Kategorie: Sorten

  • Risikogruppe und Eisblumen

    Unsichtbar.
    Das Leben findet in den eigenen vier Wänden statt, der Biedermeier des letzten Jahrhunderts erlebt eine Renaissance dieser Tage. Risikogruppe bleibt zu Hause. Mehr oder weniger freiwillig.

    Doch nicht die Müdigkeit der bürgerlichen Politik hat die Menschen in die Häuslichkeit getrieben, nicht der Rückzug ins Private hat den Starter für Sauerteigkulturen und DIY-Nähprojekte gelegt.
    Ein Virus geht um in Europa, das Virus SARS-Covid­19, neuartig, unerforscht, höchst ansteckend und wenn auch nicht im gleichen Maße tödlich, so doch mit Spätfolgen zu rechnend.

    Home Office

    Wer Glück, Privilegien und eine sichere Einkommensquelle hat, der lebt gut in dieser Zeit, arbeitend von zu Hause aus, das Brot kommt frisch und heiß aus dem heimischen Ofen und auf dem Balkon kann man es sich endlich gemütlich machen, während die Kolleg_innen neiderfüllt auf die eigene Gemütlichkeit schielen, während fleißig Meetings über Videoplattformen stattfinden.

    Ich atme ein.

    Knochenmüde

    Schwere legt sich auf mich, Müdigkeit umfängt mich. Ich fühle mich, als würde jeder Lebenswille, alle Energie aus mir heraus laufen. Knochenmüde, so nenne ich diesen Zustand. Müdigkeit, die in den Knochen sitzt, aus den Knochen kommt.

    Nichts hilft, es bleibt nur ausharren, ob heute nochmal Energie zurückkommt oder mein Tag dann schon vorbei ist. Wann? Dann. Das kann um drei sein, um fünf oder morgens um elf.

    Ich habe gelernt, damit umzugehen. Habe gelernt, von einem nicht beeinflussbaren, unbekannten Energiezustand auszugehen, der zu den ärgerlichsten Zeiten verbraucht sein kann.

    Ich war seit Wochen nur noch draußen, um medizinisch notwendige Termine wahrzunehmen. Habe seit Wochen keine Menschen mehr gesehen, die nicht hier wohnen.

    Lockerungen

    Ich sehe, wie die Lockerungen kommen. Sehe, wie immer mehr Menschen sich treffen wollen, ein Sozialleben.
    Ich bin Risikogruppe.

    Es passiert, was mir Angst machte: Das Leben geht weiter. Ich hab ein Fenster zur Straße, ein Fenster zum Hof, einen Zugang zum Leben, durch eine Glasscheibe hindurch. Plexiglasscheiben zum Schutz der Risikogruppe.

    Ich bleibe hier sitzen, wie eingefroren. Bis heute war das Leben aller Menschen ähnlich eingefroren, nun tauen sie auf.

    Werden sie sich erinnern, dass ich da bin? Eingefroren, die Eisblumen am Fenster bewundernd.

    Eisblumen

    Wenn das hier vorbei ist – für mich, nicht nur für sie, für die Gesunden, die JungenUndGesunden, die, die auftauen sich leisten können – werden dann noch Menschen übrig bleiben, die sich daran erinnern, dass ich mal Teil ihres Lebens war?

    Oder wird die Welt sich weitergedreht haben, zu einem „Ach ja, die Person habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, was es wohl macht?“, zu einem Bild im Gedächtnis einer Person, zu Sepia verblasst, weil keine Technicolor die Erinnerungen auffrischte. Wird das Internet, die Verschriftlichung reichen, um Kontakte aufrecht zu erhalten, um dabei sein zu können?

    Wenn die Konzerte wieder stattfinden können, Menschen auf Festivals fahren, sich gemeinsam treffen und Freund_innenschaft in Cafés und Kneipen zelebrieren, werde ich dann zu Hause sitzen, die Eisblumen am Fenster bewundern und innerlich schreien, weil das Leben weiterläuft und ich nicht auftauen darf?

    Solidarität ist eine Waffe. Sie schneidet zweischneidig.

  • Solidarität und Druck

    Solidarität muss praktisch werden!
    Hoch! Die! Inter/Antinationale! Solidarität!
    Solidarität ist eine Waffe und wir wissen ganz genau, wie man sie gebraucht!

    Menschen helfen einander, nicht, weil sie es müssen oder aus kapitalistischen Gründen, sondern, weil sie es wollen.

    Eine Person braucht Hilfe, die andere Person gibt Hilfe. Grundprinzip der meisten linken Strömungen, ob Kommunismus oder Anarchismus.
    Strukturell gesehen eine große Gefahr für den Kapitalismus. Denn funktionierende soziale Netze, die ohne Wachstums- und/oder Gewinnabsicht auskommen, machen dieses Wirtschaftssystem grundsätzlich überflüssig. Globale Solidarität ist das Gegenteil von Ausbeutung und neoliberalen Zwängen.

    Eine großartige Theorie, die ich sehr schätze. Ich spreche oft in Vorträgen über Solidarität, solidarisches Miteinander und gemeinsames Schaffen des „Guten Leben für Alle“. Aber dann fällt mir wieder auf, dass vor allem die Perspektive jener in den Fokus rückt, die „solidarisch geben“.
    In Zeiten einer weltweiten Pandemie sind das jene, die für andere Menschen einkaufen gehen. Die Risikogruppen unterstützen. Menschen von A nach B fahren, damit diese nicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Gefahr ausgesetzt sind, sich anzustecken.
    Es sind Menschen, die ihr eigenes Sozialleben zurückschrauben, um andere Menschen zu unterstützen/nicht zu gefährden.

    Es wird als selbstverständlich dargestellt diese Solidarität zu bekommen – und das sollte es auch sein.

    Neoliberale Sozialisation

    Dennoch sind wir alle in einer Gesellschaft sozialisiert worden, die „Schwäche“ ablehnt und den neoliberalen Anspruch des „eigenen Glückes Schmied“ als einzige Möglichkeit vertritt. Solidarität ist verpönt und das spüren vor allem Menschen, die auf Solidarität angewiesen sind.

    Es ist solidarisch, die Musik leiser zu drehen, wenn die Nachbarn aufgrund der Vibration nicht schlafen können.
    Aber die Person, die nicht schlafen kann, fühlt sich möglicherweise als Belastung. Weil sie nie gelernt hat, dass ihre Bedürfnisse valide sind.

    Es ist solidarisch, die Risikogruppen nicht noch größerem Risiko auszusetzen.
    Aber die Person mit Asthma, die gerade Demos von zu Hause aus verfolgt, fühlt sich womöglich „nicht ausreichend“ oder „nicht links genug“.

    Solidarität und Hürden

    Es ist solidarisch, gemeinsam zu überlegen, wie wir Armut in unserer Peer Group kommunizieren und bekämpfen können.
    Aber die Person, welche die meisten Gaben und Unterstützungen erhält, hat vielleicht das Gefühl „nicht genug geben zu können“ und  ihr Umfeld „auszunutzen“.

    Solidarität und mildtätige Gaben christlicher Konfessionen hängen geschichtlich eng zusammen. Sowohl die „Armenspeisung“ als auch die heutigen Tafeln sind ein Zeichen dafür. Staatliches Versagen und kapitalistische Ausbeutung werden durch die Schaffung eines mildtätigen Netzes ausgeglichen, woraufhin der Staat auf eben jenes Netz verweist. Anstatt selbst in die Pflicht genommen werden zu müssen (oder gar abgeschafft).

    Solidarität wirkt der Verelendungstheorie entgegen, schafft Netze und hilft Personen. Dennoch bleibt die Frage im Raum, wie wir Menschen die Sicherheit geben können, nichts zurückgeben zu müssen?
    Arbeit gleichberechtigt zu bewerten, anstatt von allen das gleiche zu fordern?

    Jedes nach dessen Bedürfnissen, jedes nach dessen Fähigkeiten und Solidarität muss praktisch werden. Wie können wir dies in den Köpfen der eigenen Szene verankern? Was können wir einem linken Imposter Syndrom und dem kapitalistischen Selbstanspruch entgegen setzen?

    Schreibt mir auf Twitter, wenn ihr praktische Ideen habt, ich habe nur Fragen.

  • BDSM und Feminismus

    Let’s talk about Sex! Also, Sex, Kink und BDSM.

    Vor ein paar Tagen sah ich einen „feministischen“ Film, in dem es um Gewalt an (cis) Frauen ging.
    Dabei fiel unter Anderem der Satz „Sie schlagen uns.“. Unterlegt mit dem Bild einer an die Wand gepressten, weiblich gelesenen Person. Sie streckt ihren Po nach hinten und sah im Großen und Ganzen nicht unzufrieden mit der Situation aus. Es wirkte eher wie eine erotische BDSM Darstellung als Gewalt.

    Ich war verärgert. Gewalt – ausgeübt von cis Männern, am meisten betroffen sind Frauen – ist ein gewaltiges Problem, strukturell bedingt durch das Patriarchat. Wir müssen darüber sprechen und Strukturen aufbrechen. Cis männliche Vorherrschaft abschaffen. Müssen wir nicht diskutieren. Was es nicht braucht: Das Bild devoter, sexuell selbstbestimmter Frauen, welches mit Gewalt gleichgesetzt wird.

    Am gleichen Tag las ich dann auch noch, dass BDSM nichts anderes wäre, als unter Erwachsenen Kindesmissbrauch nachzuspielen und dann war ich endgültig bedient.

    Hier also ein Artikel über Sex, BDSM, Feminismus und Selbstbestimmung.

    BDSM = antifeministisch?

    Also, kommen wir zu dem, was gerne als „antifeministisch“ verschrien wird: „weibliche“ Unterwerfung.
    (Ich übernehme diesen Begriff, obwohl ich ihn problematisch finde. Er rückt vor allem cis Frauen in die Perspektive. Nicht cis Frauen bleiben unbeachtet.) Es geht der Kritik an BDSM aber um alle afab Personen, ungeachtet ihres Geschlechts.

    So werden cis Frauen gemacht – und trans Personen diskriminiert.

    Der Feminismus der zweiten Welle (Alice Schwarzer und KonsortInnen) war und ist der Meinung, dass Männlichkeit und männliche Dominanz in allen Lebensbereichen herrscht (stimmt, soweit) und deshalb auch das Sexleben von Feministinnen radikal feministisch sein müsste (maybe) und sogenannte „weibliche Unterwerfung“ nur das Patriarchat stützen würde (stimmt definitiv nicht). (Und „weibliche Dominanz“ stützt das Patriarchat auch, weil es ja Safewords gibt. Kinky Frauen und afab nichtbinäre Personen können nur verlieren. Yay.) Ich hab mich mal ein bisschen durch diese Variante des Feminismus gewühlt und folgende Texte gefunden.

    Kritk an Blowjob und Valentinstag [EMMA]

    1. Der Koitus verdammt die Frau zur Passivität und ist so für Männer die unkomplizierteste und bequemste Sexualpraktik. Beine breit machen genügt.

    2. Die psychologische Bedeutung dieses in sich gewaltsamen Aktes des Eindringens ist für Männer (und Frauen) sicherlich von Bedeutung. Bumsen – wie es so traurig treffend heißt als höchste Demonstration männlicher Herrschaft und weiblicher Unterordnung.

    3. Nur der Mythos von der zentralen Bedeutung des Koitus sichert Männern das Sexmonopol über Frauen, macht sie unentbehrlich denn penetrieren können nur sie. Das ist der kleine Unterschied. Der „vaginale Orgasmus“ ist eine Erfindung der Männergesellschaft. EMMA,1977

    Sexualität hatte über Jahrhunderte, ja Jahrtausende nichts mit Lust zu tun, sondern mit Macht. Macht von Männern über Frauen. Und es gab entweder die käuflichen Sünderinnen, zuständig für die Lust; oder die abhängigen Heiligen, zuständig für die Arbeit im Haus. Emanzipation der Frauen implizierte also zwangsläufig auch die Emanzipation der weiblichen Sexualität.

    Doch so schnell waren die Söhne nicht bereit, die Macht aufzugeben. Denn nun kamen wir. Die Feministinnen. Wir stellten die Machtfrage. Im Leben und in der Liebe. […] Und wir entdeckten unsere Körper und unsere Lust. Das war nicht nur ein harter Kampf, es war auch ein wahres Fest. Wir tanzten von Erkenntnis zu Erkenntnis, von Abenteuer zu Abenteuer. Die Gender-Studentinnen von heute würden zart erröten, ahnten sie nur, was wir alles so angestellt und erlebt haben. […}

    Nie zuvor und nie danach ist so offen über den weiblichen Körper und die Lust der Frauen geredet und geschrieben worden wie in den 1970er Jahren, diesen Jahren des Aufbruchs der Frauen. Doch keiner Frau wäre es damals auch nur im Traum eingefallen, die Trennung von Sexualität und Gefühl oder den Konsum entseelter Pornografie für sonderlich emanzipiert zu halten; von der Prostitution, als Objekt oder Subjekt, ganz zu schweigen. […] Gleichzeitig aber steigt die Pornografisierung unserer Gesellschaft, diese Verknüpfung der sexuellen Lust mit Lust an Erniedrigung und Gewalt. […] Und auch der weibliche Masochismus – diese unbewusste Bewältigung von Schmerz und Erniedrigung durch ihre Umwandlung in Lust – steckt noch tief in den Knochen der Frauen.

    Oh Hilfe, hier wird behauptet, die Vagina hätte quasi null Nerven. Der Text ist von 2016! (Okay, sie behauptet das durchgehend seit 1977). Und alle Personen mit Vagina sind automatisch Frauen. Naja. Das ist genug Material für einen anderen Artikel.

    Menschen haben Vorlieben, Kinks, Fetische. Gerade „weibliche“ Fetische wurden sehr lange pathologisiert, verunsichtbart und unterdrückt. Sie durften nicht ausgelebt werden, zumindest nicht in einem konsensuellen, selbstbestimmten Rahmen. (Frauen und afab nichtbinäre Personen durch sexualisierte Gewalt zu unterwerfen, das ging jedoch voll klar. Weil Patriarchat.)

    Fazit

    Zwischen der Unterdrückung von Frauen und afab nichtbinären Personen und konsensuellem Sex liegt ungefähr so viel Raum wie zwischen mir und dem Boden des Marianengrabens. Das liegt daran, dass konsensueller Sex eigentlich die – für das Patriarchat – gefährlichste Art ist, Sex zu haben. Beide Personen sprechen auf Augenhöhe miteinander, über ihre Bedürfnisse und Wünsche und Fantasien. Bei Sessions wird noch ein Safeword (oder etwas ähnliches) vereinbart, es werden „harte“ und „weiche“ Limits festgelegt – die harten Limits werden niemals angetastet, die weichen Limits dürfen gemeinsam erprobt werden. Augenhöhe zerstört aber das Machtgefälle, welches das Patriarchat aufgebaut hat – Augenhöhe ist eben keine „Unterdrückung durch Sex“, sondern ein bewusstes Auseinandersetzen mit den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Kinks, Fetischen und dem eigenen Körper.

    Dabei ist – solange es selbstbestimmt geschieht und keine Dritten davon unkonsensuell beeinflusst werden – völlig irrelevant, auf welchen Kink sich bezogen wird. Oder ob es überhaupt um BDSM geht.

    Wie genau Neigungen und Kinks entstehen, wurde noch nicht ausreichend erforscht. Es steht jedoch fest, dass es weder eine Krankheit, noch ein charakterlicher Mangel ist, bestimmte Praktiken zu bevorzugen, masochistisch, sadistisch oder devot zu sein.

    Gleichzeitig drängt die Behauptung, „weibliche“ Dominanz sei „Patriarchat über Bande“, dominante, feminine Personen in Rollen. Rollen, die sie gar nicht haben wollen. Zuerst Anerkennung, dass es sich um eine einvernehmliche Vereinbarung handelt, dann Waffe gegen sie. Denn dominante Weiblichkeiten würden dies ja nur tun, um dem (devoten) Patriarchat zu gefallen. Das bedeutet, es kann in dieser Lesart des Feminismus keine selbstbestimmten Kinks geben.

    Das halte ich für zutiefst misogyn.

  • „Baby Butch“ von Lou Conradi – Rezension

    Ich habe gelesen. Ich habe am Wochenende dieses Buch auf den Tisch geschoben bekommen. Von einer Person, die ich bewundere und schätze. Für seinen Mut, für seine politische Arbeit, für seine Widerständigkeit. Für seine Zärtlichkeit, passende Namen zu geben.
    Das war am Sonntag, heute ist Dienstag. Ich habe gelesen, ich habe dieses Buch gelesen, verschlungen, es kratzte auf dem Knochen und ging unter die Haut. Ich bin fertig geworden, ich habe es zur Seite gelegt. Neben den Laptop, neben mir schnurrt eine Katze, ansonsten ist es still. Nur meine Finger klackern auf der Tastatur, während ich schreibe. Das Buch heißt „Baby Butch“ und es ist beeindruckend.

    Inhalt

    Die Geschichte ist schnell zusammengefasst, ich zitiere den Klappentext, um nicht zu spoilern:
    Was hat das Einhorn mit der Jungfrau Maria zu tun und Feminismus mit Waffenexporten? Gibt es die unbefleckte Empfängnis wirklich, hilft BDSM gegen Polizeigewalt und was können trans Menschen erwidern, wenn sie mal wieder gefragt werden: „Was bist du?“
    Spätsommer 2015, Berlin.
    Während in Heidenau und Freital rassistische Mobs Geflüchtete angreifen, planen Steph, eine linksradikale Baby Butch, und Maria, eine kommunistische trans Frau, zusammen ein Kind zu bekommen. Mit Erfolg: Steph ist schwanger! Was als alternative Familiengründung geplant war, ist jedoch schnell ein Chaos aus Beziehungsgeflechten und Existenzängsten. Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Transition und Wohnungslosigkeit versucht eine Gruppe junger, impulsiver Queers, Kontrolle über ihr Leben zu behalten, während um sie herum die politische Lage längst außer Kontrolle geraten ist.
    Erschienen ist es November 2019, Edition Assemblage.

    Emotionen

    Linke Zerrissenheit, die Gratwanderung zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen, Überforderungen und Kommunikationsverhalten. Scheiße sein – ohne es zu wollen, es trotzdem zu dürfen, geliebt zu werden und von Schuldgefühlen zerfressen. Politische Diskussionen, die unter die Haut gehen und zwischen die Beine treffen. Verzweiflung an Sonntagen und das Bedürfnis, die Welt sofort verändern zu wollen; Resignation und Ausgebrannt sein.
    Wer sich in diesen Konstrukten wiederfindet, sollte dieses Buch lesen.

    Die Charaktere sind nicht (nur) nett zueinander, sie sind menschlich, sie sind politisch, sie ziehen Grenzen. Trösten sich nicht, wenn es nur um Befindlichkeiten, eigene Privilegien geht. Das kann hart sein zu lesen, weil es wehtut, weil es der Protagonist_in damit im ersten Moment nicht gut geht. Aber es ist gleichzeitig ein Punkt, an dem sowohl die Reflektion von Lesenden, als auch der Protagonist_in angestoßen wird. Ohne, dass diese Trostlosigkeit, bewusste Empathielosigkeit die Beziehung der Protagonist_innen (zer)stört. Es ist keine heile Wohlfühlwelt, es ist die unsrige.

    schmerzhaft realistisch

    Eine Welt, in der Polizeigewalt und Rassismus eine Rolle spielen. Personen sich aufgrund von Sozialisierung und Privilegien so richtig scheiße verhalten können – und dennoch versuchen, das richtige zu tun. Es geht um Dysphorie und Unsicherheit, darum, welche Begriffe für welche Person passen.
    Ob sie passend gemacht werden können. Ob sie uns überhaupt zustehen oder wir damit anderen etwas wegnehmen.

    Es geht nicht darum, eine Lösung zu finden. Lou Conradi wirft Fragen auf, ohne selbst die Antworten geben zu können. Er gibt nur einen Ausblick auf mögliche Lösungen, aber er gibt kein Patent.
    Romane sind auch nicht dazu gemacht, Patente zu vergeben. Gleichzeitig ist dieser hier so nah an meiner Realität, dass ich unbewusst doch nach möglichen Ideen für ein besseres Wir suche.
    Ich zumindest habe es getan. Und war schlussendlich erleichtert, als mir keine einfache Lösung präsentiert wurde.

    „Es gibt kein richtiges im Falschen“, sagte einst Adorno, als er die Möblierung seiner Zeit kritisierte – auf der Metaebene bestimmt noch mehr, aber das würde zu weit führen. Ein geflügeltes Wort der Szene, ironisch und unironisch verwendet, zu allem passend (ungefähr so wie Salz – oder Pommes. Ja, sie schmecken auch mit Ahornsirup.)

    Fazit

    „Baby Butch“ zeigt eindringlich und dabei nicht abgehoben, intensiv und doch nicht wehleidig, wie richtig dieser Ausspruch immer noch ist. Vor allem, wenn es um trans Themen geht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen Geschlecht. In dem, das mir zugeschrieben wurde. Gleichzeitig bleibt die Frage, ob denn „das falsche Geschlecht“ zu sagen, mir überhaupt zusteht. Ob es denn nicht andere Personen gibt, denen es noch schlechter geht. Die große Frage der meisten Eier (ungeschlüpfte trans Person), die ich on- und offline getroffen habe. Auch euch möchte ich dieses Buch ans Herz legen. Ich möchte es allen trans Geschwistern und allen verzweifelten Queers der linken Szene geben.

    Ich möchte mit euch einen Kuschelhaufen bilden und gemeinsam verzweifeln, während wir das „Gute Leben für Alle“ erreichen wollen.

    P.S.: Wenn sich das eigene Geschlecht nicht richtig (auf welche Art auch immer) anfühlt, ist es wahrscheinlich nicht das richtige.

  • Trigger Warnung/Content Note: Stabil, instabil, kaputt.

    Was haben Triggerwarnungen, ein gut gemeintes „Dafür bist du nicht stabil genug, meinst du wirklich?“ und das Absprechen der Diskursfähigkeit gemeinsam? Und wo ist der Unterschied zwischen Trigger Warnung (TW) und Content Note (CN)?
    Sie berufen sich alle auf meine (zugeschriebene) psychische Stabilität.

    Trigger

    Teilweise ist das gut gemeint – aber nicht gut gemacht. Triggerwarnungen nehmen sich heraus, für andere Menschen zu entscheiden, was (potentiell) triggernd sein könnte. Allerdings ist diese Zuschreibung unmöglich, da Trigger so vielfältig sind wie die Menschen, die traumatisiert wurden. Während einige Personen von Wörtern überhaupt nicht getriggert werden, trifft bei anderen Menschen das durchaus zu.
    Manchmal wird alleine durch das Lesen ein Bild im Kopf geweckt, dass dann zum Flashback führt. In anderen Momenten wird die Assoziation mit einer Situation oder einer Täter_in hervorgerufen. Und manchmal passiert gar nichts.

    Nicht alle Trigger wirken immer, manchmal ist die betroffene Person stabil und das Wort löst überhaupt nichts aus. Manchmal bricht eins dann psychisch zusammen. (Ha. Da kam sie wieder, die Stabilität. Aber dazu später mehr.) Leider kündigen sich diese wechselhaften Trigger nicht mit blinkenden Schildern an, also wird erst nach der Verletzung festgestellt, was heute triggerte.
    Andere Worte triggern immer und sind zuverlässig – und können somit vermieden werden. Auch, indem eins Themen vermeidet, die diese Worte/Beschreibungen/(Wort)Bilder beinhalten.

    Paternalismus

    Wenn ich jetzt aber von wildfremden Personen „gewarnt“ werde, dann nehmen sie sich heraus, zu wissen, was mich (heute) triggert. Das ist verquer, denn ich weiß es meistens selber nicht. Potentiell traumatische Themenbereiche (z.B Psychiatrie, Suizid, SVV) sind natürlich prädestiniert dafür, Trigger zu beinhalten. Allerdings triggert mich auch die Beschreibung von deiner letzten Diät und im Zweifelsfall, was du gestern gegessen hast (hallo, Essstörung, alte Freundin). Aber da schreiben irgendwie Menschen relativ selten eine Warnung dran. (Und nein, ich möchte auf KEINEN FALL noch mehr Warnungen.)

    Content Notes

    Inhaltsbeschreibungen (Content Notes) haben den Vorteil, dass sie mir einen groben Überblick über den Inhalt geben. Ich kann (im Wissen über meine momentane Stabilität, meinen Umgang mit potentiellen Triggern und im besten Fall einem Rückzugsraum) entscheiden, ob ich das jetzt gerade lesen, es später lesen oder gar nicht lesen möchte.
    Ein bisschen wie der Klappentext eines Buches: Geht es da bereits um hocherotische Werwölfe mit muskelbepackten Armen, denen die Protagonistin (oder der Protagonist) instant verfällt… Dann lasse ich das Buch lieber liegen. (Nicht, weil es mich triggern würde, sondern weil es höchstwahrscheinlich schlechte Erotik und Sexismus und Heteronormativität enthält.) Aber durch die vorherige Information über den Text kann ich entscheiden und mir das Geld (oder den Flashback) ersparen.

    Gemeinsamkeiten und Unterschiede

    Der Unterschied zwischen einer Inhaltsbeschreibung und einer Warnung ist die Intention des Erstellenden. Eine Information informiert – wertungsfrei. Eine Warnung warnt – und wertet dabei. Eine Warnung entscheidet FÜR MICH, eine Information LÄSST MICH entscheiden. Aktiv und passiv.
    Und meine persönliche Entscheidungsfreiheit ist mir – gerade als Person mit Psychiatrie- und psychotherapeutischer Intensiverfahrung – sehr, sehr wichtig.

    Eigenverantwortung

    Deshalb kann ich es auch gar nicht haben, wenn Entscheidungen von mir – gut gemeint – hinterfragt werden. „Bist du dir sicher, dass du dafür stabil genug bist?“ – JA. Und wenn nicht, dann mache ich eben Fehler und lerne daraus. Auch psychisch kranke Menschen dürfen mal gegen ne Wand laufen, weil sie ihren Dickkopf durchsetzen mussten. Ich möchte nicht in jedem Fall „vor mir selbst geschützt“ werden. Die Momente, in denen ich mir das wünsche, habe ich vorher kommuniziert – und die Hürden dafür sind bewusst hoch gelegt.

    Ich bin für mich selbst verantwortlich und das bedeutet, dass ich auch „ungesund“ handeln darf. Ich darf gegen Mauern rennen und mir den Kopf anstoßen. Deshalb bin ich ÜBERAUS verärgert, wenn mir andere Menschen dauerhaft eine Matratze vor die Wand stellen.
    Dabei können Menschen auch durchaus sagen, dass sie meine Entscheidungen nicht gut finden. Sie dürfen auch sagen, dass ich sie noch einmal überdenken sollte. Allerdings dann bitte begründet (und zwar inhaltlich) und nicht auf Basis meiner psychischen Stabilität. Die schätze ich schlussendlich immer noch alleine ein. Das kann keine andere Person für mich tun. Punkt.

    Ableismus als Waffe

    Noch schlimmer sind nur Menschen, die meine Traumata (über die ich bewusst sehr offen kommuniziere) dazu verwenden, mich zu diskreditieren. Die mir die Diskursfähigkeit absprechen und versuchen, mich als instabil darzustellen – um sich nicht inhaltlich mit mir auseinandersetzen zu müssen. Ein inhaltlicher Diskurs (gerne auch Streit) würde ja bedeuten, mich als gleichberechtigte_n Diskurspartner_in wahrzunehmen und mir eine Stellung einzuräumen. Es würde bedeuten, dass sich Personen mit anderen Meinungen als meiner ARGUMENTE ÜBERLEGEN MÜSSEN, um mir Kontra zu bieten.
    Stattdessen wird darauf abgestellt, dass alle meine Argumente aus sich selbst heraus wertlos seien und eine weitere Beschäftigung damit unnütz. Ich als Gestörte_s (meine Eigenbezeichnung, wenn ihr mich so nennt, gibt es Stress!) wäre ohnehin nicht fähig, am Diskurs teilzunehmen.

    Gatekeeping

    Leider haben Personen, die so etwas äußern, die Gesellschaft auf ihrer Seite. Menschen aufgrund von Krankheiten aus dem Diskurs auszuschließen hat eine lange Tradition. Die Unterdrückung von Personen aufgrund von (zugeschriebenen) Einschränkungen einen Namen: Ableismus.
    Jede beschriebene Situation ist ein Beispiel  dafür, wie sich neurotypische, body abled Personen als Gatekeeper_innen sehen, die bestimmen, wer „stabil“ genug ist, zum Diskurs zugelassen zu werden – und wer nicht.
    Gatekeeping bedeutet, dass sich nicht-Betroffene zum Torhüter ernennen, um für Betroffene zu entscheiden. Entweder, weil sie behaupten, besser als Betroffene entscheiden zu können, was gut für diese ist. Alternativ, weil sie Betroffene gar nicht im Diskurs haben wollen. Die könnten ja anderer Meinung sein und das macht die eigene, privilegierte Weltsicht kaputt.

    ableistische Erwartungen

    Gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, die nicht auf die Bedürfnisse von body disabled und/oder neuroatypischen Personen ausgelegt ist. Deshalb erwartet sie von uns Betroffenen, dass wir uns anpassen und uns Mühe geben, in dieser Gesellschaft klarzukommen. Oft haben wir das sogar selbst verinnerlicht und suchen die Schuld für unser „Versagen“ bei uns, anstatt anzuerkennen, dass wir in einer Gesellschaft überleben, die alles dafür tut, damit wir es nicht schaffen. Kapitalistische Verwertungslogik wird in Therapien eingetrichtert und sorgt dafür, dass wir uns so lange Mühe geben, bis wir zusammenbrechen – um immer noch nicht genug getan zu haben. Finde ich kacke.

    Fazit

    Zum „guten Leben für alle“ gehört auch, dass mein DaSein und SoSein einen Raum bekommen. Und den nehme ich mir und ich beiße, wenn irgendwer versucht, mich in Watte zu packen und mir die Zähne zu ziehen!

  • Gestört, nicht krank. Ein Umgang mit mir.

    Wenn ich darüber rede (oder schreibe) wie es ist, als ich zu leben, dann komme ich oft in die Situation, dass Menschen hilflos werden. „Ich würde dir so gerne helfen, aber…“, und dann schauen sie mich mit traurigen Dackelaugen an und ich frage mich, wobei mir diese Menschen denn helfen wollen. Aber meine Kommunikation ist ohnehin oft gestört.

    Meistens geht es nämlich nicht darum, mir das Leben irgendwie zu erleichtern. Nein, sie wollen mich „gesund“ machen. Schließlich bin ich ja krank.

    Gestört, nicht krank.

    Nein. Ich bin gestört, nicht krank. Ich befinde mich auf dem Spektrum der Charakter- und Verhaltensweisen so weit abseits des als normal definierten Bereichs, dass es pathologisiert wurde. (Dabei ist die Art und Weise der Pathologisierung ein Problem für sich, aber das ist ein anderes Thema.) Der Unterschied liegt darin, dass Krankheiten eine andere Herangehensweise erfordern als Störungen. Meine Krankheiten sorgen dafür, dass es mir schlecht geht. Meine Störung sorgt dafür, dass es mir schlecht geht, weil ich anders bin – aber sie sorgt nicht aus sich selbst heraus dafür, dass es mir schlecht geht. Ich habe keinen Leidensdruck, der dafür sorgt, dass ich mich grundsätzlich als Problem wahrnehme – der kommt erst von außen. (Und ist mittlerweile dauerhaft da, aber auch das ist ein anderes Thema. Ich glaube, ich muss einen Fußnotenartikel zu diesem hier schreiben. Meine Güte.)

    Ich bin Autist_in. Das nennt sich in offizieller Diagnostik dann „Autismus-Spektrum-Störung„.

    Krank, nicht gestört.

    Ich bin auch krank. Ich habe Depressionen (wiederkehrende, seit mittlerweile anderthalb Jahrzehnten), körperliche Beschwerden dadurch, chronische Schmerzen. Das sind alles Sachen, bei denen ich tatsächlich Hilfe brauche – und sie mir auch einfordere. Beispielsweise durch den Nachteilsausgleich in der Uni oder durch den Antrag auf Schwerbehinderung. Aber auch dadurch, dass manchmal Umfeldmenschen für mich Dinge abholen oder ein Herzmensch mit mir rausgehen muss, weil es alleine nicht geht. Aber das meinen die Menschen meistens nicht, wenn sie mir so hilflos „helfen“ wollen.

    Ihr wollt mich „gesund“ zaubern, obwohl ich gar nicht krank bin.

    Neurodiversität und Maskieren

    Ich bin anders, als es der Bereich des Spektrums vorsieht und das macht euch hilflos. Ihr könnt meine Realität nicht nachvollziehen und ihr stellt sie euch schrecklich vor. Glaube ich. Zumindest sorgt eure Reaktion dafür, dass ich das denke. Wenn ihr mir wirklich helfen wollt, dann macht eure Welt für mich inklusiver. Sorgt dafür, dass ich mich in Räumen wohlfühle. Sorgt dafür, dass es weniger überfordernde Situationen gibt und sprecht Klartext. Lasst mir Raum, wenn ich gerade in ein Loch stürze und erzählt mir nicht, ich „solle mich beruhigen“. Stellt meine Realität nicht in Frage. Glaubt mir, dass auch meine Emotionen valide sind.

    Ich kann eure Realität auch nicht nachvollziehen. Aber im Gegensatz zu euch wurde mir beigebracht, dass ich deshalb ein Problem bin. Mir wurde beigebracht, dass ich mich ändern müsse, an die Norm anpassen und das ich erst, wenn ich das schaffe, ein Recht habe, mit euch zu interagieren. Gestört zu sein, ist ein Anpassungsurteil.

    Nein. Das ist paternalisierender Bullshit. Ich habe das gleiche Recht darauf, mit euch zu leben, wie ihr auch. Ich bin nicht grundlegend falsch, nur anders.

    Und euer Mitleid, eure Hilflosigkeit, die sorgen nur dafür, dass ich mich frage, was denn an meinem DaSein, meinem SoSein so unglaublich furchtbar sein soll, dass es solche Reaktionen hervorruft.
    Ich bin nicht unglücklich damit, wie ich bin.

    Ich bin nur anders als ihr.

    Pathologisierung

    Und dadurch, dass ich Psychiatrie und psychiatrische Pathologisierung aufgrund von systematischer Kritik begonnen habe, kritisch zu sehen, bin ich auch der Meinung, dass es auch für Menschen mit Störungen einen Umgang gibt. Einen Umgang, der nicht auf einem Machtgefälle zwischen pathologisierten und normativen Menschen beruht, sondern der einfach die Emotionen und Bedürfnisse aller Beteiligten akzeptiert.

    Ich habe Verlustängste. In Gesellschaft genieße ich das Spotlight. Gleichzeitig nehme ich alle Reize viel intensiver wahr. Ich kann die Stimmungen anderer Menschen gut erkennen, aber ihre Intensität nicht nachvollziehen. Kommunikation muss klar, verständlich und deutlich sein. Ich habe gerne, viel und intensiv Sex. Und ich lebe polyamor.

    Das alles sind Verhaltensweisen, die Diagnosen ausmachen. Die pathologisiert werden. Neurologisch gestört. Emotional gestört. Sucht es euch aus. Sexismus und Transfeindlichkeit machen auch vor der Psychiatrie nicht Halt.

    Leider ist die Lösung für diese Bedürfnisse oft, dass ich sie rationalisieren und unterdrücken soll. Das empfinde ich als falsch. Es mag für diese Gesellschaft momentan funktionieren, aber ich finde auch diese Gesellschaft falsch.

    Kommunikation.

    Stattdessen bin ich für eine Kommunikation, in der ich alle Bedürfnisse erst einmal formulieren kann. In der die verschiedenen Bedürfnisse verhandelbar sind. Nein, mein(e) Gegenüber haben nicht die Pflicht, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Sie dürfen jederzeit sagen, dass sie gerade nicht können oder wollen oder einfach Nein, ohne es zu begründen.
    Aber ich möchte sie aussprechen können, bevor ich sie rationalisieren muss. Ich möchte sagen können: „Ich brauche gerade eine Person, die mich festhält.“, aber ohne, dass die andere Person in den Druck kommt, dieses Bedürfnis erfüllen zu müssen. Aber damit kann sie es erfüllen, wenn sie das möchte. Und andersherum sollte es genauso möglich sein – Formulierung von Bedürfnissen und vollständige Akzeptanz der jeweiligen Reaktion.

    Dabei müssen dann die Bedürfnisse nicht mehr gewertet und analysiert werden. Sie sind erst einmal da und es kann ein Umgang damit gefunden werden. Ohne Pathologisierung, ohne Druck.

    Und hinterher kann ich immer noch gucken, an welchen Sachen ich arbeiten möchte (z.B die Verlassensängste) und welche Sachen ich eigentlich voll in Ordnung finde (Polyamorie, BDSM, Sex). Was ich bearbeiten will, dass soll dann auch durch Therapeut_innen bearbeitet werden können – aber ohne Diagnose, ohne Pathologisierung, ohne „Du bist ein Problem.“.

    Hübsche Wunschvorstellung, nicht?

  • DaSein und SoSein.

    Ich hatte im Laufe meines Lebens ungefähr dreizehn Jahre lang Psychotherapie. Ich bin knapp zwanzig.
    Das ist eine beeindruckende Zeitspanne, habe ich mir sagen lassen. Ich kann das nicht beurteilen, es war meine Normalität. Angefangen hat es, als ich sechs war und dann mehr oder weniger durchgängig, bis ich neunzehn wurde. Mein DaSein war behandlungswürdig, immer.
    Jetzt der erneute Anfang. Diese Therapie unterschied sich jedoch frappierend von allen anderen, die ich zuvor hatte.

    „Wir sind hier doch keine Besserungsanstalt!“ – ein Satz meiner letzten Therapeutin. Dieser Satz ist einmalig, ist besonders in meiner Historie an Therapeut_innen, denn die bisherigen benahmen sich durchaus so, als ginge es darum, mich zu verbessern. Mich anzupassen. Mich gefällig zu machen.
    Mein DaSein angenehmer zu machen, für andere.

    Gaslighting

    Wenn ich in der Sitzung eine problematische Situation schilderte, dann war die darauffolgende Überlegung, was ich daran ändern könnte, damit so eine Situation nicht wieder geschieht.
    „Du kannst andere Menschen nicht ändern, nur dich selbst.“, ist ein Satz, den ich so oder so ähnlich unendlich oft gehört habe. Immer dann, wenn ich der Meinung war, dass mit mir nichts falsch ist, dass sich meine Gegenüber falsch verhalten haben und das es somit unfair ist, dass ich mich ändern muss und nicht die Täter_innen. Meine Wut, meine Frustration, sie hatten keinen Platz in dieser Umgebung. Sie waren schlicht und ergreifend nicht erlaubt.

    Es gab kein Verständnis dafür, dass ich mich nicht immer ändern wollte. Es gab kein Verständnis für meine Situation, es wurde nie erklärt, dass es nicht um Schuld oder Unschuld ging.
    Für mich war klar: Du musst dich ändern, also bist du auch automatisch das Schuldige. Denn nur wer schuldig an der Situation ist, muss sich ändern. Alles andere wäre schließlich ungerecht.

    Gerechtigkeit

    Ja, ich glaubte an Gerechtigkeit, auch wenn das hieß, dass ich dauerhaft „an allem schuld“ war. Das machte mich zwar traurig, wütend und verzweifelt, aber es war so, dass „die Erwachsenen“ es schließlich besser wussten – und gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist das Machtgefälle besonders hoch. Ich habe das nie hinterfragt. Nie, bis meine Psychologin mir den Satz von oben sagte – sie völlig erstaunt darüber, dass ich mich „bessern“ wollte, ich völlig erschüttert darüber, dass ich nicht grundsätzlich falsch bin.

    Es hatten nämlich alle vergessen zu erwähnen, dass der Satz eigentlich lauten müsste „Du kannst andere Menschen nicht ändern, aber du kannst DEINEN UMGANG mit ihnen ändern“. Dann wäre nämlich nicht dieses grundsätzliche „Ich bin fehlerhaft“ entstanden. Es wäre um Umgang gegangen, um beeinflussbares Verhalten – und nicht um den Minidrops, der zurechtgelutscht werden muss und bereits durch das SoSein ein Problem darstellt.

    In dieser letzten Klinik hatten meine Wut und meine Frustration Platz. Ich durfte mich darüber aufregen, wenn Menschen sich scheiße verhalten haben und es hatte Raum. Ich durfte wütend sein. Wut durfte ein Umgang sein. (Ich durfte keine weißen, alten Männer anzünden, aber eins kann ja nicht alles haben.)

    Raum zum DaSein

    Mir hatte vorher einfach noch kein psychologisches Fachpersonal erklärt, dass es mehr gibt, als sich selbst grundlegend ändern und anpassen zu müssen. Ich darf auch einfach sein und muss nicht mit allen Menschen zurechtkommen.

    Und wisst ihr, was traurig ist? Es hat dreizehn Jahre Therapie gebraucht, damit mir eine Psychologin vor einem halben Jahr mal die Erlaubnis gibt, dass ich anecken darf. Ich scheitern darf. Wütend sein darf. Ich Traurig sein darf. Nicht völlig falsch bin.

    Ich darf DaSein. Auch ohne, dass es allen gefällt.

  • Privates ist politisch!

    oder: Warum ein Outcall kein privates Beziehungsdrama ist.

    Dieser Text ist beisipelhaft. Es ist eine Situation, aber ich habe in den letzten Jahren viele dieser Situationen erlebt. Monis Rache war die bekannteste davon. Privates, übergriffiges Verhalten bleibt in den meisten Fällen… privat. Selbst wenn Betroffene sich finden.

    Ich habe einen Tüpen outcallt, der über mehr als vier Jahre mit seiner (mittlerweile Ex-) Freundin eine monogame Beziehung führte. Sie wohnten seit etwas über einem Jahr zusammen.
    Er schrieb mit C. mehr als neun Monate lang persönliche Nachrichten, baute eine emotionale Bindung auf – und verschwieg seine Freundin. Sogar die Möglichkeit einer Beziehung, jedoch keiner Fernbeziehung, war im Gespräch. Er schrieb mit mir über zwei Monate hinweg, wollte Nudes (und erhielt welche) – und verschwieg mir seine Freundin. Mit Nummer drei (deren Identität wir bewusst nicht veröffentlichen) schrieb er mehr als vier Monate, baute eine emotionale Bindung auf. Psychospielchen mit einer labilen Person inklusive – und seine Freundin verschwieg er. Es soll auch noch eine Nummer vier gegeben haben, mit der das Ganze noch intensiver ablief als mit uns dreien.

    Systematik

    Seine Art und Weise, sein Umgang hatte System. Es begann mit netten Gesprächen, zum Teil sehr persönlichen Themen. Privates wurde schnell besprochen und er erhielt intime Informationen. Er war ein guter Zuhörer, supportive und bestärkend. Psychische Probleme schienen ihm nicht fremd, aber er wollte nicht therapieren. Später jedoch übte er Druck aus, um die Frauen an sich zu binden. Er schrieb beispielsweise, dass er den Selbsthass der jeweiligen Frau nicht mehr ertrage, weil sie ihre Großartigkeit nicht sehen würde. Oder das sie zu weit in seine Psyche vorgedrungen sei und er deshalb den Kontakt abbrechen müsste. Ziel des Ganzen schien – im Kontext betrachtet – die Frauen zum Bitten zu bewegen und zur Unterwerfung. Sie sollten sich darum bemühen, die Beziehung zu erhalten und sich „bessern“, ergo nach seiner Pfeife tanzen.

    Dabei war er nicht ungeschickt – ohne Kontext ist das System nur schwierig zu durchschauen gewesen. Vor allem, da es um persönliche Sichtweisen, um Emotionen und auch um psychische Krankheiten ging. Privates eben, das Menschen nicht unbedingt mit anderen teilen.

    Drei der fünf Frauen kannten sich übrigens, waren teilweise befreundet. Zwei wussten von dem Kontakt, unterhielten sich auch darüber. Konkurrenz entstand nicht, was bei der späteren Konfrontation dann zu großem Erstaunen führte. Nein, wir kratzen uns nicht wegen eines Tüpen die Augen aus, besten Dank!

    Die Situation (und zumindest ein Teil der Größenordnung) flog schließlich auf. Ich entschied ich mich (in Kommunikation mit einer weiteren betroffenen Frau) für einen Outcall. Mir wurde vorgeworfen, es sei ein Racheakt, weil mich die „Liebe meines Lebens betrogen hätte“. Ich würde ihn dafür bestrafen, nicht perfekt zu sein. Seine politischen Ideale kurz aus den Augen verloren zu haben. Ich würde übertreiben. Oder lügen.

    Privates und Politik

    Wir bewegen uns in politischen Kontexten. Wo ich an Menschen, die sich als Feminist_innen, Anarchist_innen, Antifaschist_innen bezeichnen, auch einen gewissen Anspruch habe. Privates ist politisch. Ich kann keiner Person vertrauen, die nach innen ihre gesamten Moralvorstellungen über den Haufen wirft und ignoriert. Es ist nicht nur ein moralisches Fehlverhalten, es ist ein moralisches Fehlverhalten in einem Kontext. Er hat sich gleichzeitig darüber definiert, für die Gleichberechtigung von Frauen, für Antifaschismus und für freiheitliche Lebensentwürfe zu stehen.

    „Antifa heißt mehr als Nazis jagen…“ – vielleicht. Darüber lässt sich streiten. Aber spätestens, wenn Menschen sich explizit als Feminist_innen bezeichnen, dann ist es mehr als „Nazis jagen“. Dann gilt es, diesen Anspruch auch an sich selbst umzusetzen.
    Es ist anstrengend, sich zu reflektieren und zu überlegen, wo das eigene Verhalten problematisch sein könnte. Oder auf Kritik zu hören, vor allem, wenn sie nicht nett daherkommt, sondern als aggressive Vorwürfe.

    Hier allerdings ist es kein sexistischer Spruch, sondern ein System, das mindestens über neun Monate hinweg bestand und gepflegt wurde. Das ist kein „Versehen“ oder „Fehlverhalten“, das ist systematisch. Und gegen systematischen Sexismus, gegen systematische Ausnutzung von Frauen zu sein, das hat einen Namen: FEMINISMUS.

    Und deshalb ist mein Outcall auch kein „Beziehungsdrama“, sondern der politische Outcall eines Sexisten.

    Schweigen

    Wir können nicht nach außen hin uns für Feminismus einsetzen und im Privatleben die schlimmsten Sexisten sein. Wer sich als Feminist labelt, der sollte dies auch versuchen umzusetzen. Ich erwarte keine Perfektion. Wir lernen alle. Dauerhaft.

    Ich erwarte, dass systematische Ausnutzung von Frauen erkannt und verurteilt wird. Es ist Sexismus. Und ich erwarte, dass eine Szene, die sich als feministisch versteht, keine Sexisten in ihren Reihen duldet!

    Die Realität sieht leider anders aus, es wurde sich wahlweise solidarisiert oder der Mund gehalten. Das macht mich traurig, auch wenn es zu erwarten gewesen war.
    Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text veröffentlichen werde. Ich musste darüber nachdenken , welche niederen Beweggründe mir unterstellt werden könnten. Nachtreten? Ich habe ja schon seine Onlinepräsenz zerstört. Spaltung? Ich könnte ja ein Statement erwarten. Pathologisierung? Immerhin bin ich psychisch krank, daran muss es liegen!

    Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass mich die Bigotterie dieser Szene so viel Energie kostet, die ich eigentlich in positive Arbeit stecken könnte. Dieser Text wird öffentlich sein. Vielleicht nicht heute. Aber bald.

Cookie Consent Banner von Real Cookie Banner Skip to content