Kategorie: die Gastbeiträge – Kaugummi, Schokolade, Lakritze

  • trans* Day of Remembrence – 2022 von Sternchen

    Die Content Notes für diesen Redebeitrag sind trans* feindlichkeit, Rassismus,
    Antisemitismus, Klassismus, Ableismus, Saneismus, Mord, Suizid, psychische, körperliche,
    emotionale und sexualisierte Gewalt und Sexworker*innenfeindlichkeit

    [30 sek]

    Hallo, mein Name ist Sternchen, meine Pronomen sind sie/ihr, oder keine, ich bin nicht binär und
    transfeminin, im aromantischen und asexuellem Spektrum, neurodivergent, chronisch
    psychisch krank, dadurch schwerbehindert und von Armut betroffen.
    Ich lebe von Hartz IV, Straßenmusik und Sexarbeit, ich male auch, verdiene damit aber kein Geld.

    Anteilnahme

    Als erstes möchte ich meine Trauer, meine Ohnmacht, meine Frustration, meine Resignation
    und meine Wut, um alle ermordeten trans*Personen weltweit – in diesem und allen
    vergangenen Jahren – zum Ausdruck bringen. Genauso wie über jede trans* Person die sich
    selbst das Leben genommen hat und die weltweiten Zustände die dafür verantwortlich sind.
    Nichts kann euch wieder zurück bringen, der Schmerz über den Verlust von euch kann nie
    wieder gut gemacht werden.

    Meine Anteilnahme gilt auch ihren Familien,ihren Freund*innen, den Menschen die sie
    geliebt haben und die von Ihnen geliebt worden sind und ihnen nahe gestanden haben. Ich
    wünsche euch alle Kraft und dass ihr ein liebevolles Umfeld habt was euch unterstützt, euch
    Rückhalt bietet, zuhört und euch fragt ob euch etwas gutes getan werden kann und euch den
    Support geben den ihr braucht.

    Zahlen und Fakten

    Ich möchte an dieser Stelle nochmal die Website transrespect und die Ergebnisse des „TMM
    des Trans Murder Monitoring
    “ Projektes zitieren:

    „TMM 2022 data shows that:

    • 327 trans and gender-diverse people were reported murdered;

    • Cases from Estonia and Switzerland were reported for the first time – both victims were migrant Black trans women;

    • 95% of those murdered globally were trans women or trans feminine people;

    • Half of murdered trans people whose occupation is known were sex workers;

    • Of the cases with data on race and ethnicity, racialised trans people make up 65% of the reported murders;

    • 36% of the trans people reported murdered in Europe were migrants;

    • 68% of all the murders registered happened in Latin America and the Caribbean;

    29% of the total happening in Brazil;

    • 35% of the murders took place on the street and 27% in their own residence;

    • Most of the victims who were murdered were between 31 and 40 years old.

    The data continues to indicate a worrying global trend when it comes to the intersections of misogyny, racism, xenophobia, and whorephobia, with most victims being Black and migrant trans women of colour, and trans sex workers. The high number of murder reports from Latin America and the Caribbean can be considerably attributed to the existence of established monitoring systems, and must be understood in the specificsocial, political, economic, and historical contexts in which they occur.These numbers are just a small glimpse into the reality on the ground. The majority of the data came from countries with a strong network of trans and LGBTIQ organisations that conduct the monitoring. Most cases continue to go unreported and, when reported, receive very little attention.“

    Trans Murder Monitoring Project

    Solidarität mit allen trans* Personen

    Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass die folgende Liste nicht hierarchisch sortiert ist und
    keiner bestimmten Reihenfolge einhält. Genausowenig erhebe ich einen Anspruch auf
    Vollständigkeit.

    Gewalt und ihre Formen

    Meine Solidarität teile ich mit allen betroffenen trans*Personen die täglich dem weltweit
    herrschendem und sich verschlimmerndem transfeindlichem Status Quo ausgesetzt sind,
    und der Gewalt der Nationalstaaten mit ihren unterdrückerischen, und großteils
    transfeindlichen Gesetzen.

    Mit allen trans* Personen die jeden Tag psychische, emotionale, sexualisierte und
    körperliche Gewalt erfahren, die mehrfach betroffen sind von Unterdrückungsmechanismen
    wie jeglicher Form des Rassismus, Misogynie, Antisemitismus, Ableismus, Sane-ismus,
    Klassismus, Hetero-, Cis-, Endo -, Allonormiativät oder Sexarbeiter*innenfeindlichkeit und
    damit zusätzlich zu dem was sie ohnehin aushalten müssen konfrontiert sind.

    Kolonialismus und Antisemitismus

    Denen durch den weißen, christlich-europäischen Kolonialismus und Antisemitismus, das
    binäre und heteronormative Geschlechtersystem mit Gewalt aufgezwungen wurde.
    Die sich verstecken müssen, die aufgrund mangelnder und fehlender Strukturen keinen
    ausreichenden Zugang zu Aufklärung, Beratung oder medizinischer Versorgung haben.

    Denen Aufgrund von Illegalität, Staatenlosigkeit, Asylstatus oder eines ungeklärten
    Aufenthaltstitels, der Zugang zu medizinischer Grundversorgung und
    Transistionsmöglichkeiten verwehrt wird.

    Die gemobbt werden. Die fliehen mussten oder sich derzeit auf der Flucht befinden, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, die vom deutschen und anderen Staaten in Gebiete abgeschoben werden, in denen ihnen einen sicheres, unversehrtes, sichtbares und respektvolles Leben nicht möglich ist.

    medizinisches System und Trauma

    Die aufgrund von Armut und mangelnder Kostenübernahme durch die Krankenversicherung, oder dem Fehlen einer solchen keinen Zugang zu Transistionsmaßnahmen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen haben.

    Die ihre Familien und Freund*innenkreise verlieren oder verlassen müssen, weil sie sich
    geoutet haben. Die sich aus Angst vor Unverständnis,Verlustangst, Diskriminierung oder anderer Gewalt,
    nicht trauen sich zu outen. Die sich einsam fühlen. Die niemanden zum reden haben oder der sich mit ihnen freut. Die grenzüberschreitende Fragen gestellt bekommen. Die nicht in die klischeehaften Geschlechterrollenbilder anderen Menschen passen, darüber wie trans* Personen auszusehen oder zu sein haben.

    Mikroaggressionen und Unsichtbarmachung

    Die von der Gesellschaft unsichtbar oder klein gemacht werden, und denen ihre Daseinsberechtigung und ihr Geschlecht mit Gewalt aberkannt wird. Denen die richtige Anrede und die Benutzung der richtigen Pronomen
    verweigert wird. Die sich bezahlt, großteils aber unbezahlt für Aufklärung und gegen Diskriminierung einsetzen. Die sich aus Angst nicht trauen die Wohnung zu verlassen. Die trotz ihrer Geschlechtsidentität die Wehrpflicht erfüllen müssen. Die jeden Tag damit leben müssen, dass endo-cis Personen mehr Entscheidungsrecht über ihren Körper haben als sie selber. Deren Aufklärungsarbeit zensiert und als Kindeswohlgefährdung eingestuft wird.
    Die in bestehenden Safespaces keine sicheren Orte haben, weil sie mehrfach vonDiskriminierung betroffen sind.

    Status Quo: Trans*feindlichkeit

    Die Gewalt und Unterdrückung die trans* Personen täglich erfahren wird von gefühlt nur
    sehr wenigen Menschen, ernst oder wahrgenommen. Sie wird von vielen Menschen, wenn
    auch nicht unbedingt immer in böser Absicht, reproduziert, was ihre Folgen aber weder
    abschwächt noch weniger schmerzhaft macht. Nur weil ich mich gegen eine Form der
    Gewalt bekenne, heißt dass nicht, dass ich sie nicht selber reproduzieren kann.

    sichere Räume? Nicht für uns.

    Und auch innerhalb der linken, anarchistischen, antiautoritären und feministischen Szene ist
    Trans*feindlichkeit, genau wie andere Unterdrückungsmechanismen, ein Teil des Alltags
    betroffener Menschen und ein fester Bestandteil der Stukturen, den es zu bekämpfen gilt.
    Menschen die über Diskriminierung berichten, wird nicht geglaubt und ihnen wird ihr
    Schmerz aberkannt. Ihre Erfahrungen haben oft keinen Platz und werden teilweise als etwas
    individuelles dargestellt.

    Der Nebenwiderspruch.

    Die sozialen Kämpfe, die historisch gesehen von BIPOC Personen begonnen wurden, und von ihnen bis heute tragend mitgeführt werden, werden abwertend gemeint als Identitätspolitik oder als Nebenwiderspruch bezeichnet und dadurch diffamiert.

    Während gleichzeitig die Rechte von trans* Personen als etwas diskutierbares und etwas
    legitim verhandelbares dargestellt werden und somit trans*feindlichen Diskursen Raum gewährt.
    Dazu kommt eine oft fehlende Bereitschaft von nicht betroffenen Personen, sich mit dieser
    Form von patriarchaler Gewalt, ihrem historischen Ausmaß und ihrer Verknüpfung mit
    anderen Kämpfen auseinanderzusetzen. Sowie das eigene binäre Denken und die binären
    Vorstellungen von Geschlecht aktiv zu hinterfragen, zu reflektieren und zu verlernen.

    Trans*feindlichkeit als patriarchales Werkzeug

    Trans*feindlichkeit muss als das gesehen werden was sie ist, nämlich ein wichtiges
    Standbein des Patriarchats, ein Eingriff in die Selbstbestimmung und Autonomie, eine bis zu
    weilen tödliche Form von Gewalt. Und etwas das jede Person, die als Ziel eine befreite
    Gesellschaft hat, in der alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben fern von Angst und
    Bedrohung führen können, ernstgenommen und bekämpft werden sollte.
    Genauso selbstverständlich wie jegliche andere Form der gesellschaftlichen Unterdrückung
    und Herrschaft.

    Eine befreite Gesellschaft, ohne Patriarchat, ohne Rassismus, ohne Antisemitmus, ohne
    Ableismus und ohne Kapitalismus kann nur erreicht werden, wenn wir uns bedingungslos
    mit allen Menschen solidarisieren, die in der Welt Unterdrückung und strukturelle Gewalt
    erfahren, betroffenen Personen glauben und sie unterstützen, nicht in dem wir Kämpfe
    gegeneinander ausspielen, oder sie als weniger wichtig betrachten als andere.

    Wie soll das klappen mit dem Erreichen der Utopie, wenn die Kämpfe von eh schon
    unterdrückten Gruppen nicht nur als unwichtig sondern teilweise sogar als bedrohlich
    verstanden werden?

    Richtig, gar nicht.

    Solidarität und Intersektionalität!

    Denn sich gegen jede Form von Hierarchie und Herrschaft zu stellen bedeutet das
    bedingungslos zu tun. Und nicht da aufzuhören wo die eigenen verinnerlichten
    diskriminierenden Sichtweise reflektiert werden und Verhalten umgestellt werden muss.

    Es wird nicht gelingen eine Graswurzelbewegung aufzubauen, wenn Menschen innerhalbdieser Gewalt erfahren und dadurch gehindert werden sich an ihnen zu beteiligen.

    Solidarität mit allen von Trans*feindlichkeit betroffenen Menschen weltweit und allen
    anderen Menschen die struktureller Gewalt erfahren.
    Solidarität mit allen Menschen die im Alltag, online, in der Kneipe, in der eigenen
    Aktionsgruppe, bei der Arbeit, der Uni oder sonst wo gegen trans*feindlichkeit laut werden
    und sich für eine Welt einsetzen, in der ein selbstbestimmtes Leben für alle möglich ist.

    Ich bedanke mich fürs zuhören, fürs vorbeikommen, fürs weiterkämpfen und fürs
    unterstützen.

    Until all are free no one is free – terfs defend the patriarchy

  • Meinungsfreiheit – ein Gastbeitrag von Leon

    „Das darf ich sagen! Das ist von meiner Meinungsfreiheit gedeckt!“
    Wann ist es sinnvoll, mit dem Grundgesetz zu argumentieren? … und wann nicht? Ein juristischer Exkurs in Debattenkultur.

    Wie sagte mein Professor am Anfang der Grundrechtevorlesung so schön: „Alles, was nicht Staatsgewalt ist, ist auch nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden.“. Polemische Aussage? Nö!

    Art. 1 III GG stellt klar, dass alle Staatsgewalt unmittelbar an Grundrechte gebunden ist.

    Erlässt der Bundestag also (als Teil der Legislative und damit Staatsgewalt) ein Gesetz, darf dieses nicht gegen Grundrechte verstoßen. Ob es das tut, wird dann im Zweifel durch eine Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden.

    Nimmt ein*e Polizist*in (als Teil der Exekutive) eine Person fest, muss bei Zweifeln wieder ein Gericht entscheiden, ob die Grundrechte dabei unbegründet eingeschränkt wurden.

    Und so weiter…

    Grundrechtswirkung

    Das Ganze nennt sich unmittelbare Grundrechtswirkung und zeigt die Rolle der Grundrechte in der deutschen Verfassung: Sie sind dafür da die Rechte von Menschen in Deutschland vor Verletzungen durch den Staat zu schützen.

    Für den Staat heißt das, dass er durch die Grundrechte verpflichtet ist, etwas zu tun oder zu unterlassen. Für die Einzelperson, dass diese das Recht hat, vom Staat ein Tun oder Unterlassen zu verlangen.

    Das ist nötig, da der Staat und die Menschen einander nicht gleichberechtigt gegenüberstehen. Es herrscht ein Machtgefälle, in dem (nur) der Staat das Recht und die Möglichkeit hat, Gewalt auszuüben. Die Grundrechte setzen dem Staat dabei Grenzen und schützen die Menschen vor dieser Gewalt.

    Anders sieht das Ganze in der Beziehung zwischen Privatpersonen aus. Diese stehen einander grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber. Es gibt kein Machtgefälle und somit auch keine Partei, die besonders vor Eingriffen durch die andere Partei geschützt werden müsste. Zumindest ist das in der Theorie des Gesetzes so. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

    Im Hinblick auf die Meinungsfreiheit darf der Staat einer Einzelperson also nicht vorschreiben, was diese sagen oder nicht sagen darf.

    Meinungsfreiheit und Menschenwürde

    Es wird aber in einer privaten Diskussion schwierig, die eigenen Aussagen damit zu rechtfertigen, dass diese durch die Meinungsfreiheit geschützt sind…

    Kommen wir jetzt aber zu diskriminierenden Aussagen, hantieren Menschen in Argumentationen regelmäßig mit der Meinungsfreiheit und der Würde des Menschen.

    Es gibt Situationen, in denen das auch tatsächlich sinnvoll ist. Geht es z.B. um das TSG, ist der Rückschluss auf die Menschenwürde angebracht, da es sich hierbei um ein formelles Bundesgesetz handelt. Als formelles Bundesgesetz ist das TSG ein Ausdruck staatlichen Handelns und somit Staatsgewalt. Das TSG muss also die Grundrechte wahren und darf u.A. nicht gegen die Menschenwürde verstoßen. Dass große Teile des TSG eben das nicht tun, hat das BVerfG seit vielen Jahrzehnten immer wieder bestätigt.

    Onkel Oskar und der T-Slur

    Anders sieht das Ganze aus, wenn Onkel Oskar den T-Slur verwendet. Hier ist in keinster Weise Staatsgewalt am Werk, weshalb es sich also nicht um unmittelbar an Grundrechte gebundenes Verhalten handelt. Es ist also nicht nur weird, wenn Onkel Oskar sich mit seiner Meinungsfreiheit herausreden will, sondern auch nicht hilfreich als Gegenargument die Menschenwürde anzubringen. (Onkel Oskar würde sich im Zweifel sowieso nicht davon überzeugen lassen…)

    Grundrechte und Offenbarungsverbot

    Grundrechte werden aber z.B. beim dead-naming wieder relevant. Hat eine Person über das TSG deren Vornamen und Personenstand geändert, geht damit ein Offenbarungsverbot einher. Das heißt, dass es gem. § 5 TSG verboten ist, den Geburtsnamen zu erforschen oder offenbaren. Da dieses Offenbarungsverbot Teil eines Gesetzes und folglich ein Akt öffentlicher Gewalt ist, ist es auch rechtlich durchsetzbar und gültig. Wird dieses Verbot missachtet, gilt dies als Ordnungswidrigkeit und kann rechtlich verfolgt werden.

    Die Grundrechte sind insofern relevant, dass – vom Staat – durch die gesetzliche Regelung die Würde von Trans*Personen geschützt werden soll. Durch das Gesetz (again: Akt der öffentlichen Gewalt) wird das Verhalten von Privatpersonen sanktioniert, um eben diese Grundrechte zu wahren.

    Auch der Vorschlag für das Selbstbestimmungsgesetz greift dieses Offenbarungsverbot wieder auf.

    Trotz diesen rechtlichen Auseinandersetzungen mit der Rolle der Grundrechte, sollten wir einander natürlich trotzdem zuhören, einander respektieren und lieb und freundlich miteinander bleiben.

    Das hat aber nichts mit der Menschenwürde oder Meinungsfreiheit des Grundgesetzes zu tun, sondern gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen.

    Tldr; Grundrechte regeln die Beziehung der Menschen zum Staat und nicht zwischenmenschliche Beziehungen. Eigene Aussagen in privaten Debatten auf die Meinungsfreiheit zu stützen ist also eher schwach.

  • Binäres System und Nichtbinarität – @coding_void


    CN für den gesamten Text
    Transfeindlichkeit, Misgendern, Dysphorie, binäres System

    Ein Gastbeitrag von @coding_void.
    Vor einigen Jahren habe ich mein Geschlecht noch ausschließlich als Nicht-Binär bezeichnet.
    Ich verwendete nur das Pronomen „es“, liebte meinen Buzzcut und wartete darauf, endlich mit Hormonen anfangen zu können. Nicht um einen „weiblicheren“ Körper zu haben, sondern einen, der weniger „männlich“ ist. Dennoch war da oft die unterschwellige Gewissheit, vor allem doch als Mann behandelt und wahrgenommen zu werden. Egal, wie sehr ich dies hasste. Das ich, egal was ich machen würde, zwangsläufig in der Fremdzuschreibung „Mann“ gefangen blieb. Es war dabei selten offenes Misgendern oder direktes Absprechen meines Geschlechtes, auch wenn ich das durchaus erlebt habe. Das Problem saß tiefer, in der grundlegenden Art und Weise, wie soziale Räume und Interaktionen um mich herum gestaltet waren. Wie ich mich (nicht) in sie integrieren konnte. Wie sich ein binäres System unterbewusst darstellt.

    Dies kann mensch aus verschiedenen Perspektiven betrachten.

    Fremdzuschreibung und Dysphorie

    Zum Beispiel aus der von Dysphorie und psychischer Gesundheit. Mit mir selber war ich zwar halbwegs glücklich. Aber das Wissen um die Art und Weise, wie ich von anderen Menschen wahrgenommen wurde, ließ mich verzweifeln. Dies wird in der Regel als soziale Dysphorie bezeichnet und ist etwas, worunter viele trans Personen leiden.

    Eine andere Interpretation würde sich auf die männlichen Privilegien konzentrieren, die ich durch diese Fremdzuschreibung angeblich hatte. Es stimmt sicher, dass z.B. meine Meinung ernster genommen wurde, als die von Menschen, die weiblich „gelesen“ wurden. Da gibt es viele weitere Beispiele.

    Die Ebene, dass diese Fremdzuschreibung gewaltvoll ist, wird dabei aber außen vor gelassen. Bei binären trans Personen wird meist noch anerkannt, dass die fortgesetzte Assoziation mit ihrem AGAB ein Ausdruck von Transfeindlichkeit ist. Diese löst bei vielen trans Personen signifikanten Leidensdruck aus. Bei nicht-binären trans Personen fällt diese Anerkennung eher weg. So wird strukturelle Gewalt gegen eine Person, wiederum als Teilhabe an struktureller Gewalt bewertet. Bei AMAB nicht-binären Menschen wird so häufig ihre Unterdrückung verunsichtbart und Teile davon sogar als Privileg geframed.

    Zwar halte ich es nicht für falsch, spezifische(!) Privilegien zu benennen, auch wenn sie im scheinbaren Widerspruch zum realen Leiden ihrer Träger*innen stehen. Aber wenn es um Umstände geht, bei denen Ursache der Privilegien gleichzeitig Ursache des Leidensdruckes ist, ist fragwürdig, ob es Privilegien sind.

    CN Suizid

    An dieser Stelle ist es mir wichtig, dass dies nicht als „verletzte Gefühle“ gegenüber materiellen Bedingungen dargestellt werden kann. Statistisch haben mehr als ein Drittel aller trans Personen einen Suizidversuch überlebt. Nur um einmal klar zu machen, worauf dieser abstrakte Leidensdruck, den ich hier beschreibe, nicht selten hinausläuft.

    Zugang zu Räumen

    Eine weiterer Aspekt, neben den direkten psychischen Auswirkungen, ist zum Beispiel der Zugang zu Schutzräumen. Ich hätte damals Schutzräume benötigt, aber praktisch standen mir keine offen. Selbst ernannte FLINTA*-Räume, vom Namen her also trans und nicht-binäre Menschen explizit einschließend, zogen keine praktischen Konsequenzen daraus. Das ist vielleicht gut gemeint, aber wertlos. Ein Raum, bei dem ich damit rechnen muss, mich Transfeindlichkeit auszusetzen, wenn ich ihn betrete, ist kein Schutzraum für mich.

    Unser binäres System von Geschlecht, das uns Geschlecht von Geburt an und jeden Tag aufs Neue, von außen zuschreibt, gab mir nur eine Möglichkeit der Annerkennung als „nicht-männlich“: Weiblichkeit.

    Meine Konsequenz war, stärker auf den transweiblichen Aspekten meiner Identität aufzubauen, um eine „Nicht-Männlichkeit“ erreichen zu können. Transfeminine Personen erleben natürlich auch Misgendering, Ausschluss aus Schutzräumen und im speziellen Transmisogynie und daraus folgende Gewalt.
    Für mich bot Transfeminität die einzige Chance, der geschlechtlichen Fremdzuschreibung als „Mann“ zu entkommen, der ich auch als offen nicht-binäre Person durchgehend ausgesetzt war.

    Heute kann ich mich z.B. leichter in FLINTA*-Räumen aufhalten als damals. Zumindest solange ich genug sichtbaren Aufwand betreibe, Weiblichkeit zu performen.
    Der Übergang zu einem primär transweiblichem Auftreten hat mir die Lebensqualität und Verbesserung meiner psychischen Gesundheit gegeben, die ich mir aus Outing und Transition erhofft hatte.
    Nicht dadurch, dass ich glücklicher mit meinem Körper wurde, sondern, dass ich endlich weniger als „Mann“ wahrgenommen werde.

    Auch wenn ich meine Weiblichkeit mag, musste ich erkennen, dass sie mir zum Teil aufgezwungen wurde und wird.
    Ich würde gerne wieder einen Buzzcut tragen und mich allgemein gender non-conforming präsentieren. Aber der Effekt darauf, wie (nicht-)männlich ich von anderen Menschen wahrgenommen werde, hindert mich daran.

    Die Ironie, dass ich, als nicht-binäre Person, dadurch nicht nur Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch stereotype Weiblichkeit reproduziere, ist mir bewusst.

  • „Wenn du geredet hättest Desdemona – ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“. Hier jetzt ein ungehaltener Krüppel. – Ein Gastbeitrag von CatInChief

    4 Menschen sind gestorben. Eine Frau wurde verletzt.

    Moment einmal?

    „Gestorben“?

    So, wie in: „nach langer Krankheit gestorben“?

    Oder wie in „in hohem Alter lebenssatt gestorben“?

    Oder wie in „durch einen Unfall gestorben“? Ein Erdbeben“?

    Ist Jesus „gestorben“?

    Friedlich, lebenssatt oder durch einen Unglücksfall?

    Oder wurde er ans Kreuz geschlagen?

    Durch Menschen?

    Ermordet?

    Starb er friedlich?

    „Eli eli lama sabachtani“ schrie er.

    Mein Gott.

    Mein Gott.

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen.

    Wer ist „gestorben“?

    Sind nicht 4 Menschen ermordet worden und eine schwer verletzt?

    Ermordet.

    Bestialisch.

    Quälend.

    Eli

    Eli

    Lama

    Sabachtani

    Haben sie gewiss nicht gesagt.

    Aber vielleicht geschrien. Vielleicht wollten sie schreien. Vielleicht haben sie gebetet. Vielleicht gejammert.

    Mein Gott

    Mein Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    Oder gestöhnt vor Qual. Sich geängstigt. In gottesferner Todesqual.

    Überraschend ermordet.

    Hinterrücks.

    Unerwartet.

    Von einer, die für sie zu sorgen versprach.

    Die dafür ausgebildet war.

    Dafür eingestellt.

    Dafür bezahlt.

    Einer wie uns. Die wir gerne auf „die geringsten Brüder und Schwestern unseres Herrn Jesus Christus“ herab sehen. Denn WIR sind ja die „Besseren“, die „nicht Geringen“.

    Aber – sind sie nur „Geschwister“ und dann noch „geringste“?

    Oder steht nicht der Gekreuzigte, der Leidende, der Schreiende

    Eli

    Eli

    Laba

    Sabachtani

    Mein

    Gott

    Mein

    Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    an ihrer Seite? An ihrem Bett? Leidend wie sie?

    Und NEIN. Nicht der Auferstandene. Nicht der, den wir uns so gern malen. Der „im Himmel“ mit dem vergeistigten Leib. Oder dort, wo, wie ein Plakat sagte, „die Toten jetzt fliegen können wie die Engel.“

    Es war Mord.

    Es war Qual.

    Es war Menschenferne.

    Es war Gottesferne.

    Eli

    Eli

    Laba

    Sabachtani

    Mein

    Gott

    Mein

    Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    Und sie hauchten ihren Geist aus.

    „Hauchten“? Haucht jemand, der mit dem Messer an der Kehle ermordet wird?

    Haben sie nicht eher ihren „Geist ausgeröchelt“? Sind elend gestorben?

    Sie starben nicht lebenssatt. Sie „hauchten“ nicht. So einfach dürfen wir uns das nicht machen mit dem konkreten Tod. An Ermordung ist nichts Sanftes. Nichts friedlich. Auch wenn Jesus der Überlieferung nach „haucht“ am Ende.

    Und wir? Wir „trösten“ uns. Mit Auferstehungslauben und „Hoffnung“.

    Verkaufen den Karfreitag für ein billiges Ostern.

    Nein.

    Nein.

    Nein.

    Karfreitag war real für uns.

    Karfreitag ist.

    Karfreitag war in dieser Nacht.

    Und nicht Ostern.

    Für einige, die Mitbehinderten, wird es für lange Zeit Karsamstag sein.

    Grablegung.

    Grabesruhe.

    Vermissen.

    Angst haben.

    Not haben.

    Klittern wir ihnen nicht UNSER Wohlfühl- und Todesneutralisationsostern um die Ohren, bevor wir auch ihr

    Eli

    Eli

    Laba

    Sabachtani

    Mein

    Gott

    Mein

    Gott

    Warum

    Hast

    Du

    Mich

    Verlassen

    Wahrgenommen haben. Ernst genommen haben.

    Dann brauchen wir auch keine Klitterung mehr. Keinen Glaubenszuckerguss über die elende Welt.

    Denn dann ist das Elend etwas, in dem Christus neben uns ist. Solidarisch und wissend. Nicht „schon überwindend“. Elend, am Kreuz. Leidend. Sterbend.

    Und er hauchte seinen Geist aus.

    Martina W.
    Geboren 1990
    Ermordet in ihrem Bett im Oberlinhaus am 28.4.2021

    Christian S.
    Geboren 1985
    Ermordet in seinem Bett im Oberlinhaus am 28.4 2021

    Lucille H.
    Geboren 1978
    Ermordet in ihrem Bett im Oberlinhaus am 28.4 2021

    Andreas K.
    Geboren 1964
    Ermordet in seinem Bett im Oberlinhaus am 28.4 2021

  • Stopp der Berichterstattung.

    Mich hat die Nachricht erreicht, dass Jack übergriffig gegenüber Personen gewesen ist.
    Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden, weitere Veröffentlichungen zu unterbinden.

    Zum derzeitigen Zeitpunkt weiß ich noch nichts darüber, ob die bisherige Berichterstattung online bleiben oder offline genommen werden soll, das mache ich von den Wünschen der betroffenen Person
    (und/oder deren Umfeld) abhängig.

    Egal, zu welchem Thema geschrieben wird, ich kann und werde nicht zulassen, dass dieser Blog für Menschen, die anderen Menschen Gewalt angetan haben, eine Plattform bietet.
    Solidarität mit den Betroffenen.

    Fluff.

  • Eine Perspektive in Zeiten von & mit Corona – Gastbeitrag von Foks

    Eine Perspektive in Zeiten von & mit Corona – Gastbeitrag von Foks

    Danke für das Beitragsbild an Das_Anja.

    Es sind seit 7 Tagen nur täglich wenige Minuten, die ich ohne Maske verbringe. Ein, zwei tiefe Atemzüge lang, auf dem Balkon, um kurz Pause zu haben.

    Eins meiner Kinder ist Risikopatient, hat Pflegegrad 3 & braucht dadurch im Alltag Unterstützung. Die Angst der Ansteckung ist groß, war sie schon, bevor ich infiziert wurde.

    Nähe funktioniert nur mit Maske & strikten Hygieneregeln, aber dadurch haben wir bisher eine Infektion verhindert.

    Ich erlaube mir heute ein paar Minuten mehr Pause, einmal mehr tief einatmen, es funktioniert wieder ohne Schmerzen, das Fieber ist weg, ich fühl mich nicht mehr so abgeschlagen. Es fühlt sich gut an. Versuche noch einmal, ein paar Reserven zu mobilisieren, um die nächsten 6-7 Tage irgendwie auf die Reihe zu bekommen, in denen wir auf uns alleine gestellt sind, habe Angst, dass die Besserung wieder umschlägt – wie ein paar Tage zuvor.

    Mich beschäftigen Gedanken wie, dass ich gespannt auf Jahresstudien zu Corona & Infektionsverläufen bin. Ich kann 1 zu 1 sagen, wo ich mich infiziert habe: Es war in einem Raum, mit Abstand, Maske & Lüften. Derweil häng ich hier mit zwei Kindern seit 7 Tagen in Quarantäne auf engstem Raum, mit Maske, ohne Abstand & Lüften. Beide sind nach wie vor negativ.

    Dann geht es weiter mit Gedanken wie, was für Kommentare mir auf dem Weg der Quarantäne zu Ohren kamen: „Krass, du trägst den ganzen Tag Maske, dass könnt ich nicht“
    – ein Kommentar dazu von mir: Doch kannst du! Denn es gibt keine Alternative, solange wie eins ansteckend ist, um andere zu schützen.

    Dabei gibt es immer noch Menschen, die sich über das Tragen einer Maske, wenn sie mal eben 20 Minuten einkaufen gehen, beschweren. Es macht mich unfassbar wütend, während ich hier in den paar Momenten an der frischen Luft über all die Augenblicke nachdenke, an denen ich bedroht & angegriffen wurde, wenn ich Solidaritätsverweigerer_innen auf das (richtige) Tragen einer Maske hinwies. Es macht mich wütend, wieder einmal zu merken, wie viele Solidaritätsverweigerer_innen da draußen versuchen „für ihr Recht auf Freiheit zu kämpfen“. Wie bewusst diese Menschen mit dem Leben anderer spielen. 

    Eigentlich sind Masken vs. Viren nicht das überraschendste Konzept; aber anscheinend ist alles, was zu klein oder zu transparent fürs menschliche Auge ist, irgendwie zu viel Aufwand, auch wenn es tödlich sein könnte (danke an Dr. Carmilla Qarnstein für die geliehenen & so passenden Worte).

    Es gibt keine Alternative, das Virus kostet Leben, viele. Es ist lernbar, dass bestimmte Dinge notwendig sind, um Andere zu schützen, weil es für diese lebensnotwendig ist & ich würde mir wünschen, dass das ein paar mehr Menschen begreifen.

    Ich muss seit 7 Tagen, infiziert, meine Kinder versorgen, beschäftigen, eins teilpflegen. Ich suche noch ein wenig die Ironie in den Worten, ich solle mich so gut es geht von meinen Kindern isolieren, ausruhen, alles regelmäßig desinfizieren. Dabei bin ich froh, wenn ich hier für regelmäßige Mahlzeiten & Beschäftigungen sorgen kann, während mein Körper vor sich hin fiebert, Atmung schwer fällt, während mein Gehirn mir eine Predigt darüber hält, dass ich funktionieren muss, dass die Kinder nicht zu lange digitalen Medien ausgesetzt werden sollten, Homeschooling stattfand & noch vielen weiteren Erwartungen, die an Elter(n) gestellt werden.

    Ich habe einen relativ milden Verlauf, dass ist Glück, denn ich wüsste nicht, wie all das Alleinerziehende bewältigen sollten, wenn es schlimmer kommt. Nach außen hin wirkt mein 15jähriger Sohn oft sehr selbstständig, aber viele haben einfach keine Vorstellung davon, was Pflege alles beinhaltet: Es fängt beim Essen an & hört nicht bei Hygienedingen vor- & nachbereiten auf. Du musst eine halbwegs ok Tagesstruktur & Beschäftigung aufrechterhalten, die sonst von den Einrichtungen, die dafür ausgebildet sind, erledigt wird & das ist nur ein kleiner Auszug. Dabei geht es nicht nur um Corona, sondern ist eine immer wiederkehrende Frage, wenn Alleinerziehende krank werden, nur das jetzt eine 100% Isolation von der räumlichen Außenwelt dazu kommt.

    Ohne das seit Jahren aufgebaute, praktisch solidarische Netzwerk könnte ich das nicht so gut bewältigen. Auch wenn hier, auf den paar Quadratmetern, uns niemand helfen kann, niemand sagt: „Ruh dich aus, kurier dich“, ist das doch etwas, was sehr hilft. Es fängt bei der Lebensmittelversorgung an, geht über ‚fertige Mahlzeiten vor der Tür abstellen‘, über Gespräche die für ein wenig mental health sorgen, bis hin zu Menschen, die selbst schon Corona hatten, für die es möglich wäre, Kinder aufzunehmen, um diese zu schützen, aber auch, falls Infizierte schwerere Verläufe haben, für Entlastung zu sorgen. 

    Ein weiterer Gedanke ist, wie das Risiko andere zu infizieren, minimiert werden könnte, wie gegenseitiges Entlasten in verschiedenen Bereichen möglich gemacht werden kann.

    Dazu braucht es ein Umdenken, es braucht eine Gesellschaft, die das System umlenkt, damit Menschen dafür Raum bekommen oder sich diesen endlich nehmen & nicht nur für Staat, Miete & Kapitalismus funktionieren.

    Ein praktisch-solidarisches Miteinander aufzubauen braucht Zeit, es gibt viel Theorie dazu, aber mehr denn je rückt in den Mittelpunkt, dass diese auch praktisch umgesetzt werden muss, in diesen Umständen, in dieser Zeit und ich bitte jede_n sich selbst zu hinterfragen, inwiefern das mit den eigenen Kapazitäten möglich werden kann & nicht nur eine immer wiederkehrende Utopie bleibt.

    Für ein praktisch solidarisches Miteinander & um Leben zu retten.

  • Jüdischer Widerstand – ein Gastbeitrag von Naomi

    In diesem Gerichtssaal hängt die Frage in der Luft, warum hat sich das [jüdische] Volk nicht erhoben. Als kämpferischer Jude protestiere ich mit aller Leidenschaft gegen diese Frage, soweit sie auch nur die Spur eines Vorwurfs enthält. Dem Mann [Adolf Eichmann], der mir hier gegenüber sitzt und den 80 Millionen, die auf der Straße das Lied sangen ‚Wenn Judenblut vom Messer spritzt‘, denen schulde ich keine Antwort.

    Abba Kovner, während des Eichmannprozesses

    Diese Worte sprach Abba Kovner, leidenschaftlicher Widerstandskämpfer aus Vilnius, während des Eichmannprozesses in Jerusalem. Er antwortete damit auf eine zentrale Frage, die sich bis heute zahlreiche Menschen innerhalb und außerhalb der jüdischen Community stellen.

    Auf der, vom fzs, von JSUD und anderen studentischen Gruppen 2019 organisierten, Deutsch-Israelischen Studierendenkonferenz wurde eine Diskussionsrunde mit Shahar Arieli, Botschaftsrat und außenpolitischer Sprecher der Israelischen Botschaft in Berlin, veranstaltet. In dieser ging es auch um die Bedeutung der Worte „Never Again“. Nach Arieli bedeuten diese Worte für die Jüdische Gemeinschaft, dass sie sich nie wieder wehrlos gegenüber einer solchen Katastrophe ergeben werden. Auch dieser Ausdruck fügt sich ein in das Narrativ folgender Frage: Warum lies die Jüdische Bevölkerung die Shoah über sich ergehen? Warum gingen sie „wie die Schafe zur Schlachtbank“?

    „Wie die Schafe zur Schlachtbank“
    Noch immer wird dieses Narrativ präsentiert. Was wird damit impliziert? Die „Juden“ hätten sich nicht gewehrt, sie wären also in Teilen selber Schuld an dem, was passiert ist. Wenn sie überleben, nicht untergehen sollen, dann brauchen sie andere Leute, die sie beschützen. Zelebriert werden also meist (deutsche) Widerstandskämpfer_innen, um sich selbst das Gefühl zu geben, es wären ja nicht alle schlecht gewesen, es hätte auch „gute Deutsche“ gegeben. Die einzige Geschichte, die hin und wieder bekannt ist, ist die des Aufstands im Warschauer Ghetto. Er wird jedoch weniger als Befreiungsversuch dargestellt, sondern vielmehr symbolisch für die Brutalität des NS-Regimes verwendet und präsentiert.

    Max Czollek spricht in „Desintegriert Euch!“ davon, dass die „Juden“ Objekte sind, anhand deren die Deutschen ihre Identität als geläuterte Gesellschaft entwickeln und aufrechterhalten können. Dieses Bild schließt sich auch das von mir dargestellte Narrativ ein. Wehrhafte jüdische Menschen würden einfach nicht hineinpassen.

    Wie perfide dies ist, zeigt sich anhand des oben bereits erwähnten, symbolischen Zitat „wie die Schafe zur Schlachtbank“. Dieses Zitat wurde von ebenjenem Abba Kovner benutzt. Nicht jedoch als Beschreibung der Shoah:

    „Jüdische Jugend! Traut nicht jenen, die euch zu täuschen versuchen. Hitler plant die Zerstörung aller Juden [sic!] in Europa. […] Wir werden nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen! Es stimmt dass wir schwach und wehrlos sind, aber die einzige Antwort auf den Mörder ist Widerstand! Brüder! Lieber fallen wir als freie Kämpfer[_innen] als bei der Gnade der Mörderer[_innen] zu leben. Wehrt euch! Wehrt euch bis zum letzten Atemzug!“

    Abba Kovner, Anfang 1942

    Diese Worte fielen Anfang 1942. Sie stehen in komplettem Widerspruch zum Narrativ, welches sich hinter diesem Zitat heute verbirgt. Ein Narrativ, das nicht nur einen Jüdischen Schlachtruf für sich beansprucht, sondern dessen Bedeutung fundamental die eigentlichen Tatsachen verschweigt. Ein Narrativ, das jedoch nicht überall besteht, denn die US-Amerikanische jüdische Community zelebriert und gedenkt dem Widerstand.

    Welche Folgen hat dies alles? Es gibt kein Selbstbewusstsein, kein Bewusstsein hinsichtlich des Widerstands, geschweige denn Gedenken oder Zelebrieren. Jüdische Menschen werden noch weiter zu Objekten degradiert. Nicht nur zum Bekämpfen oder Erlangen der Absolution, sondern auch zum Beschützen und Verteidigen. Quer durch die Lager hinweg, von Antideutschen, die „ein sicheres Zuhause für ihre jüdischen Freund_innen“ schaffen wollen und in diesem Kontext Bestrafungen auch innerhalb von Freundeskreisen verteilen, bis hin zu Nationalist_innen, welche die Jüdische Bevölkerung vor dem bösen Islam schützen wollen. Wahrlich, ihr seid edle Ritter_innen, was wäre ich armes, kleines, jüdisches Wesen nur ohne euch. (Sarkasmus aus).

    Das ist keine Hilfe, das ist Bevormundung. Ich will und ich werde mich nicht von Goyim (nichtjüdische Menschen) abhängig machen, nur damit sie sich ach so geläutert, ach so offen, ach so anti-antisemitisch präsentieren können. Eine Abhängigkeit, symbolisch an der Thematik der stabilen Holztür in Halle darstellbar.

    Wir haben gekämpft und gesiegt! Wir haben in Konzentrationslagern Menschen befreit, in Armeen und in Partisan_innengruppen Wehrmacht und SS das Leben schwer gemacht! Wir haben Menschen versteckt, zur Flucht verholfen, außer Landes gebracht und versorgt, teilweise gegen unsere eigenen Leute.

    Abba Kovner, Vitka Kempner, Itizk Vitnberg, Zivia Lubetkin, der Aufstand in Sobibor, die Armée Juive, die FPO …

    Wir werden sie ehren. Und wir werden all dies, wenn es sein muss, wieder tun. Mag sein, dass nur die Alliierten Deutschland besiegen konnten und nicht wir allein, mag sein, dass Polizei vor Synagogen weiterhin notwendig ist (und am Ende dennoch stabile Holztüren uns besser schützen als die vormals so edlen Ritter_innen). Aber uns die Schuld dafür geben? Niemals! „[…] den 80 Millionen, die auf der Straße das Lied sangen ‚Wenn Judenblut vom Messer spritzt‘, denen schulde ich keine Antwort.“

    Gerade jetzt braucht es keine Geschichten der Angst und des Leids. Es braucht Wehrhaftigkeit, Widerstand und vor allem Selbstbewusstsein. Widerstand muss zelebriert werden, denn er zeigt, dass wir uns wehren können, wehren dürfen! Liebe Goyim, mit welchem Recht nehmt ihr uns diese Geschichten weg, mit welchem Recht zelebriert ihr, gerade ihr, euren Widerstand, ohne unseren zu erwähnen? Wenn ihr tatsächlich Hilfe sein wollt, dann verteidigt uns nicht nur, sondern helft uns, unsere Wehrfähigkeit, unser Selbstbewusstsein zu erlangen!

    Disclaimer: Es gab und es gibt auch in Deutschland Personen und Projekte, welche Widerstand, auch jüdischen, zelebrieren und ehren. Ihnen gebührt Dank, dass sie diese Erzählung, dieses kleine Licht, am Leben halten.

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