Autor: Fluff

  • Leitfaden – Komplimente und Übergriffigkeit

    Weil dieser Leitfaden leider notwendig ist: Alle weiblich gelesenen Personen kennen es wahrscheinlich: Wir treiben uns unschuldig und ohne etwas zu ahnen in social media herum, in Chatgruppen, auf Discord.

    Die Situation

    Plötzlich ploppt eine private Nachricht auf:

    Hey Süße!
    Wir kennen uns aus X und dein Profilbild ist echt niedlich. Wie geht es dir so, was machst du heute?

    Irgendein Dude.

    Klingt ja ganz, nett, erstmal. Immerhin findet er mein Profilbild „niedlich“ und will mich offensichtlich näher kennenlernen. Gleichzeitig ist dieses Verhalten zutiefst übergriffig. Deshalb gibts diesen Leitfaden.

    1. Solange es keine Dating-App ist (die wir hier mal ausschließen), ist meine Anwesenheit im digitalen Raum keine Einladung zum Flirten. So wenig wie ich es angenehm finde, wenn ich offline von Wildfremden angesprochen werde, so wenig ist es online angemessen.
    2. Daraus folgt, dass ich nie mein Einverständnis gegeben habe, offen für Privatnachrichten oder Geflirte zu sein. Anders als offline, kann ich auch nicht durch Blickkontakt oder Gestik/Mimik meinen Konsens zu derartigem Verhalten geben.
    3. Die Erwartungshaltung, weiblich gelesene Personen müssten jeden (positiven) Kommentar zu ihrem Äußeren oder ihrem Verhalten begrüßen („Das war doch nur ein Kompliment!“), ist in ihrem Kern sexistisch, weil weiblich gelesene Personen zu Objekten (meist männlicher) Aufmerksamkeit degradiert werden.
    4. Kosenamen zu verteilen, ohne sich vorher einen Konsens eingeholt zu haben, ist in den meisten Communities übergriffig, weil verpönt. Solange dies nicht Konsens in der Community ist (z.B. weil auch im gemeinsamen Gruppenchat sich alle mit unterschiedlichen Kosenamen anreden), wird ein Machtungleichgewicht geschaffen: Die Person, die verniedlichende Bezeichnungen nutzt und die Person, die sie hinnehmen muss.

    Ein Leitfaden zur Lösung

    Wenn du nun Admin einer dieser Gruppen bist und das Menschen passiert – was kannst du tun? Hier ein Leitfaden:

    1. Nimm die Person ernst. Nur, weil du möglicherweise nicht nachvollziehen kannst, dass sich dieses Verhalten übergriffig anfühlt, heißt das nicht, dass es nicht übergriffig ist.
      1. Du definierst deine Grenzen und die Grenzen innerhalb der Gruppe, nicht aber die Grenzen einer anderen Person. Kommentare wie „Nimm das nicht so ernst, das war nur ein Kompliment!“ untergraben die Wahrnehmung der betroffenen Person.
      2. Sei dir des Machtungleichgewichts bewusst – du kannst dafür sorgen, dass sich andere Personen in der Gruppe, die du moderierst, wohl oder unwohl fühlen (und möglicherweise gehen).
    2. Frag die betroffene Person, was sie sich wünscht.
      1. Reflektiere, ob es eine Person im Admin_a-Team gibt, die (möglicherweise) die Erfahrungen der betroffenen Person teilt.
      2. Wenn es keine weiteren Admin_as gibt, dann frage dich, warum das der Fall ist.
      3. Würde es sich lohnen, ein Admin_a-Team aufzustellen, das mit Diskriminierungen vertraut ist?
    3. Triff eine Entscheidung bezüglich des Verhaltens in deiner Gruppe.
      1. Teile diese Entscheidung öffentlich mit. (Wenn es für dich in Ordnung ist, dass Menschen andere Personen übergriffig anschreiben dürfen, mache dies deutlich. Das sorgt für Klarheit bezüglich der eigenen Erwartungen an eine Gruppe.)

    Schlussbemerkung

    Im Übrigen muss es nicht einmal eine Nachricht sein, die so offensichtlich und flirty daherkommt. Grundsätzlich gilt, auch im online Raum: Ich habe ausschließlich Konsens gegeben, dass ich mich im öffentlichen Bereich aufhalte. Ich möchte nicht, wenn ich an der Bushaltestelle stehe, in ein Wartehäuschen gezerrt und mit „Hallo!“ angequatscht werden und ich lade auch nicht andere Menschen an der Bushaltestelle zu einem privaten Treffen zu mir nach Hause ein – wenn ich das tue (also, wenn öffentlich gefragt wird und ich meinen Konsens gebe), ist das eine andere Geschichte.

  • Rezension „Incels“ von Veronika Kracher

    Irgendeine muss es ja tun.

    Visitenkarte von Veronika Kracher

    Seit ich dieses Buch gelesen habe, möchte ich viele Memes, die im Freund_innenkreis geteilt werden, nicht mehr sehen – vorher fehlte mir der popkulturelle Bezug, jetzt fehlt mir immer noch der popkulturelle Bezug, aber der politisch-kulturelle wurde mir eröffnet. Ich hätte darauf verzichten können, ich habe Einblicke in eine Internet-SubKULTur erhalten, die den schlimmsten Albträumen aller Feminist_innen entsprungen zu sein scheint. (Meinen allerhöchsten Respekt an die Autorin, die Recherche muss die Hölle gewesen sein.)

    Erschienen ist „Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ im November 2020 beim VENTIL Verlag.

    Gleichzeitig ist es nur die Spitze eines Eisbergs struktureller Diskriminierung. Incels sind kein Phänomen im luftleeren Raum, sondern Symptom einer patriarchalen Gesellschaft, die Femizide noch immer als „Beziehungsdrama“ darstellt.

    Veronika Kracher schafft es, die letzten hundert Jahre politisch-philosophischer und feministischer Theorie auf 274 Seiten einzudampfen, während sie daraus eine Schablone schafft, um den Online-Kult „Incels“ zu analysieren und hinten noch ein Glossar dranhängt. Eine beeindruckende Leistung. Aufgrund des doch sehr dünnen Büchleins kann deshalb nicht auf die Analyse und Theorie jeder Person eingegangen werden, auf die sich Veronika Kracher bezieht. Im Literaturverzeichnis werden Primär- und Sekundärquellen jedoch so präzise angegeben, dass der Korrektor jeder wissenschaftlichen Arbeit damit zufrieden wäre. Somit ist die Möglichkeit zur selbstständigen Recherche jener Theorien, die naturgegeben zu kurz kommen, allen gegeben, die Lust und Muße haben, sich damit zu beschäftigen.

    Lesen und verstehen lässt sich das Buch jedoch grundsätzlich auch mit einem nur rudimentären Vorwissen über u.A. Adorno, Theweleit, Pohl, Freud und viele weitere. (Da ich nichts in dieser Richtung studiere, besitze ich eben ausschließlich jenes rudimentäre Wissen.)

    Empfehlen würde ich dieses Buch allen Menschen, die bereits ein gewisses Interesse an politischer Bildung haben – oder bereit sind, sich sehr viel Hintergrundwissen zu erarbeiten.
    Gleichzeitig ist es keine leichte Lektüre, dieser Umstand ist jedoch vor allem dem Objekt des Buches, keinesfalls des Schreibstils oder der Analyse der Autorin geschuldet. Aus diesem Grund würde ich das empfohlene Alter für dieses Buch bei nicht unter sechzehn Jahren festsetzen – die Misogynie, Transfeindlichkeit, der Rassismus, der Antisemitismus und die Beispiele aus den Foren und Image-Boards sind für jüngere Menschen eher ungeeignet.

    Schlussendlich möchte ich Veronika Kracher danken, dass sie sich mit diesen Abgründen des Internets und gesellschaftlicher Strukturen auseinandergesetzt, diese analysiert hat und es dennoch schaffte, im abschließenden „Brief an einen Incel“ noch immer positiv auf jene zuzugehen, die sich vor allem durch ihre Frauenverachtung auszeichnen. Das Buch ist sowohl sachlich und informativ, als auch ironisch, amüsant und respektvoll seinem Objekt gegenüber – eine Leistung, die ich nicht oft genug betonen kann.

    (Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar vom VENTIL Verlag zur Verfügung gestellt. Dafür möchte ich dem Verlag und der Autorin danken.)

  • Eine Perspektive in Zeiten von & mit Corona – Gastbeitrag von Foks

    Eine Perspektive in Zeiten von & mit Corona – Gastbeitrag von Foks

    Danke für das Beitragsbild an Das_Anja.

    Es sind seit 7 Tagen nur täglich wenige Minuten, die ich ohne Maske verbringe. Ein, zwei tiefe Atemzüge lang, auf dem Balkon, um kurz Pause zu haben.

    Eins meiner Kinder ist Risikopatient, hat Pflegegrad 3 & braucht dadurch im Alltag Unterstützung. Die Angst der Ansteckung ist groß, war sie schon, bevor ich infiziert wurde.

    Nähe funktioniert nur mit Maske & strikten Hygieneregeln, aber dadurch haben wir bisher eine Infektion verhindert.

    Ich erlaube mir heute ein paar Minuten mehr Pause, einmal mehr tief einatmen, es funktioniert wieder ohne Schmerzen, das Fieber ist weg, ich fühl mich nicht mehr so abgeschlagen. Es fühlt sich gut an. Versuche noch einmal, ein paar Reserven zu mobilisieren, um die nächsten 6-7 Tage irgendwie auf die Reihe zu bekommen, in denen wir auf uns alleine gestellt sind, habe Angst, dass die Besserung wieder umschlägt – wie ein paar Tage zuvor.

    Mich beschäftigen Gedanken wie, dass ich gespannt auf Jahresstudien zu Corona & Infektionsverläufen bin. Ich kann 1 zu 1 sagen, wo ich mich infiziert habe: Es war in einem Raum, mit Abstand, Maske & Lüften. Derweil häng ich hier mit zwei Kindern seit 7 Tagen in Quarantäne auf engstem Raum, mit Maske, ohne Abstand & Lüften. Beide sind nach wie vor negativ.

    Dann geht es weiter mit Gedanken wie, was für Kommentare mir auf dem Weg der Quarantäne zu Ohren kamen: „Krass, du trägst den ganzen Tag Maske, dass könnt ich nicht“
    – ein Kommentar dazu von mir: Doch kannst du! Denn es gibt keine Alternative, solange wie eins ansteckend ist, um andere zu schützen.

    Dabei gibt es immer noch Menschen, die sich über das Tragen einer Maske, wenn sie mal eben 20 Minuten einkaufen gehen, beschweren. Es macht mich unfassbar wütend, während ich hier in den paar Momenten an der frischen Luft über all die Augenblicke nachdenke, an denen ich bedroht & angegriffen wurde, wenn ich Solidaritätsverweigerer_innen auf das (richtige) Tragen einer Maske hinwies. Es macht mich wütend, wieder einmal zu merken, wie viele Solidaritätsverweigerer_innen da draußen versuchen „für ihr Recht auf Freiheit zu kämpfen“. Wie bewusst diese Menschen mit dem Leben anderer spielen. 

    Eigentlich sind Masken vs. Viren nicht das überraschendste Konzept; aber anscheinend ist alles, was zu klein oder zu transparent fürs menschliche Auge ist, irgendwie zu viel Aufwand, auch wenn es tödlich sein könnte (danke an Dr. Carmilla Qarnstein für die geliehenen & so passenden Worte).

    Es gibt keine Alternative, das Virus kostet Leben, viele. Es ist lernbar, dass bestimmte Dinge notwendig sind, um Andere zu schützen, weil es für diese lebensnotwendig ist & ich würde mir wünschen, dass das ein paar mehr Menschen begreifen.

    Ich muss seit 7 Tagen, infiziert, meine Kinder versorgen, beschäftigen, eins teilpflegen. Ich suche noch ein wenig die Ironie in den Worten, ich solle mich so gut es geht von meinen Kindern isolieren, ausruhen, alles regelmäßig desinfizieren. Dabei bin ich froh, wenn ich hier für regelmäßige Mahlzeiten & Beschäftigungen sorgen kann, während mein Körper vor sich hin fiebert, Atmung schwer fällt, während mein Gehirn mir eine Predigt darüber hält, dass ich funktionieren muss, dass die Kinder nicht zu lange digitalen Medien ausgesetzt werden sollten, Homeschooling stattfand & noch vielen weiteren Erwartungen, die an Elter(n) gestellt werden.

    Ich habe einen relativ milden Verlauf, dass ist Glück, denn ich wüsste nicht, wie all das Alleinerziehende bewältigen sollten, wenn es schlimmer kommt. Nach außen hin wirkt mein 15jähriger Sohn oft sehr selbstständig, aber viele haben einfach keine Vorstellung davon, was Pflege alles beinhaltet: Es fängt beim Essen an & hört nicht bei Hygienedingen vor- & nachbereiten auf. Du musst eine halbwegs ok Tagesstruktur & Beschäftigung aufrechterhalten, die sonst von den Einrichtungen, die dafür ausgebildet sind, erledigt wird & das ist nur ein kleiner Auszug. Dabei geht es nicht nur um Corona, sondern ist eine immer wiederkehrende Frage, wenn Alleinerziehende krank werden, nur das jetzt eine 100% Isolation von der räumlichen Außenwelt dazu kommt.

    Ohne das seit Jahren aufgebaute, praktisch solidarische Netzwerk könnte ich das nicht so gut bewältigen. Auch wenn hier, auf den paar Quadratmetern, uns niemand helfen kann, niemand sagt: „Ruh dich aus, kurier dich“, ist das doch etwas, was sehr hilft. Es fängt bei der Lebensmittelversorgung an, geht über ‚fertige Mahlzeiten vor der Tür abstellen‘, über Gespräche die für ein wenig mental health sorgen, bis hin zu Menschen, die selbst schon Corona hatten, für die es möglich wäre, Kinder aufzunehmen, um diese zu schützen, aber auch, falls Infizierte schwerere Verläufe haben, für Entlastung zu sorgen. 

    Ein weiterer Gedanke ist, wie das Risiko andere zu infizieren, minimiert werden könnte, wie gegenseitiges Entlasten in verschiedenen Bereichen möglich gemacht werden kann.

    Dazu braucht es ein Umdenken, es braucht eine Gesellschaft, die das System umlenkt, damit Menschen dafür Raum bekommen oder sich diesen endlich nehmen & nicht nur für Staat, Miete & Kapitalismus funktionieren.

    Ein praktisch-solidarisches Miteinander aufzubauen braucht Zeit, es gibt viel Theorie dazu, aber mehr denn je rückt in den Mittelpunkt, dass diese auch praktisch umgesetzt werden muss, in diesen Umständen, in dieser Zeit und ich bitte jede_n sich selbst zu hinterfragen, inwiefern das mit den eigenen Kapazitäten möglich werden kann & nicht nur eine immer wiederkehrende Utopie bleibt.

    Für ein praktisch solidarisches Miteinander & um Leben zu retten.

  • Gute Kommunikation mit neurotypischen Menschen

    Sorry! Ich wollte dich nicht verunsichern!
    Sorry, dass ich das nicht berücksichtigt habe.
    Danke für die gute Kommunikation!

    gemochter Politgruppenmensch

    Es ging darum, dass ich – gerade bei neuen Menschen – nicht unbedingt auseinanderhalten kann, ob Menschen im Spaß pöbeln oder ernsthaft verletzt sind. (In diesem Fall war die Begründung einfach. Die Person pöbelt gerne und ich lieferte ausnahmsweise eine Steilvorlage zum Pöbeln, die natürlich genutzt wurde.) Gute Kommunikation bedeutet, dass wir offen darüber reden können.

    Vorauseilender Gehorsam

    Ich jedoch wusste das nicht – und habe mich für meine Aussage entschuldigt, weil ich nicht einordnen konnte, ob ich eine Grenze überschritten hatte – oder nicht. Bevor ich also eine unangenehme Situation von allen Seiten überdenke, entschuldige ich mich lieber für den Fall der Fälle – und gebe die Möglichkeit, die Situation zu korrigieren. Ich habe gelernt, wenn ich das nicht tue, eskalieren Situationen. Es ist sehr anstrengend, immer darauf zu achten, „alles richtig“ zu machen. Ich habe oft Angst in sozialen Situationen.

    Ich musste auch erst lernen, dass diese Möglichkeit besteht. Seitdem ist sie ein guter Lackmus-Test, inwieweit Personen bereit sind, meine Form der Kommunikation zu akzeptieren. (Da ich jetzt weiß, dass die Person gerne pöbelt, kann ich entsprechendes Verhalten auch einordnen und reagieren – es halt also nur Klarheit gebracht. Sehr positiv.)

    Gleichzeitig entschuldigt sich die Person im Anschluss dafür, mich (und meine Form der Kommunikation) nicht bedacht zu haben. Das finde ich lieb, aber gleichzeitig ist das ein Anspruch, den ich weder an mich, noch an andere Menschen stelle. So wenig, wie ich die Bedürfnisse von neurotypischen Menschen automatisch in meine Kommunikation einbeziehen kann, so wenig erwarte ich von neurotypischen Menschen, dass sie mich in ihre einbeziehen.

    Betriebssysteme

    Wir laufen einfach auf komplett unterschiedlichen Betriebssystemen. Davon ist keins schlechter oder besser, aber sie funktionieren fundamental unterschiedlich. Das haben sogar Studien belegt. Wenn es eine Gruppe aus autistischen und eine Gruppe aus neurotypischen Menschen gibt, die „Stille Post“ spielen, ist das Ergebnis ungefähr gleich gut. Mischt man beide Gruppen, entsteht Wortsalat.

    Ich kann nicht nachvollziehen, wie Menschen Sarkasmus, Ironie, Witz oder auch versteckte Ernsthaftigkeit in Worten kommunizieren können, die für mich alle gleich klingen, während neurotypische Menschen nicht nachvollziehen können, dass für mich alles gleich klingt. Ein Gespür dafür zu haben, was „angemessen ist“, kenne ich nicht.

    Gleichzeitig kann ich verstehen, dass es „eben so ist“. Während die ableistische Gesellschaft, in der neurotypische Kommunikation die Norm ist, erwartet, dass ich „es eben kann“. Oder wenigstens so tue, als könnte ich es. Das Ergebnis: Die verletzten Gefühle neurotypischer Menschen und ein verwirrrtes, überfordertes Ich.

    Es ist also sogar eher ein Zeichen von guter, funktionierender Kommunikation, wenn ich euch „seltsam“ vorkomme – oder gar nachfrage. Ich vertraue dem Gruppengefüge ausreichend, um nicht maskieren zu müssen. Kann „ich“ sein und gleichzeitig sicher genug, dafür nicht bestraft oder ausgegrenzt zu werden. Ich erlebe aber immer wieder, dass „gute Kommunikation“ sehr viel Arbeit ist. Bestrafung von Menschen, die nicht ausreichend maskieren, ist einfacher.

    Ich kann Teil der Gruppe, der Kommunikation sein, ohne mich auf meine übliche Rolle – beispielsweise als professionell Awarenessperson – zu beschränken. Die einzig sichere Kommunikation habe ich, wenn ich eine feste Rolle übernehme. Das macht sehr einsam. Soziale Kontakte sind damit kaum möglich.

    Meine Rolle, meine Bühne

    Awarenessarbeit fällt mir leicht, weil es mehrere Punkte vereint, die mir helfen:

    1. Ich bin kein Teil des Geschehens. Von mir wird keine zwischenmenschliche Kommunikation erwartet, sondern eine beobachtende Position.
    2. Wenn ich benötigt werde, wenden sich Menschen an mich, um ein individuelles Problem zu lösen, das Teil einer strukturellen Problematik (Diskriminierung) ist.
    3. Menschen erwarten keinen Trost vom Awarenessteam, sondern Unterstützung und Hilfe. Somit werden auch Emotionen auf einer informativen Ebene übermittelt, statt zu erwarten, dass bekannt ist, was die betroffene Person braucht. (Einer der Gründe, warum ich gut darin bin: Ich nehme sehr viele Ebenen nicht wahr und kann deshalb die erhaltenen Informationen mit strukturellen Diskriminierungen vergleichen und entsprechend einordnen sowie Lösungen anbieten.)

    Wenn ich mich aus dieser begleitenden, beobachtenden Position herausbewege, ist das ein Zeichen dafür, dass ich mich in Gruppen wohlfühle. Gleichzeitig erhöht es das Risiko, dass ich Verhaltensweisen zeige, die neurotypische Menschen als „unpassend“ oder „seltsam“ wahrnehmen und ich im Anschluss nicht nur die Gruppe, sondern auch die offizielle Position als Awarenessperson verliere.

    Gute Kommunikation

    Deshalb bin ich durchaus vorsichtig, in welchen Gruppen ich mich sicher genug fühle, so aus mir herauszugehen, dass ich „die Maske absetze“, also nicht dauerhaft darauf achte, möglichst neurotypisch zu agieren.

    Ich brauche die Möglichkeit, meine Unsicherheit zu zeigen. Nachzufragen, ob ich es richtig verstanden habe. Dann muss ich gar nicht „mitgedacht“ werden. Ein gleichberechtiger Platz mit meiner Andersartigkeit umzugehen, reicht mir. Vor allem, weil ich mit Entschuldigungen, die ich als unlogisch (weil beispielsweise unmöglich) wahrnehme, ebenfalls nicht umgehen kann.

  • Erlernte Kommunikation – die Grammatik neurotypischer Interaktion

    Sei mal höflicher, sei respektvoll! Ich finde wirklich nicht gut, wie du hier mit Menschen umgehst.

    A.

    Wie?

    Ich.

    Jetzt wirst du auch noch passiv-aggressiv! Bist du denn gar nicht kritikfähig?!

    A.

    *verlässt die Gruppe*

    Ich.

    Eine – für mich – typische Situation, wenn ich (meiner Meinung nach) höflich Kritik geübt hatte. Oder auch nur in Situationen, die ich nicht genau verstanden hatte, nachfragte. Diese Situation findet sich vor allem in näherer Vergangenheit wieder. Meine erlernte Kommunikation ist offensichtlich auch nach über zwanzig Jahren noch nicht gut genug.

    Die Schulzeit dagegen war geprägt von Mobbing und Ausschlusserfahrungen. Weil ich „anders“ war und nicht verstanden habe, inwiefern sich meine Andersartigkeit bemerkbar macht. Ich war im besten Fall „seltsam“, im schlimmsten Fall wurde ich bestraft.

    Wenn sich dieses Verhalten nach jedem Schulwechsel, jedem Klassenwechsel wiederholt, dann lernt das betreffende Kind (in diesem Fall Ich), dass es definitiv nicht an den anderen Kindern liegen kann. Sonst würde der Wechsel ja helfen. Oder, um es mit einem beliebten Zitat meiner Mutter zu sagen:

    Im Radio kommt eine Durchsage über einen Geisterfahrer auf der A4. „Einer?! Hunderte!“

    Der Geisterfahrer.

    Der Witz ist hier, dass dem Geisterfahrer (also der Person, die auf der Autobahn in die falsche Richtung fährt), gar nicht bewusst ist, dass sie die Person ist, die sich falsch verhält. Und das auf alle anderen (die sich richtig verhalten) projiziert.

    Ich dagegen wusste früh: Es liegt an mir. Nur, was genau ich „falsch“ mache, das konnte mir nicht erklärt werden. Ich hatte das Gefühl, alle anderen Kinder (und mittlerweile Erwachsenen) hatten einen geheimen Lehrgang in Kommunikation. Aber ich fehlte dort. Meine erlernte Kommunikation ist also die Imitation eines intuitiven Vorgangs.

    Mittlerweile habe ich Worte dafür – und eine Erklärung.

    Während neurotypische Kinder in ihrer Sozialisation Zugang auf alle Ebenen der Kommunikation (emotionale Ebene, Beziehungsebene, Mimik und Gestik und Informationsebene) haben, bleibt (verbalen) autistischen Kindern ausschließlich die Informationsebene. Gleichzeitig ist diese ihre natürliche Art der Kommunikation. Somit fällt ihnen zunächst nicht auf, dass es bei anderen Kindern (und Erwachsenen) anders ist.

    Später fällt diese „Andersartigkeit“ dann jedoch auf. Doch weil neurotypische Kinder ihre Kommunikation als „natürlich“ empfinden (und ihn der Mehrheit sind), werden autistische Kinder als „anders“ gekennzeichnet.

    Das bedeutet, dass ich nichtautistische Kommunikation lernen musste. Wie eine Fremdsprache, deren Feinheiten sich mir nicht immer erschließen. In der ich niemals mit der gleichen Eloquenz ausgestattet werde, wie in meiner Erstsprache. Die ich jedoch mittlerweile meistens ausreichend beherrsche, um meine Fremdsprachigkeit zu maskieren.

    Der Weg dorthin war lang und schmerzhaft. Nichtautistische Menschen verstehen nicht, dass das, was ihnen intuitiv zufliegt (beispielsweise ein Verständnis davon zu haben, was „höflich“ und „respektvoll“ sein soll) für mich eine erlernte Verhaltensweise ist. Ich versuche, ihr zu entsprechen. Aber es gelingt nicht immer.

    Mein „Wie“ war also, wenn das auch in der Vorstellungskraft von Nichtautist_innen selten Raum findet, nicht passiv-aggressiv oder verletzend gemeint. Es war rein sachlich. Ich wollte wissen, was die andere Person von mir erwartet, um mein Verhalten entsprechend anpassen zu können. Das kam jedoch (wie häufig) nicht an.

    Und mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich mich nicht mehr „falsch“ fühle. Höchstens am falschen Ort und in der falschen Gruppe, aber nicht inhärent aus mir heraus.

    Es ist in Ordnung, anders zu kommunizieren als neurotypische Menschen. Es ist nicht per se schlecht; gerade in Kontexten, in denen es darauf ankommt, sachliche Zusammenhänge aus Kommunikation zu filtern. Dort habe immense Vorteile. Und auch viele Meetings, Treffen und Plena würden davon profitieren, wenn Menschen weniger auf der emotionalen Ebene und mehr auf der informativen Ebene kommunizieren. (Anstatt Gewaltfreie Kommunikation anzuwenden.)

    Gleichzeitig ist es auch in Ordnung, autistische Kommunikation nicht nachvollziehen zu können. (Ich kann es bei neurotypischer Kommunikation, auch wenn ich gelernt habe, sie nachzuahmen, schließlich auch nicht.) Wichtig ist, dass Raum gelassen wird, es zu erklären, anstatt die eigenen Erwartungen auf eine Leinwand zu projiziere. Diese besteht ärgerlicherweise nicht aus Stoff, sondern aus organischem, menschlichem, fühlendem Material.

    Darüber, wie gute erlernte Kommunikation zwischen neurotypischen Menschen und Autist_innen (vor allem in Gruppen) funktioniert, könnt ihr hier nachlesen. Wenn alle Beteiligten aufeinander zugehen und Kommunikation lernen, gewinnen auch alle davon!

  • Die Frau als politische Kategorie – (k)ein Sternenhimmel

    Der Sternenhimmel wurde freundlicherweise eingelesen von Karisma Kaftanï.

    Alle Frauen* sind herzlich willkommen!

    Beliebiger, feministischer Aufruf.

    Der sogenannte „Sternenhimmel“ (das Anfügen eines Asterisk an Substantive) wird in feministischen Kontexten in vier verschiedenen Interpretationen verwendet. (Vielleicht gibt es mehr, mir sind vor allem diese vier bekannt):

    1. Geschlecht ist konstruiert

    Geschlecht ist konstruiert. Jup. Ist Kapitalismus, Geld und BAföG auch, trotzdem machen wir kein Sternchen dran. Sprache schafft Konstruktionen, Gesellschaft ebenso. Unter den Begriff „Frau“ fallen mehrere Kategorien, sowohl biologisch-biologistische, als auch soziale. (Für die Erhebung von Umfragen ist die biologistische Zuschreibung von Frauen weniger relevant als ihr Personenstand. Für die medizinische Erhebung ist die biologistische Zuschreibung ausschlaggebend.) Dennoch sind beide Kategorien nicht „naturgegeben“, sondern menschengemacht.Definitionen sind eine gesellschaftliche Übereinkunft über die Bedeutung von Wörtern – und damit konstruiert.

    2. Frauen* als cis Frauen, trans Männer und afab nichtbinäre Personen

    Frauen* = cis Frauen, trans Männer und afab nichtbinäre Personen [mindestens zwei Gruppen werden gerade misgendert und auf angenommene Genitalien bzw. Sozialisierung reduziert]. Schließt trans Frauen vom Diskurs aus und ist transmisogyn. Die meisten trans Personen steckten sehr viel Zeit, Geld und Energie in den Prozess der Transition. Nicht mehr als „Frau“ bezeichnet zu werden, bzw. als Frau anerkannt zu werden, ist ein Erfolg.

    3. Frauen* als cis Frauen und trans Frauen

    Frauen* = cis Frauen und trans Frauen. [Unterscheidung zwischen „normalen“ Frauen (die, die kein Sternchen brauchen) und trans Frauen (die dadurch als „anders“ markiert werden)]. Trans Frauen sind Frauen, deshalb ist die Unterscheidung bzw. diese Hervorhebung überflüssig, wenn es um die Erfahrungen aller Frauen geht.

    4. Frauen* als politische Kategorie

    Frauen* als politische Kategorie (vgl.: Koschka Linkerhand, Antje Schrupp): ähnelt der dritten Kategorie, schließt aber trans Frauen mit ein. Weiblich gelesene Menschen (afab) und trans Frauen werden zu einer Gruppe zusammengefasst, die als „weiblich sozialisiert“ gilt, in Anlehnung an „das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir. Die Zusammenfassung übersieht jedoch die spezielle Situation, die alle nicht-cis-Frauen haben, vor allem bezüglich Erwartungsdruck und Annehmen von Geschlechterbildern. Sie werden doppelt „anders gemacht“. Einerseits als Abgrenzung zu cis Männern, andererseits als nicht-cis-Frauen, die sich selbst nicht in der erwarteten Kategorie wiederfinden können.

    Historischer Überblick und Nutzen vom Sternenhimmel

    Die ersten drei Interpretationen sind in den meisten Fällen nutzlos, um eine eingeladene Gruppe zu definieren.
    Sie eignen sich höchstens als Indikator, um eine Veranstaltung (als trans Person), nicht zu besuchen.
    Der Begriff entstand historisch. Aus den FrauenRäumen wurden die FrauenLesbenRäume und schließlich die Frauen*Räume. (Damals teilweise noch mit Listen, in denen man einzeln aufschlüsselte, wer alles unter das Asterisk fällt). Hier war der Sternenhimmel sogar dann eine ewige Fußnote, länger als der Begriff selbst. Mittlerweile ist der politische Diskurs jedoch an einem anderen Punkt, schon generationenbedingt.

    präzise Alternativen

    Andere Formulierungen wären präziser, um die Eingeladenen zu spezifizieren. Ein Workshop über Vulven ist für alle Menschen mit Vulva interessant, ein Erfahrungsaustausch über Menstruation interessiert nur Menstruierende. Und über Sexismus können alle Personen reden, die Sexismus erfahren. Wenn eine Einladung cis Männer ausschließt, dann formuliert das! Ebenso wie die explizite Einladung von inter-cis-Männern, aber die Ausladung von endo-cis-Männern. Das erfordert ein wenig mehr Arbeit als ein Sternenhimmel von „Frauen*“, sorgt aber dafür, dass Menschen sich sicher sein können, auch willkommen zu sein. Hier und hier und hier findet ihr übrigens Texte darüber, warum andere Menschen den Begriff „Frauen*“ problematisch bis diskriminierend finden.

    „das andere Geschlecht“

    Die vierte Kategorie ist jedoch interessant, weil sie in ihren Grundzügen eine Analyse vorbringt, die de facto stattfindet. Zur Frau gemacht werden.

    Menschen, die als Säugling (teilweise schon als Embryo) als „weiblich“ kategorisiert wurden, erhalten eine andere Art der Erziehung als solche, deren Zuordnung „männlich“ war. Daher kommt auch die (verkürzte) Analyse, trans Frauen hätten eine „männliche Sozialisation“.

    Sozialisation ist jedoch nichts, was man passend zum angenommenen Geschlecht in eine Person hineinstopft. Und auch nichts, was die entsprechende Person dann „passend“ tut. Sozialisation ist gesellschaftlicher Umgang, sind Geschlechterrollen, Erwartungen und Darstellungen.

    Wird ein Säugling für ein Mädchen gehalten, bietet man ihm vor allem Puppen, sozialer Kontakt und emotionale Auseinandersetzung an. Bei einem für männlich gehaltenen Säugling sind es Autos, Technik und ‚körperliches‘ Spielen (angedeutetes Raufen, rauhere Stimme). Eben das, was wir als „Geschlechterklischees“ kennen. Gleichzeitig ändert sich das Verhalten, wird ein Säugling mit Penis in einen rosa Strampler gesteckt und der Säugling mit Vulva in einen blauen. Hier wurde das populärwissenschaftlich aufbereitet. Es ist im Video gut zu sehen, wie die unterschiedliche Erwartungshaltung an das Baby herangetragen wird.

    Sozialisierung und Erwartungen

    Mit dieser Erwartungshaltung, die an den Genitalien festgemacht wird, wachsen also alle Kinder auf, cis und trans. Während cis Kinder jedoch innerlich den erwarteten Rollen entsprechen, leiden trans Kinder vor allem darunter, dass die Erwartungen an sie „falsch“ sind. Trans Mädchen lernen, dass der „Mann im Kleid“ ein zu verlachendes Trope ist. Trans Jungen lernen, dass „maskuline Mädchen“ gebrochen und erzogen werden müssen. Sie verhalten sich (zumindest bis sie meist lernen, es zu maskieren, weil sie nicht sein dürfen) ihren Rollenbildern entsprechend. Aber konträr zu den Erwartungen von außen.

    Auf die Spitze getrieben wird dies von den Vorgaben, sobald sich trans Personen in die Zwangstherapie begeben. Wer nicht bereits als trans Mädchen mit Puppen gespielt hat oder alt trans Junge Autos liebte, erfüllt nicht ausreichend Geschlechterklischees, um trans zu sein. Im schlimmsten Fall sagt die begutachtende Person „Nein“ und ruiniert dadurch Leben. Gleichzeitig wird trans Personen vorgeworfen, Geschlechterrollen zu zementieren. Ein Vorwurf, den Menschen, die immer „noch weiblicher“ und „noch männlicher“ sein mussten, um als „echt“ zu gelten auch noch zu Täter_innen in einer Gesellschaft macht, die sie zunächst zu diesem Verhalten gezwungen hat.

    politische Kategorie Frauen*

    Aber zurück zum Thema der „Kategorie Frau“. Auf Kinder wirken nicht nur die Erwartungen auf das eigene Geschlecht ein, sondern auch die Erwartungen auf „das andere Geschlecht“. Im Fall von cis Kindern sind hiermit die Rollen klar verteilt. Trans Kinder dagegen versuchen zunächst, die ihnen entsprechende Rolle zu erfüllen und lernen durch Ablehnung und Zurückweisung, in der konträren Rolle zu funktionieren. Nichtbinäre Kinder haben gar keine Rolle, die „zu ihnen passt“. Und somit nur die Wahl zwischen „falschen“ Erwartungen – ohne aber eine zu haben, die sich vollständig „richtig“ anfühlt.

    Wenn ich von „fühlen“ und „empfinden“ schreibe, meine ich hier einen unterbewussten Prozess, der sich über Jahre hinweg abspielt und nicht bewusst realisiert oder gar analysiert wird. Es geht um das Aufwachsen in einer Gesellschaft. Patriarchal, sexistisch und misogyn organisiert, die „Frauen“ als Negativversion von „Männern“ wahrnimmt und gestaltet. Somit ist die Idee einer „politischen Kategorie“ für alle, die nicht endo-cis-männlich sind, tatsächlich eine notwendige Analysekategorie, um die Vorherrschaft ebenjener Kategorie beschreiben, analysieren und schlussendlich kritisieren zu können.

    Fazit

    Ich kann auch nachvollziehe, warum „Frau*“ als Begriff gewählt wurde. Macht er doch cis Frauen sichtbar und eröffnet gleichzeitig das Feld für all jene, die ebenfalls betroffen sind, ohne cis Frauen zu sein. Gleichzeitig finde ich eine Umbenennung dieser Kategorie aus zwei Gründen notwendig. Zum einen wird der Umstand, dass „weibliche Sozialisation“ keine homogene Erfahrung ist, über das notwendige hinaus verkürzt. Zum anderen werden dadurch Menschen „zur Frau gemacht“, die Zeit ihres Lebens (spätestens nach dem inneren Outing) mit dieser Bezeichnung eine schmerzhafte Auseinandersetzung hatten.

    Als Oberbegriff würde sich grundsätzlich FLINTA (Frauen, Lesben, Inter, Nichtbinär, Trans, Ageschlechtlich) beziehungsweise FINTA (Frauen, Inter, Nichtbinär, Trans, Ageschlechtlich) anbieten, alternativ auch andere Varianten. Präzise Sprache halte ich für notwendig, um einen Diskurs über Strukturen führen zu können, der Sternenhimmel mit vier (oder mehr) Interpretationsmöglichkeiten eignet sich deshalb eher weniger dafür.

  • Weihnachten und Autismus – oh, du Scheußliche

    Ich habe Angst. Ich muss lächeln. Freude. Da muss Freude da sein. Papa filmt. Ich darf nicht auffallen. Ich packe das Geschenk aus. Es ist Bettwäsche. Ich lächele. Ich freue mich. Ist das so richtig? Ich FREUE mich. Es ist Weihnachten.

    Gedanken an Weihnachen. Ich bin ungefähr sieben Jahre alt.
    Falls du dir den Blogpost lieber anhörst, als ihn zu lesen.

    Weihnachten. Fest der Liebe, des Beisammenseins, des Krippenspiels. Ich mochte das Krippenspiel, ich hab jahrelang mitgespielt. Mir fiel und fällt es leicht, Texte zu lernen, sie auswendig vorzutragen. Und Emotionen und Schauspieltalent verlangt ein Krippenspiel meist nicht.

    Danach ging es nach Hause. Es gab zuerst Abendbrot und dann die Bescherung. Ich habe immer ein bisschen Angst davor. Denn ich weiß, dass Freude erwartet wird. Kenne auch die Vorwürfe, man „könne es mir nicht recht machen“. Ich weiß, dass ich „Danke“ sagen muss, aber nur „Danke“ reicht nicht.

    Ich muss auch irgendwas mit meinem Gesicht machen. So einen Eindruck darauf hinterlassen, der richtig interpretiert wird. Ich scheitere – alle Jahre wieder. Meine Eltern und meine Großeltern sind unzufrieden. Denn ich zerstöre das Weihnachtsfest. Strahle die „falsche Stimmung“ aus.

    Ich weiß nicht, was ich verkehrt mache. Also sehe ich mir Videos an. Lerne, welchen Gesichtsausdruck Kinder in Weihnachtsfilmen haben. Ich lerne, welchen Gesichtsausdruck Kinder haben, die Geschenke bekommen. Ich lerne, überschäumende Freude und Dankbarkeit darzustellen, Menschen zu umarmen, zu küssen, mich zu freuen.

    Es ist irrelevant, was es für Geschenke sind. Meistens sind es Bettwäsche, Socken oder Unterwäsche. Aber darum geht es ja auch nicht. Sondern es geht darum, dass ich zeige, dass ich mich freue. Das ich das „richtige Gefühl“ vermittele. (Außerdem mag ich praktische Geschenke. Sie haben einen Nutzen und sollen nicht nur hübsch aussehen.)

    So, wie es von mir erwartet wird.

    Gelobt werde ich dafür, wenn ich Geschenke so auspacke, dass das Geschenkpapier wiederverwendet werden kann. Und ich bin sehr sorgfältig. Reiße keine Geschenke auf wie meine Schwester, sondern ich fummele die Klebestreifen vorsichtig ab. Ich bin immer sehr stolz auf mich, wenn ich es schaffe, sie zu lösen, ohne das Papier einzureißen oder den Aufdruck abzulösen.

    Ich würde dafür auch ein Messer benutzen, wenn ich dürfte.

    Aber ich darf nicht, Messer sind zu gefährlich. Ich lächele. Hauptsache, die „richtige Stimmung“ ausstrahlen. Mein Gesicht ist heiß, ich ich habe Kopfschmerzen. Aber die Stimmung, die Stimmung! Bloß nichts falsch machen, nichts ruinieren.

    Heute fahre ich nicht mehr zu meinen Eltern. Ich verbringe Weihnachten mit Menschen, bei denen ich nicht maskieren muss. Hier darf ich mich über Geschenke im Stillen freuen, wie ich möchte. Muss mich nicht schlecht fühlen, wenn mich „Schenken“ und „beschenkt werden“ überfordert.

    Ich bin in einem zu Hause angekommen, das mich akzeptiert.

    Aber ich weiß, dass es für meine Eltern nicht einfach war. Sie wussten nichts mit mir anzufangen, ich konnte mich nicht verständlich machen. Sie haben ihr Bestes gegeben – ohne zu wissen, was mit mir „nicht in Ordnung“ war. Ich war jahrelang in Therapie, ohne, dass es erkannt worden ist – ich mache ihnen keinen Vorwurf. Ich schreibe nur für die Autist_innen (und Eltern autistischer Kinder und Partner_innen autistischer Erwachsener), die sich in der gleichen Situation wiederfinden wie ich heute.

  • Trans und Autist_in – ein Spagat zwischen zwei Welten.

    Stell dich nicht so an, du willst doch Toleranz.

    Twitter (anonymisiert)

    Ich brauche den Unterstrich zwischen Autist und _in, um mich repräsentiert zu fühlen. Ich bin nicht nur Autist oder Autistin, ich bin nichtbinär – und Autist_in.

    Ich habe mein Leben lang (gut, seitdem ich fünf Jahre alt war) mit unterschiedlichen Diagnosen gelebt. AD(H)S war dabei, Borderline, histrionische Persönlichkeitsstörung, Depression – letztere ist mir geblieben, alles andere wurde mehr oder weniger ausprobiert und als unpassend verworfen. Das AD(H)S erst, als auch der zweite Versuch mit einem Ritalinpräparat gnadenlos und grandios schief ging.

    Die Therapeutin, bei der ich war, um meine Transgeschlechtlichkeit pathologisieren zu lassen (und die das sehr wohlmeinend und umsichtig getan hat), hat mir außerdem Fragebögen mitgegeben zu Auffälligkeiten, die ihr ebenfalls aufgefallen waren. Dabei: ein Fragebogen zu Essstörungen (das war mir bekannt, dass ich damit Probleme habe) und ein Fragebogen zu Autismus (das war neu).

    Der letzte Fragebogen brachte dann den sprichwörtlichen Stein ins Rollen – ich überschritt die Grenzwerte so deutlich, dass sie mir eine Diagnostik bei einem Autismus-Spezialisten nahelegte. Schlussendlich suchte ich einen auf. Noch mehr Fragebögen.

    Fragebögen, deren Fragen für mich so formuliert waren, dass ich mehrmals schreiend auf dem Sessel saß, voll Verzweiflung, weil sie keine passende Antwortmöglichkeit boten, weil sie nicht nachvollziebar waren, nicht logisch genug. („Sind Sie nachtragend?“ – Ich weiß es nicht. Was meint die fragenstellende Person mit „nachtragend“? Ab wann ist ein Verhalten „nachtragend“? Bis wann ist es angemessen, Menschen ihre Taten vorzuhalten? – ein Beispiel von vielen, jedoch eines, das mir als besonders schwierig in Erinnerung geblieben ist.)

    Außerdem persönliche Interviews, es wurde mit mir gesprochen, mit meinem Vater, die Kindheit wurde komplett aufgerollt, meine Mobbingerfahrungen, die Menge von Freund_innen, mein Sexual- und Beziehungsleben. ich musste zeigen, wie ich mir die Zähne putze, das beschreiben, Comics beschreiben und Puzzles lösen. Am Ende blieb ein Gutachten, das Asperger-Syndrom bescheinigt – kurz: Autismus.

    Jetzt hatte ich einen Namen für das, was mich „anders“ machte. Ich verstand, warum ich mich in den meisten Gruppen und bei Gruppenarbeiten schnell unbeliebt machte, warum ich dissoziierte, wenn ich ohne Kopfhörer draußen unterwegs war, warum ich so dringend Routinen in meinem Leben brauchte. Gleichzeitig nahm ich Testosteron, änderte meinen Personenstand und meinen Vornamen, wurde zu MIR.

    Ich sah Bilder von mir, als ich Kind und Jugendliches war, ich sah, dass ich nicht in das erwartete Geschlecht passte, ich performte es nicht. Ich erinnerte mich, wie ich gesellschaftliche Konventionen, Smalltalk und „typisch dörfliche“ Höflichkeit (die ich eher als übergriffig empfand) nie verstanden hatte – oder gar selbst darstellen konnte.

    Ich hatte Worte gefunden. Worte, die mich zu mir machten.

    Gleichzeitig las ich Bücher über Autismus, die das Thema „trans“ nie auch nur anschnitten und Bücher über Transgeschlechtlichkeit, in denen Autismus nicht vorkam.

    Ich war nicht vorgesehen und jedes Mal fehlte von mir ein Stück, das aber gleichzeitig inhärent wichtig war, um meine Weltsicht darzustellen.
    Neurotypische trans Personen erleben die Welt anders als ich – und cis AutistInnen ebenfalls.

    Selbsthilfegruppen für AutistInnen waren transfeindlich – absichtlich oder unabsichtlich oder wollten sich gar nicht mit dem Thema befassen. Nachdem ich zu oft misgendert wurde oder nach meinen Genitalien ausgefragt, ging ich nicht mehr hin.

    Gruppen für trans Personen waren offener, gleichzeitig wurde oft und viel auf einer emotionalen Ebene kommuniziert, zu der ich keinen Zugang habe. Dadurch kam es vor, dass ich Menschen verletzt habe, ohne es zu wollen, weil ich nicht kommunizieren konnte, ohne missverstanden zu werden – ein Problem, das viele Autist_innen ebenfalls kennen.

    Ich lese vermehrt, dass sich autistische Kinder und Jugendliche für trans halten würden, um Anschluss zu finden, um Zugang zu Hilfe zu erhalten und „vorschnelle, lebensverändernde Maßnahmen“ ergreifen würden. Gleichzeitig wäre es tragisch, dass diese Kinder „nur noch“ eine trans-Sichtweise kennenlernen würden. Das macht mich fassungslos. Ich weiß nicht, in welcher Welt diese Menschen leben, aber ein als AutistIn diagnostiziertes Kind wird höchstwahrscheinlich nicht in einer Welt aufwachsen, in der Transgeschlechtlichkeit der „übliche“ Lebensweg ist.

    Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die trans Community nicht unbedingt ein rosafarbener, fluffiger Raum voll Liebe und Zuneigung ist – und als neurodiverse Person macht 1 sich auch nicht unbedingt Freund_innen, wenn grundsätzliche Ebenen der Kommunikation nicht betreten werden können. Warum sollte also der Rückhalt einer autistischen peer group verlassen werden, um eine trans Gruppe zu finden, in der eine Person im Zweifel unerwünscht und unglücklich ist – wenn die Person cis ist?

    Trans zu sein, ist kein Zuckerschlecken und um „lebensverändernde“ Maßnahmen zu ergreifen, stehen Psycholog_innen, Mediziner_innen, geltendes Medizinrecht (Operationen frühestens mit der Volljährigkeit) und eine argwöhnische Gesellschaft dem gegenüber.

    Es ist anstrengend, misgendert zu werden, sich selbst einen Platz suchen zu müssen, öffentliche Toiletten nicht benutzen zu können. Das machen Menschen nicht, weil sie es können oder es Spaß macht.

    Es gibt sogar Studien, die eine Korrelation zwischen trans und Autismus erkennen.1 Ich möchte nicht, dass Kinder in dem Klima aufwachsen, in dem ich aufgewachsen bin.

    Ich möchte, dass sie alle Optionen haben. Trans zu sein, autistisch zu sein, in beiden Fällen Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Wenn sie sich gegen eine Transition entscheiden, wenn es „nur eine Phase“ ist, dann ist es gut. Auch in einzelnen Phasen des Lebens sollen Menschen alle Unterstützung bekommen, die sie brauchen und wollen. Und wenn sie sich für eine Transition entscheiden, auch dann sollen sie Hilfe und Unterstützung erhalten. Ich möchte mich für Inklusion und Transgeschlechtlichkeit einsetzen können, ohne abwechselnd zurechtgewiesen zu werden, ich wolle doch Toleranz, ich müsse doch mit dem Ableismus/der Transfeindlichkeit zurecht kommen. Ich wäre doch das Problem, ich wolle doch zu viel.

    Nein. Ich will das gleiche wie ihr, aber ich muss es an zwei Fronten durchsetzen. Ich will Autist_in sein – trans inklusive. Ich kann nicht einen Teil von mir zu Hause lassen, um Aktivismus in einem Feld zu machen – und dann den anderen Teil mitnehmen, wenn es um ein anderes Thema geht.

    Ich schreibe für mich, aber ich schreibe genauso für trans Geschwister und Autist_innen, die ebenso verloren durch zwei Welten irren, die beide nur begrenzt für sie gemacht sind. Und ich schreibe dafür, dass diese Welten lernen, dass es kein „entweder-oder“ sein muss, sondern auch ein „sowohl als auch“ sein kann.

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