmen, wenn es um ein anderes Thema geht.

    Ich schreibe für mich, aber ich schreibe genauso für trans Geschwister und Autist_innen, die ebenso verloren durch zwei Welten irren, die beide nur begrenzt für sie gemacht sind. Und ich schreibe dafür, dass diese Welten lernen, dass es kein „entweder-oder“ sein muss, sondern auch ein „sowohl als auch“ sein kann.

  • Autismus, Baby!

    Frisch diagnostiziert sitze ich bei meiner Therapeutin. Sie hat keine Expertise bezüglich Autismus, sagt sie selbst. Sie weiß, dass es das gibt und wie die Diagnoseverfahren grob laufen – mehr nicht.
    Zuerst erklärt sie mir, dass sie bezweifelt, dass ich Autismus habe. Bei ihr wirke ich erst so, wie es im Gutachten steht, seitdem es im Gutachten steht.


    Ich denke mir: „Ja, weil ich jetzt die medizinische Erlaubnis habe, nicht immer angepasst sein zu müssen. Weil es jetzt okay ist, das ich krasse Überforderungen auch einfach nicht tue. Wie beispielsweise, Ihnen in die Augen sehen zu müssen.“ Aber als ich das sage, wirkt sie nicht überzeugt. Aber sie hat mir auch nicht geglaubt, dass ich trans bin oder eine HRT haben darf. Das hat ihr „Bauchschmerzen“ bereitet.

    Vermeidung

    Ich sitze verkrampft da. Ich sitze eigentlich immer im Gespräch verkrampft da. Ab und zu sagt sie mir, ich solle aufrecht sitzen. Ich richte mich dann auf. Stimmen ist auch verboten, weil Stimming würde bedeuten, dass ich das „innere Kind“ alleine lasse. Ich versuche also, unauffällig zu stimmen, aber ich darf mich dabei nicht erwischen lassen. Zum Glück erkennt sie viele Stimmingmethoden nicht. (Nicht behandeltes Stimming bei Autismus kann zu chronischen Schmerzen führen, weil beispielsweise auf Zähneknirschen oder Muskelverkrampfungen ausgewichen wird.)

    Es ist Schematherapie, ich muss mich also in die verschiedenen Modi begeben. Es gibt Elternmodi (die sind abwertend oder verlangen zu viel in Bezug auf (emotionale) Leistung), Bewältigungsmodi (Vermeidung, Unterwerfung, Überkompensation) und Kindmodi (wütendes, glückliches, verletzliches, impulsives Kind). Und ein sogenanntes „gesundes Erwachsenes“, das einerseits alles koordinieren soll, andererseits sich um den Modus des verletzlichen Kindes kümmern soll.

    „In die Modi begeben“ heißt Rollenspiele. Ich muss dieser Modus sein. Gleichzeitig darf ich nicht von den Modi als unterschiedliche, sich austauschende Persönlichkeiten denken, ich darf nicht von „wir“ sprechen. Warum? Keine Ahnung. Weil die Therapeutin sagt, dass das falsch ist.

    Überforderung

    Wenn ich Dinge nicht verstehe (und ich verstehe viele Dinge nicht), darf ich nicht nachfragen, weil kognitives Verständnis Teil der Vermeidung ist. Sagt meine Therapeutin.
    (Es ist auch die Art, wie Autismus sich äußert, aber das darf ich nicht sagen.)
    Sie versteht mich häufig nicht, wenn ich versuche, mit ihr zu kommunizieren. Da sind Worte und ich weiß, dass ich mit diesen Worten etwas wichtiges aussagen möchte, aber es kommt nicht an. Und wenn ich darüber verzweifele, dass ich mich nicht verständlich machen kann, dann sagt sie, es wäre eine wütender Modus. Oder Vermeidung.

    Die Depression könnte eine organische Krankheit sein, die organische Auswirkungen hat. Oder eine psychische Krankheit, die organische Auswirkungen hat. Oder eine „Strategie eines Bewältigungsmodus“, die organische Auswirkungen hat. Die organischen Auswirkungen sind da, die merke ich. Aber sie hat gesagt, dass die Bewältigungsmodi dazu da sind, das „innere Kind“ zu schützen. Die Depression (zumindest die organischen Auswirkungen wie Müdigkeit, Überempfindlichkeit, Geräuschempfindlichkeit, Schmerzen) sind aber doch kein Schutz? Das passt nicht. Das fühlt sich bis auf die Knochen verschoben und falsch an. Oder sind es keine depressiven Symptome? Ist es Autismus? Ich bin verwirrt.

    Overload

    Manchmal versuche ich, eine eindeutige Antwort zu bekommen. Ich bettele um eine Antwort. Ich verstehe das nicht. Sie sagt, ich solle nicht wütend sein. Das wäre Vermeidung. Ich sitze doch im Modus des gesunden Erwachsenen, der wäre aber zu wenig da. Ich solle den gesunden Erwachsenen verkörpern. Das würde ich aber nicht tun.

    Ich bin aber nicht wütend, ich versuche, ihr wichtige Dinge zu erklären. Aber „Dinge erklären“ ist Vermeidung, sagt sie. Ich weiß nicht, wie ich etwas richtig machen soll, wenn ich es nicht verstehe. Aber ich bekomme keine Bedienungsanleitung oder Handlungsanweisungen. Ich soll sie mir selbst erarbeiten, aber ich weiß nicht, wie.
    Ich kann doch nur Dinge aufschreiben, die ich bereits erfahren oder erkannt habe.
    Aber sie sagt, ich muss das selbst entwickeln. Beispielsweise, was eine „gesunde Beziehung“ ist. Aber ich kann das nicht, weil jedes Beispiel einer gesunden Beziehung auch Zeichen einer toxischen Beziehung sein könnte und es da keine klare Trennlinie gibt. Wie soll ich  Beispiele sammeln, wenn es keine klare Trennlinie gibt?

    Shutdown

    Ich sage ihr das. Sie sagt, sie wird sich nicht auf die Strategie der Vermeidung einlassen. Ich fange an zu wippen. Sie sagt, ich muss damit aufhören, ich würde das „innere Kind“ alleine lassen. Redet immer weiter. Wird immer lauter in meinen Ohren. Ich wippe stärker. Sie sagt, ich soll aufstehen und den Stuhl wechseln. Ich bettele, dass sie den Mund hält, ich kann nicht mehr. Ja, ich weiß, dass ich nicht wippen darf, aber ich kann nicht aufhören. Ich falle auseinander. Ich brauche das Wippen gerade. Sie hält den Mund. Ich kann ein bisschen atmen. Setze mich auf anderen Stuhl. Benutze mein StimToy zum stimmen.

    Sie erkennt das StimToy nicht als StimToy. Ich habe aufgehört zu wippen. Habe mich brav an ihre Aufgaben gehalten. Sie gibt mir eine Aufgabe. Ich merke, dass ich wegdrifte. Kann nicht mehr sprechen. Ich nehme mein Handy. Nehme meine Tasche. Ich gehe. Bin ein kleiner Ball, innen eingerollt in mich. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich weiß, dass sich meine Menschen darum kümmern werden, dass ich nach Hause komme.
    Shutdown.

  • Trigger Warnung/Content Note: Stabil, instabil, kaputt.

    Was haben Triggerwarnungen, ein gut gemeintes „Dafür bist du nicht stabil genug, meinst du wirklich?“ und das Absprechen der Diskursfähigkeit gemeinsam? Und wo ist der Unterschied zwischen Trigger Warnung (TW) und Content Note (CN)?
    Sie berufen sich alle auf meine (zugeschriebene) psychische Stabilität.

    Trigger

    Teilweise ist das gut gemeint – aber nicht gut gemacht. Triggerwarnungen nehmen sich heraus, für andere Menschen zu entscheiden, was (potentiell) triggernd sein könnte. Allerdings ist diese Zuschreibung unmöglich, da Trigger so vielfältig sind wie die Menschen, die traumatisiert wurden. Während einige Personen von Wörtern überhaupt nicht getriggert werden, trifft bei anderen Menschen das durchaus zu.
    Manchmal wird alleine durch das Lesen ein Bild im Kopf geweckt, dass dann zum Flashback führt. In anderen Momenten wird die Assoziation mit einer Situation oder einer Täter_in hervorgerufen. Und manchmal passiert gar nichts.

    Nicht alle Trigger wirken immer, manchmal ist die betroffene Person stabil und das Wort löst überhaupt nichts aus. Manchmal bricht eins dann psychisch zusammen. (Ha. Da kam sie wieder, die Stabilität. Aber dazu später mehr.) Leider kündigen sich diese wechselhaften Trigger nicht mit blinkenden Schildern an, also wird erst nach der Verletzung festgestellt, was heute triggerte.
    Andere Worte triggern immer und sind zuverlässig – und können somit vermieden werden. Auch, indem eins Themen vermeidet, die diese Worte/Beschreibungen/(Wort)Bilder beinhalten.

    Paternalismus

    Wenn ich jetzt aber von wildfremden Personen „gewarnt“ werde, dann nehmen sie sich heraus, zu wissen, was mich (heute) triggert. Das ist verquer, denn ich weiß es meistens selber nicht. Potentiell traumatische Themenbereiche (z.B Psychiatrie, Suizid, SVV) sind natürlich prädestiniert dafür, Trigger zu beinhalten. Allerdings triggert mich auch die Beschreibung von deiner letzten Diät und im Zweifelsfall, was du gestern gegessen hast (hallo, Essstörung, alte Freundin). Aber da schreiben irgendwie Menschen relativ selten eine Warnung dran. (Und nein, ich möchte auf KEINEN FALL noch mehr Warnungen.)

    Content Notes

    Inhaltsbeschreibungen (Content Notes) haben den Vorteil, dass sie mir einen groben Überblick über den Inhalt geben. Ich kann (im Wissen über meine momentane Stabilität, meinen Umgang mit potentiellen Triggern und im besten Fall einem Rückzugsraum) entscheiden, ob ich das jetzt gerade lesen, es später lesen oder gar nicht lesen möchte.
    Ein bisschen wie der Klappentext eines Buches: Geht es da bereits um hocherotische Werwölfe mit muskelbepackten Armen, denen die Protagonistin (oder der Protagonist) instant verfällt… Dann lasse ich das Buch lieber liegen. (Nicht, weil es mich triggern würde, sondern weil es höchstwahrscheinlich schlechte Erotik und Sexismus und Heteronormativität enthält.) Aber durch die vorherige Information über den Text kann ich entscheiden und mir das Geld (oder den Flashback) ersparen.

    Gemeinsamkeiten und Unterschiede

    Der Unterschied zwischen einer Inhaltsbeschreibung und einer Warnung ist die Intention des Erstellenden. Eine Information informiert – wertungsfrei. Eine Warnung warnt – und wertet dabei. Eine Warnung entscheidet FÜR MICH, eine Information LÄSST MICH entscheiden. Aktiv und passiv.
    Und meine persönliche Entscheidungsfreiheit ist mir – gerade als Person mit Psychiatrie- und psychotherapeutischer Intensiverfahrung – sehr, sehr wichtig.

    Eigenverantwortung

    Deshalb kann ich es auch gar nicht haben, wenn Entscheidungen von mir – gut gemeint – hinterfragt werden. „Bist du dir sicher, dass du dafür stabil genug bist?“ – JA. Und wenn nicht, dann mache ich eben Fehler und lerne daraus. Auch psychisch kranke Menschen dürfen mal gegen ne Wand laufen, weil sie ihren Dickkopf durchsetzen mussten. Ich möchte nicht in jedem Fall „vor mir selbst geschützt“ werden. Die Momente, in denen ich mir das wünsche, habe ich vorher kommuniziert – und die Hürden dafür sind bewusst hoch gelegt.

    Ich bin für mich selbst verantwortlich und das bedeutet, dass ich auch „ungesund“ handeln darf. Ich darf gegen Mauern rennen und mir den Kopf anstoßen. Deshalb bin ich ÜBERAUS verärgert, wenn mir andere Menschen dauerhaft eine Matratze vor die Wand stellen.
    Dabei können Menschen auch durchaus sagen, dass sie meine Entscheidungen nicht gut finden. Sie dürfen auch sagen, dass ich sie noch einmal überdenken sollte. Allerdings dann bitte begründet (und zwar inhaltlich) und nicht auf Basis meiner psychischen Stabilität. Die schätze ich schlussendlich immer noch alleine ein. Das kann keine andere Person für mich tun. Punkt.

    Ableismus als Waffe

    Noch schlimmer sind nur Menschen, die meine Traumata (über die ich bewusst sehr offen kommuniziere) dazu verwenden, mich zu diskreditieren. Die mir die Diskursfähigkeit absprechen und versuchen, mich als instabil darzustellen – um sich nicht inhaltlich mit mir auseinandersetzen zu müssen. Ein inhaltlicher Diskurs (gerne auch Streit) würde ja bedeuten, mich als gleichberechtigte_n Diskurspartner_in wahrzunehmen und mir eine Stellung einzuräumen. Es würde bedeuten, dass sich Personen mit anderen Meinungen als meiner ARGUMENTE ÜBERLEGEN MÜSSEN, um mir Kontra zu bieten.
    Stattdessen wird darauf abgestellt, dass alle meine Argumente aus sich selbst heraus wertlos seien und eine weitere Beschäftigung damit unnütz. Ich als Gestörte_s (meine Eigenbezeichnung, wenn ihr mich so nennt, gibt es Stress!) wäre ohnehin nicht fähig, am Diskurs teilzunehmen.

    Gatekeeping

    Leider haben Personen, die so etwas äußern, die Gesellschaft auf ihrer Seite. Menschen aufgrund von Krankheiten aus dem Diskurs auszuschließen hat eine lange Tradition. Die Unterdrückung von Personen aufgrund von (zugeschriebenen) Einschränkungen einen Namen: Ableismus.
    Jede beschriebene Situation ist ein Beispiel  dafür, wie sich neurotypische, body abled Personen als Gatekeeper_innen sehen, die bestimmen, wer „stabil“ genug ist, zum Diskurs zugelassen zu werden – und wer nicht.
    Gatekeeping bedeutet, dass sich nicht-Betroffene zum Torhüter ernennen, um für Betroffene zu entscheiden. Entweder, weil sie behaupten, besser als Betroffene entscheiden zu können, was gut für diese ist. Alternativ, weil sie Betroffene gar nicht im Diskurs haben wollen. Die könnten ja anderer Meinung sein und das macht die eigene, privilegierte Weltsicht kaputt.

    ableistische Erwartungen

    Gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, die nicht auf die Bedürfnisse von body disabled und/oder neuroatypischen Personen ausgelegt ist. Deshalb erwartet sie von uns Betroffenen, dass wir uns anpassen und uns Mühe geben, in dieser Gesellschaft klarzukommen. Oft haben wir das sogar selbst verinnerlicht und suchen die Schuld für unser „Versagen“ bei uns, anstatt anzuerkennen, dass wir in einer Gesellschaft überleben, die alles dafür tut, damit wir es nicht schaffen. Kapitalistische Verwertungslogik wird in Therapien eingetrichtert und sorgt dafür, dass wir uns so lange Mühe geben, bis wir zusammenbrechen – um immer noch nicht genug getan zu haben. Finde ich kacke.

    Fazit

    Zum „guten Leben für alle“ gehört auch, dass mein DaSein und SoSein einen Raum bekommen. Und den nehme ich mir und ich beiße, wenn irgendwer versucht, mich in Watte zu packen und mir die Zähne zu ziehen!

  • Gestört, nicht krank. Ein Umgang mit mir.

    Wenn ich darüber rede (oder schreibe) wie es ist, als ich zu leben, dann komme ich oft in die Situation, dass Menschen hilflos werden. „Ich würde dir so gerne helfen, aber…“, und dann schauen sie mich mit traurigen Dackelaugen an und ich frage mich, wobei mir diese Menschen denn helfen wollen. Aber meine Kommunikation ist ohnehin oft gestört.

    Meistens geht es nämlich nicht darum, mir das Leben irgendwie zu erleichtern. Nein, sie wollen mich „gesund“ machen. Schließlich bin ich ja krank.

    Gestört, nicht krank.

    Nein. Ich bin gestört, nicht krank. Ich befinde mich auf dem Spektrum der Charakter- und Verhaltensweisen so weit abseits des als normal definierten Bereichs, dass es pathologisiert wurde. (Dabei ist die Art und Weise der Pathologisierung ein Problem für sich, aber das ist ein anderes Thema.) Der Unterschied liegt darin, dass Krankheiten eine andere Herangehensweise erfordern als Störungen. Meine Krankheiten sorgen dafür, dass es mir schlecht geht. Meine Störung sorgt dafür, dass es mir schlecht geht, weil ich anders bin – aber sie sorgt nicht aus sich selbst heraus dafür, dass es mir schlecht geht. Ich habe keinen Leidensdruck, der dafür sorgt, dass ich mich grundsätzlich als Problem wahrnehme – der kommt erst von außen. (Und ist mittlerweile dauerhaft da, aber auch das ist ein anderes Thema. Ich glaube, ich muss einen Fußnotenartikel zu diesem hier schreiben. Meine Güte.)

    Ich bin Autist_in. Das nennt sich in offizieller Diagnostik dann „Autismus-Spektrum-Störung„.

    Krank, nicht gestört.

    Ich bin auch krank. Ich habe Depressionen (wiederkehrende, seit mittlerweile anderthalb Jahrzehnten), körperliche Beschwerden dadurch, chronische Schmerzen. Das sind alles Sachen, bei denen ich tatsächlich Hilfe brauche – und sie mir auch einfordere. Beispielsweise durch den Nachteilsausgleich in der Uni oder durch den Antrag auf Schwerbehinderung. Aber auch dadurch, dass manchmal Umfeldmenschen für mich Dinge abholen oder ein Herzmensch mit mir rausgehen muss, weil es alleine nicht geht. Aber das meinen die Menschen meistens nicht, wenn sie mir so hilflos „helfen“ wollen.

    Ihr wollt mich „gesund“ zaubern, obwohl ich gar nicht krank bin.

    Neurodiversität und Maskieren

    Ich bin anders, als es der Bereich des Spektrums vorsieht und das macht euch hilflos. Ihr könnt meine Realität nicht nachvollziehen und ihr stellt sie euch schrecklich vor. Glaube ich. Zumindest sorgt eure Reaktion dafür, dass ich das denke. Wenn ihr mir wirklich helfen wollt, dann macht eure Welt für mich inklusiver. Sorgt dafür, dass ich mich in Räumen wohlfühle. Sorgt dafür, dass es weniger überfordernde Situationen gibt und sprecht Klartext. Lasst mir Raum, wenn ich gerade in ein Loch stürze und erzählt mir nicht, ich „solle mich beruhigen“. Stellt meine Realität nicht in Frage. Glaubt mir, dass auch meine Emotionen valide sind.

    Ich kann eure Realität auch nicht nachvollziehen. Aber im Gegensatz zu euch wurde mir beigebracht, dass ich deshalb ein Problem bin. Mir wurde beigebracht, dass ich mich ändern müsse, an die Norm anpassen und das ich erst, wenn ich das schaffe, ein Recht habe, mit euch zu interagieren. Gestört zu sein, ist ein Anpassungsurteil.

    Nein. Das ist paternalisierender Bullshit. Ich habe das gleiche Recht darauf, mit euch zu leben, wie ihr auch. Ich bin nicht grundlegend falsch, nur anders.

    Und euer Mitleid, eure Hilflosigkeit, die sorgen nur dafür, dass ich mich frage, was denn an meinem DaSein, meinem SoSein so unglaublich furchtbar sein soll, dass es solche Reaktionen hervorruft.
    Ich bin nicht unglücklich damit, wie ich bin.

    Ich bin nur anders als ihr.

    Pathologisierung

    Und dadurch, dass ich Psychiatrie und psychiatrische Pathologisierung aufgrund von systematischer Kritik begonnen habe, kritisch zu sehen, bin ich auch der Meinung, dass es auch für Menschen mit Störungen einen Umgang gibt. Einen Umgang, der nicht auf einem Machtgefälle zwischen pathologisierten und normativen Menschen beruht, sondern der einfach die Emotionen und Bedürfnisse aller Beteiligten akzeptiert.

    Ich habe Verlustängste. In Gesellschaft genieße ich das Spotlight. Gleichzeitig nehme ich alle Reize viel intensiver wahr. Ich kann die Stimmungen anderer Menschen gut erkennen, aber ihre Intensität nicht nachvollziehen. Kommunikation muss klar, verständlich und deutlich sein. Ich habe gerne, viel und intensiv Sex. Und ich lebe polyamor.

    Das alles sind Verhaltensweisen, die Diagnosen ausmachen. Die pathologisiert werden. Neurologisch gestört. Emotional gestört. Sucht es euch aus. Sexismus und Transfeindlichkeit machen auch vor der Psychiatrie nicht Halt.

    Leider ist die Lösung für diese Bedürfnisse oft, dass ich sie rationalisieren und unterdrücken soll. Das empfinde ich als falsch. Es mag für diese Gesellschaft momentan funktionieren, aber ich finde auch diese Gesellschaft falsch.

    Kommunikation.

    Stattdessen bin ich für eine Kommunikation, in der ich alle Bedürfnisse erst einmal formulieren kann. In der die verschiedenen Bedürfnisse verhandelbar sind. Nein, mein(e) Gegenüber haben nicht die Pflicht, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Sie dürfen jederzeit sagen, dass sie gerade nicht können oder wollen oder einfach Nein, ohne es zu begründen.
    Aber ich möchte sie aussprechen können, bevor ich sie rationalisieren muss. Ich möchte sagen können: „Ich brauche gerade eine Person, die mich festhält.“, aber ohne, dass die andere Person in den Druck kommt, dieses Bedürfnis erfüllen zu müssen. Aber damit kann sie es erfüllen, wenn sie das möchte. Und andersherum sollte es genauso möglich sein – Formulierung von Bedürfnissen und vollständige Akzeptanz der jeweiligen Reaktion.

    Dabei müssen dann die Bedürfnisse nicht mehr gewertet und analysiert werden. Sie sind erst einmal da und es kann ein Umgang damit gefunden werden. Ohne Pathologisierung, ohne Druck.

    Und hinterher kann ich immer noch gucken, an welchen Sachen ich arbeiten möchte (z.B die Verlassensängste) und welche Sachen ich eigentlich voll in Ordnung finde (Polyamorie, BDSM, Sex). Was ich bearbeiten will, dass soll dann auch durch Therapeut_innen bearbeitet werden können – aber ohne Diagnose, ohne Pathologisierung, ohne „Du bist ein Problem.“.

    Hübsche Wunschvorstellung, nicht?

  • DaSein und SoSein.

    Ich hatte im Laufe meines Lebens ungefähr dreizehn Jahre lang Psychotherapie. Ich bin knapp zwanzig.
    Das ist eine beeindruckende Zeitspanne, habe ich mir sagen lassen. Ich kann das nicht beurteilen, es war meine Normalität. Angefangen hat es, als ich sechs war und dann mehr oder weniger durchgängig, bis ich neunzehn wurde. Mein DaSein war behandlungswürdig, immer.
    Jetzt der erneute Anfang. Diese Therapie unterschied sich jedoch frappierend von allen anderen, die ich zuvor hatte.

    „Wir sind hier doch keine Besserungsanstalt!“ – ein Satz meiner letzten Therapeutin. Dieser Satz ist einmalig, ist besonders in meiner Historie an Therapeut_innen, denn die bisherigen benahmen sich durchaus so, als ginge es darum, mich zu verbessern. Mich anzupassen. Mich gefällig zu machen.
    Mein DaSein angenehmer zu machen, für andere.

    Gaslighting

    Wenn ich in der Sitzung eine problematische Situation schilderte, dann war die darauffolgende Überlegung, was ich daran ändern könnte, damit so eine Situation nicht wieder geschieht.
    „Du kannst andere Menschen nicht ändern, nur dich selbst.“, ist ein Satz, den ich so oder so ähnlich unendlich oft gehört habe. Immer dann, wenn ich der Meinung war, dass mit mir nichts falsch ist, dass sich meine Gegenüber falsch verhalten haben und das es somit unfair ist, dass ich mich ändern muss und nicht die Täter_innen. Meine Wut, meine Frustration, sie hatten keinen Platz in dieser Umgebung. Sie waren schlicht und ergreifend nicht erlaubt.

    Es gab kein Verständnis dafür, dass ich mich nicht immer ändern wollte. Es gab kein Verständnis für meine Situation, es wurde nie erklärt, dass es nicht um Schuld oder Unschuld ging.
    Für mich war klar: Du musst dich ändern, also bist du auch automatisch das Schuldige. Denn nur wer schuldig an der Situation ist, muss sich ändern. Alles andere wäre schließlich ungerecht.

    Gerechtigkeit

    Ja, ich glaubte an Gerechtigkeit, auch wenn das hieß, dass ich dauerhaft „an allem schuld“ war. Das machte mich zwar traurig, wütend und verzweifelt, aber es war so, dass „die Erwachsenen“ es schließlich besser wussten – und gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist das Machtgefälle besonders hoch. Ich habe das nie hinterfragt. Nie, bis meine Psychologin mir den Satz von oben sagte – sie völlig erstaunt darüber, dass ich mich „bessern“ wollte, ich völlig erschüttert darüber, dass ich nicht grundsätzlich falsch bin.

    Es hatten nämlich alle vergessen zu erwähnen, dass der Satz eigentlich lauten müsste „Du kannst andere Menschen nicht ändern, aber du kannst DEINEN UMGANG mit ihnen ändern“. Dann wäre nämlich nicht dieses grundsätzliche „Ich bin fehlerhaft“ entstanden. Es wäre um Umgang gegangen, um beeinflussbares Verhalten – und nicht um den Minidrops, der zurechtgelutscht werden muss und bereits durch das SoSein ein Problem darstellt.

    In dieser letzten Klinik hatten meine Wut und meine Frustration Platz. Ich durfte mich darüber aufregen, wenn Menschen sich scheiße verhalten haben und es hatte Raum. Ich durfte wütend sein. Wut durfte ein Umgang sein. (Ich durfte keine weißen, alten Männer anzünden, aber eins kann ja nicht alles haben.)

    Raum zum DaSein

    Mir hatte vorher einfach noch kein psychologisches Fachpersonal erklärt, dass es mehr gibt, als sich selbst grundlegend ändern und anpassen zu müssen. Ich darf auch einfach sein und muss nicht mit allen Menschen zurechtkommen.

    Und wisst ihr, was traurig ist? Es hat dreizehn Jahre Therapie gebraucht, damit mir eine Psychologin vor einem halben Jahr mal die Erlaubnis gibt, dass ich anecken darf. Ich scheitern darf. Wütend sein darf. Ich Traurig sein darf. Nicht völlig falsch bin.

    Ich darf DaSein. Auch ohne, dass es allen gefällt.

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