Kategorie: Autismus – salziges Karamell

  • Erlernte Kommunikation – die Grammatik neurotypischer Interaktion

    Sei mal höflicher, sei respektvoll! Ich finde wirklich nicht gut, wie du hier mit Menschen umgehst.

    A.

    Wie?

    Ich.

    Jetzt wirst du auch noch passiv-aggressiv! Bist du denn gar nicht kritikfähig?!

    A.

    *verlässt die Gruppe*

    Ich.

    Eine – für mich – typische Situation, wenn ich (meiner Meinung nach) höflich Kritik geübt hatte. Oder auch nur in Situationen, die ich nicht genau verstanden hatte, nachfragte. Diese Situation findet sich vor allem in näherer Vergangenheit wieder. Meine erlernte Kommunikation ist offensichtlich auch nach über zwanzig Jahren noch nicht gut genug.

    Die Schulzeit dagegen war geprägt von Mobbing und Ausschlusserfahrungen. Weil ich „anders“ war und nicht verstanden habe, inwiefern sich meine Andersartigkeit bemerkbar macht. Ich war im besten Fall „seltsam“, im schlimmsten Fall wurde ich bestraft.

    Wenn sich dieses Verhalten nach jedem Schulwechsel, jedem Klassenwechsel wiederholt, dann lernt das betreffende Kind (in diesem Fall Ich), dass es definitiv nicht an den anderen Kindern liegen kann. Sonst würde der Wechsel ja helfen. Oder, um es mit einem beliebten Zitat meiner Mutter zu sagen:

    Im Radio kommt eine Durchsage über einen Geisterfahrer auf der A4. „Einer?! Hunderte!“

    Der Geisterfahrer.

    Der Witz ist hier, dass dem Geisterfahrer (also der Person, die auf der Autobahn in die falsche Richtung fährt), gar nicht bewusst ist, dass sie die Person ist, die sich falsch verhält. Und das auf alle anderen (die sich richtig verhalten) projiziert.

    Ich dagegen wusste früh: Es liegt an mir. Nur, was genau ich „falsch“ mache, das konnte mir nicht erklärt werden. Ich hatte das Gefühl, alle anderen Kinder (und mittlerweile Erwachsenen) hatten einen geheimen Lehrgang in Kommunikation. Aber ich fehlte dort. Meine erlernte Kommunikation ist also die Imitation eines intuitiven Vorgangs.

    Mittlerweile habe ich Worte dafür – und eine Erklärung.

    Während neurotypische Kinder in ihrer Sozialisation Zugang auf alle Ebenen der Kommunikation (emotionale Ebene, Beziehungsebene, Mimik und Gestik und Informationsebene) haben, bleibt (verbalen) autistischen Kindern ausschließlich die Informationsebene. Gleichzeitig ist diese ihre natürliche Art der Kommunikation. Somit fällt ihnen zunächst nicht auf, dass es bei anderen Kindern (und Erwachsenen) anders ist.

    Später fällt diese „Andersartigkeit“ dann jedoch auf. Doch weil neurotypische Kinder ihre Kommunikation als „natürlich“ empfinden (und ihn der Mehrheit sind), werden autistische Kinder als „anders“ gekennzeichnet.

    Das bedeutet, dass ich nichtautistische Kommunikation lernen musste. Wie eine Fremdsprache, deren Feinheiten sich mir nicht immer erschließen. In der ich niemals mit der gleichen Eloquenz ausgestattet werde, wie in meiner Erstsprache. Die ich jedoch mittlerweile meistens ausreichend beherrsche, um meine Fremdsprachigkeit zu maskieren.

    Der Weg dorthin war lang und schmerzhaft. Nichtautistische Menschen verstehen nicht, dass das, was ihnen intuitiv zufliegt (beispielsweise ein Verständnis davon zu haben, was „höflich“ und „respektvoll“ sein soll) für mich eine erlernte Verhaltensweise ist. Ich versuche, ihr zu entsprechen. Aber es gelingt nicht immer.

    Mein „Wie“ war also, wenn das auch in der Vorstellungskraft von Nichtautist_innen selten Raum findet, nicht passiv-aggressiv oder verletzend gemeint. Es war rein sachlich. Ich wollte wissen, was die andere Person von mir erwartet, um mein Verhalten entsprechend anpassen zu können. Das kam jedoch (wie häufig) nicht an.

    Und mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich mich nicht mehr „falsch“ fühle. Höchstens am falschen Ort und in der falschen Gruppe, aber nicht inhärent aus mir heraus.

    Es ist in Ordnung, anders zu kommunizieren als neurotypische Menschen. Es ist nicht per se schlecht; gerade in Kontexten, in denen es darauf ankommt, sachliche Zusammenhänge aus Kommunikation zu filtern. Dort habe immense Vorteile. Und auch viele Meetings, Treffen und Plena würden davon profitieren, wenn Menschen weniger auf der emotionalen Ebene und mehr auf der informativen Ebene kommunizieren. (Anstatt Gewaltfreie Kommunikation anzuwenden.)

    Gleichzeitig ist es auch in Ordnung, autistische Kommunikation nicht nachvollziehen zu können. (Ich kann es bei neurotypischer Kommunikation, auch wenn ich gelernt habe, sie nachzuahmen, schließlich auch nicht.) Wichtig ist, dass Raum gelassen wird, es zu erklären, anstatt die eigenen Erwartungen auf eine Leinwand zu projiziere. Diese besteht ärgerlicherweise nicht aus Stoff, sondern aus organischem, menschlichem, fühlendem Material.

    Darüber, wie gute erlernte Kommunikation zwischen neurotypischen Menschen und Autist_innen (vor allem in Gruppen) funktioniert, könnt ihr hier nachlesen. Wenn alle Beteiligten aufeinander zugehen und Kommunikation lernen, gewinnen auch alle davon!

  • Weihnachten und Autismus – oh, du Scheußliche

    Ich habe Angst. Ich muss lächeln. Freude. Da muss Freude da sein. Papa filmt. Ich darf nicht auffallen. Ich packe das Geschenk aus. Es ist Bettwäsche. Ich lächele. Ich freue mich. Ist das so richtig? Ich FREUE mich. Es ist Weihnachten.

    Gedanken an Weihnachen. Ich bin ungefähr sieben Jahre alt.
    Falls du dir den Blogpost lieber anhörst, als ihn zu lesen.

    Weihnachten. Fest der Liebe, des Beisammenseins, des Krippenspiels. Ich mochte das Krippenspiel, ich hab jahrelang mitgespielt. Mir fiel und fällt es leicht, Texte zu lernen, sie auswendig vorzutragen. Und Emotionen und Schauspieltalent verlangt ein Krippenspiel meist nicht.

    Danach ging es nach Hause. Es gab zuerst Abendbrot und dann die Bescherung. Ich habe immer ein bisschen Angst davor. Denn ich weiß, dass Freude erwartet wird. Kenne auch die Vorwürfe, man „könne es mir nicht recht machen“. Ich weiß, dass ich „Danke“ sagen muss, aber nur „Danke“ reicht nicht.

    Ich muss auch irgendwas mit meinem Gesicht machen. So einen Eindruck darauf hinterlassen, der richtig interpretiert wird. Ich scheitere – alle Jahre wieder. Meine Eltern und meine Großeltern sind unzufrieden. Denn ich zerstöre das Weihnachtsfest. Strahle die „falsche Stimmung“ aus.

    Ich weiß nicht, was ich verkehrt mache. Also sehe ich mir Videos an. Lerne, welchen Gesichtsausdruck Kinder in Weihnachtsfilmen haben. Ich lerne, welchen Gesichtsausdruck Kinder haben, die Geschenke bekommen. Ich lerne, überschäumende Freude und Dankbarkeit darzustellen, Menschen zu umarmen, zu küssen, mich zu freuen.

    Es ist irrelevant, was es für Geschenke sind. Meistens sind es Bettwäsche, Socken oder Unterwäsche. Aber darum geht es ja auch nicht. Sondern es geht darum, dass ich zeige, dass ich mich freue. Das ich das „richtige Gefühl“ vermittele. (Außerdem mag ich praktische Geschenke. Sie haben einen Nutzen und sollen nicht nur hübsch aussehen.)

    So, wie es von mir erwartet wird.

    Gelobt werde ich dafür, wenn ich Geschenke so auspacke, dass das Geschenkpapier wiederverwendet werden kann. Und ich bin sehr sorgfältig. Reiße keine Geschenke auf wie meine Schwester, sondern ich fummele die Klebestreifen vorsichtig ab. Ich bin immer sehr stolz auf mich, wenn ich es schaffe, sie zu lösen, ohne das Papier einzureißen oder den Aufdruck abzulösen.

    Ich würde dafür auch ein Messer benutzen, wenn ich dürfte.

    Aber ich darf nicht, Messer sind zu gefährlich. Ich lächele. Hauptsache, die „richtige Stimmung“ ausstrahlen. Mein Gesicht ist heiß, ich ich habe Kopfschmerzen. Aber die Stimmung, die Stimmung! Bloß nichts falsch machen, nichts ruinieren.

    Heute fahre ich nicht mehr zu meinen Eltern. Ich verbringe Weihnachten mit Menschen, bei denen ich nicht maskieren muss. Hier darf ich mich über Geschenke im Stillen freuen, wie ich möchte. Muss mich nicht schlecht fühlen, wenn mich „Schenken“ und „beschenkt werden“ überfordert.

    Ich bin in einem zu Hause angekommen, das mich akzeptiert.

    Aber ich weiß, dass es für meine Eltern nicht einfach war. Sie wussten nichts mit mir anzufangen, ich konnte mich nicht verständlich machen. Sie haben ihr Bestes gegeben – ohne zu wissen, was mit mir „nicht in Ordnung“ war. Ich war jahrelang in Therapie, ohne, dass es erkannt worden ist – ich mache ihnen keinen Vorwurf. Ich schreibe nur für die Autist_innen (und Eltern autistischer Kinder und Partner_innen autistischer Erwachsener), die sich in der gleichen Situation wiederfinden wie ich heute.

  • Trans und Autist_in – ein Spagat zwischen zwei Welten.

    Stell dich nicht so an, du willst doch Toleranz.

    Twitter (anonymisiert)

    Ich brauche den Unterstrich zwischen Autist und _in, um mich repräsentiert zu fühlen. Ich bin nicht nur Autist oder Autistin, ich bin nichtbinär – und Autist_in.

    Ich habe mein Leben lang (gut, seitdem ich fünf Jahre alt war) mit unterschiedlichen Diagnosen gelebt. AD(H)S war dabei, Borderline, histrionische Persönlichkeitsstörung, Depression – letztere ist mir geblieben, alles andere wurde mehr oder weniger ausprobiert und als unpassend verworfen. Das AD(H)S erst, als auch der zweite Versuch mit einem Ritalinpräparat gnadenlos und grandios schief ging.

    Die Therapeutin, bei der ich war, um meine Transgeschlechtlichkeit pathologisieren zu lassen (und die das sehr wohlmeinend und umsichtig getan hat), hat mir außerdem Fragebögen mitgegeben zu Auffälligkeiten, die ihr ebenfalls aufgefallen waren. Dabei: ein Fragebogen zu Essstörungen (das war mir bekannt, dass ich damit Probleme habe) und ein Fragebogen zu Autismus (das war neu).

    Der letzte Fragebogen brachte dann den sprichwörtlichen Stein ins Rollen – ich überschritt die Grenzwerte so deutlich, dass sie mir eine Diagnostik bei einem Autismus-Spezialisten nahelegte. Schlussendlich suchte ich einen auf. Noch mehr Fragebögen.

    Fragebögen, deren Fragen für mich so formuliert waren, dass ich mehrmals schreiend auf dem Sessel saß, voll Verzweiflung, weil sie keine passende Antwortmöglichkeit boten, weil sie nicht nachvollziebar waren, nicht logisch genug. („Sind Sie nachtragend?“ – Ich weiß es nicht. Was meint die fragenstellende Person mit „nachtragend“? Ab wann ist ein Verhalten „nachtragend“? Bis wann ist es angemessen, Menschen ihre Taten vorzuhalten? – ein Beispiel von vielen, jedoch eines, das mir als besonders schwierig in Erinnerung geblieben ist.)

    Außerdem persönliche Interviews, es wurde mit mir gesprochen, mit meinem Vater, die Kindheit wurde komplett aufgerollt, meine Mobbingerfahrungen, die Menge von Freund_innen, mein Sexual- und Beziehungsleben. ich musste zeigen, wie ich mir die Zähne putze, das beschreiben, Comics beschreiben und Puzzles lösen. Am Ende blieb ein Gutachten, das Asperger-Syndrom bescheinigt – kurz: Autismus.

    Jetzt hatte ich einen Namen für das, was mich „anders“ machte. Ich verstand, warum ich mich in den meisten Gruppen und bei Gruppenarbeiten schnell unbeliebt machte, warum ich dissoziierte, wenn ich ohne Kopfhörer draußen unterwegs war, warum ich so dringend Routinen in meinem Leben brauchte. Gleichzeitig nahm ich Testosteron, änderte meinen Personenstand und meinen Vornamen, wurde zu MIR.

    Ich sah Bilder von mir, als ich Kind und Jugendliches war, ich sah, dass ich nicht in das erwartete Geschlecht passte, ich performte es nicht. Ich erinnerte mich, wie ich gesellschaftliche Konventionen, Smalltalk und „typisch dörfliche“ Höflichkeit (die ich eher als übergriffig empfand) nie verstanden hatte – oder gar selbst darstellen konnte.

    Ich hatte Worte gefunden. Worte, die mich zu mir machten.

    Gleichzeitig las ich Bücher über Autismus, die das Thema „trans“ nie auch nur anschnitten und Bücher über Transgeschlechtlichkeit, in denen Autismus nicht vorkam.

    Ich war nicht vorgesehen und jedes Mal fehlte von mir ein Stück, das aber gleichzeitig inhärent wichtig war, um meine Weltsicht darzustellen.
    Neurotypische trans Personen erleben die Welt anders als ich – und cis AutistInnen ebenfalls.

    Selbsthilfegruppen für AutistInnen waren transfeindlich – absichtlich oder unabsichtlich oder wollten sich gar nicht mit dem Thema befassen. Nachdem ich zu oft misgendert wurde oder nach meinen Genitalien ausgefragt, ging ich nicht mehr hin.

    Gruppen für trans Personen waren offener, gleichzeitig wurde oft und viel auf einer emotionalen Ebene kommuniziert, zu der ich keinen Zugang habe. Dadurch kam es vor, dass ich Menschen verletzt habe, ohne es zu wollen, weil ich nicht kommunizieren konnte, ohne missverstanden zu werden – ein Problem, das viele Autist_innen ebenfalls kennen.

    Ich lese vermehrt, dass sich autistische Kinder und Jugendliche für trans halten würden, um Anschluss zu finden, um Zugang zu Hilfe zu erhalten und „vorschnelle, lebensverändernde Maßnahmen“ ergreifen würden. Gleichzeitig wäre es tragisch, dass diese Kinder „nur noch“ eine trans-Sichtweise kennenlernen würden. Das macht mich fassungslos. Ich weiß nicht, in welcher Welt diese Menschen leben, aber ein als AutistIn diagnostiziertes Kind wird höchstwahrscheinlich nicht in einer Welt aufwachsen, in der Transgeschlechtlichkeit der „übliche“ Lebensweg ist.

    Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die trans Community nicht unbedingt ein rosafarbener, fluffiger Raum voll Liebe und Zuneigung ist – und als neurodiverse Person macht 1 sich auch nicht unbedingt Freund_innen, wenn grundsätzliche Ebenen der Kommunikation nicht betreten werden können. Warum sollte also der Rückhalt einer autistischen peer group verlassen werden, um eine trans Gruppe zu finden, in der eine Person im Zweifel unerwünscht und unglücklich ist – wenn die Person cis ist?

    Trans zu sein, ist kein Zuckerschlecken und um „lebensverändernde“ Maßnahmen zu ergreifen, stehen Psycholog_innen, Mediziner_innen, geltendes Medizinrecht (Operationen frühestens mit der Volljährigkeit) und eine argwöhnische Gesellschaft dem gegenüber.

    Es ist anstrengend, misgendert zu werden, sich selbst einen Platz suchen zu müssen, öffentliche Toiletten nicht benutzen zu können. Das machen Menschen nicht, weil sie es können oder es Spaß macht.

    Es gibt sogar Studien, die eine Korrelation zwischen trans und Autismus erkennen.1 Ich möchte nicht, dass Kinder in dem Klima aufwachsen, in dem ich aufgewachsen bin.

    Ich möchte, dass sie alle Optionen haben. Trans zu sein, autistisch zu sein, in beiden Fällen Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Wenn sie sich gegen eine Transition entscheiden, wenn es „nur eine Phase“ ist, dann ist es gut. Auch in einzelnen Phasen des Lebens sollen Menschen alle Unterstützung bekommen, die sie brauchen und wollen. Und wenn sie sich für eine Transition entscheiden, auch dann sollen sie Hilfe und Unterstützung erhalten. Ich möchte mich für Inklusion und Transgeschlechtlichkeit einsetzen können, ohne abwechselnd zurechtgewiesen zu werden, ich wolle doch Toleranz, ich müsse doch mit dem Ableismus/der Transfeindlichkeit zurecht kommen. Ich wäre doch das Problem, ich wolle doch zu viel.

    Nein. Ich will das gleiche wie ihr, aber ich muss es an zwei Fronten durchsetzen. Ich will Autist_in sein – trans inklusive. Ich kann nicht einen Teil von mir zu Hause lassen, um Aktivismus in einem Feld zu machen – und dann den anderen Teil mitnehmen, wenn es um ein anderes Thema geht.

    Ich schreibe für mich, aber ich schreibe genauso für trans Geschwister und Autist_innen, die ebenso verloren durch zwei Welten irren, die beide nur begrenzt für sie gemacht sind. Und ich schreibe dafür, dass diese Welten lernen, dass es kein „entweder-oder“ sein muss, sondern auch ein „sowohl als auch“ sein kann.

  • Gewaltfreie Kommunikation als Waffe

    Ein Plenum, eine Arbeitssitzung, eine Gruppe diskutierender Menschen, eine hitzige Situation. Unterschiedliche Meinungen.
    Dann die mahnende Stimme aus dem Off, alle Beteiligten mögen sich der Grundsätze von „gewaltfreie Kommunikation“ besinnen. Und wieder auf ein freundliches, sachliches, nettes, positives Feld der Kommunikation zurückkehren. Das ist dann immer der Moment, in welchem ich mich, als Autist_in, wehrlos und überfordert fühle. Ab jetzt werde ich kein Teil der Diskussion mehr sein können.

    Doch, was ist das eigentlich, „gewaltfreie Kommunikation“ (kurz: GFK)?
    Es wurde in den 1960er Jahren von Marshall Rosenberg entwickelt und kommt eigentlich aus der klinischen Psychotherapie.

    Was ist Gewaltfreie Kommunikation?

    Rosenberg nimmt an, dass jeder Mensch gern bereit sei, etwas für einen anderen Menschen zu tun, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind (z. B. die Anfrage als Bitte formuliert ist und nicht als Forderung, er nicht den Eindruck hat, dadurch eine Pflicht abzuarbeiten oder den anderen in eine Pflicht zu setzen und so weiter).

    Dieses Menschenbild geht auf die der humanistischen Psychologie entlehnte Haltung zurück, in einer schädigenden Aktion eines Individuums nicht den Ausdruck des inneren Wesens zu sehen, sondern die „fehlgeleitete“ Strategie eines eigentlich lebensdienlichen Impulses. Rosenberg bezieht sich besonders auf Carl Rogers. So nennt Rosenberg jede Form von Gewalt einen tragischen Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltfreie_Kommunikation
    Die Grundpfeiler

    Gewaltfreie Kommunikation unterteilt sich in vier Schritte:

    1. Beobachtung bedeutet, eine konkrete Handlung (oder Unterlassung) zu beschreiben, ohne sie mit einer Bewertung oder Interpretation zu vermischen. Es geht hierbei darum, nicht zu bewerten, sondern die Bewertung von der Beobachtung zu trennen. Das Gegenüber erhält Klarheit, worauf man sich bezieht.
    2. Die Beobachtung löst ein Gefühl aus, das im Körper wahrnehmbar ist und mit mehreren oder einem…
    3. Bedürfnis in Verbindung steht. Damit sind allgemeine Qualitäten gemeint, die vermutlich jeder Mensch auf Erden gerne in seinem Leben hätte. Beispielsweise Sicherheit, Verständnis, Kontakt oder Sinn. Gefühle sind laut GFK eine Art Indikator bzw. Ausdruck dessen, ob ein Bedürfnis gerade erfüllt ist oder nicht. Für den einfühlsamen Kontakt sind Bedürfnisse sehr wichtig, da sie den Weg zu einer kreativen Lösung weisen, die für alle Beteiligten passt.
    4. Aus dem Bedürfnis geht schließlich eine Bitte um eine konkrete Handlung im Hier und Jetzt hervor. Um sie möglichst erfüllbar zu machen, lassen sich Bitten und Wünsche unterscheiden. Bitten beziehen sich auf Handlungen im Jetzt, Wünsche dagegen sind vager, beziehen sich auf Zustände („sei respektvoll“) oder auf Ereignisse in der Zukunft.

    Klingt alles erstmal richtig gut, ja? Ja. Grundsätzlich schon. Wenn es sich um einen Raum voller neurotypischer Personen handelt, die sich selbst dauerhaft reflektieren (wollen). Im Folgenden gehe ich auf die Punkte ein und formuliere meine Kritik daran. Anschließend werde ich die Problematik des Konzepts „Gewaltfreie Kommunikation“ im Ganzen fokussieren.

    Die Problematik

    Beobachtung

    Eine neutrale Beschreibung einer Situation. Leider sind die meisten Beschreibungen nicht neutral, da (vor allem) neurotypische Menschen (also jene, die nicht auf dem Autismus/ADHS-Spektrum sind), nicht nur auf der Informationsebene kommunizieren, sondern gleichzeitig auf der emotionalen Ebene und der Beziehungsebene. Es werden also ohnehin noch mehr Dinge vermittelt, als die reine Information. Neurotypische Menschen reagieren intuitiv auf das, was sie (vermeintlich) auf emotionaler und/oder Beziehungsebene verstehen.

    Gefühl

    Äh… ja. Gefühle sind im Körper wahrnehmbar? Willkommen in meiner Welt, leider nicht. Ich nehme zwar körperlich wahr, dass sich etwas „unangenehm“ oder „angenehm“ anfühlt, aber mehr auch nicht. Ich kann Wut, Angst, Trauer, etc. nicht voneinander unterscheiden, weil sie sich alle als „Bauchschmerzen“ manifestieren. Mein Gefühlsspektrum umfasst die Felder „gut“, „schlecht“, „neutral“ und „leer“, wobei „leer“ sowohl eine depressive Episode, als auch ein Overload bedeuten kann. Ich finde das ausdifferenzierte Gefühlsspektrum neurotypischer Personen sehr faszinierend, kann damit aber leider nicht dienen. Grundsätzlich kann ich mir vorstellen, wie sich Menschen fühlen könnten, allerdings ist es mir deutlich lieber, Menschen würden mir sagen, wie sie sich fühlen.

    Ich weiß es nämlich nicht. GFK wird dagegen in den meisten Kontexten so gelehrt, dass Menschen sich „in das Gegenüber einfühlen“ sollen, um dessen Gefühle „empathisch zu erleben“. Das Risiko der Projektion eigener Emotionen auf das Gegenüber ist hierbei hoch. Missverständnisse – vor allem in Bezug auf neurodiverse Menschen, aber auch bei neurotypischen Menschen, scheinen vorprogrammiert.

    Bedürfnis

    Wenn ich die Gefühle bereits nicht spezifisch benennen kann, ist es absolut unmöglich, daraus ein Bedürfnis abzuleiten. Die Suche nach dem Bedürfnis, es „erspüren zu müssen“, endet in allen Fällen im Overload, weil ich die Anforderungen weder erfüllen, noch verarbeiten kann. Es zu rationalisieren, wird dagegen als „entfremdete Kommunikation“ abgelehnt. (Wozu das im Extremfall führen kann, könnt ihr hier nachlesen.)

    Bitte/Wunsch

    Konkrete Bitten sind durchaus erfüllbar, solange sie auf der Informationsebene dargebracht werden. Wünsche wie „sei respektvoll“ sind für mich nicht umsetzbar, weil ich nicht einmal weiß, was die Person erwartet, wenn sie „respektvoll“ sagt. Worte sind definiert. Aber gerade jene, welche für soziale Interaktionen verwendet werden, enthalten Definitionen und Erwartungen, die weder der Duden, noch Übersetzungsprogramme wie „leo“ in petto haben. Das Ergebnis ist, dass ich eine Aufgabe bekomme, die ich jedoch nicht in eine Handlungsanweisung übersetzen kann. Ergebnis: Overload.

    Gebrauch als Waffe

    Unabhängig von der ableistischen Komponente in dieser Form der Kommunikation, kommt noch eine handlungsspezifische Komponente hinzu. Sehr oft wird das „Wie“ über das „Was“ gestellt. Die Art und Weise, etwas zu diskutieren, ist wichtiger als der Inhalt der Debatte. Das hat bereits Sebastian Friedrich in der ak Nr. 612, (19. Januar 2016, S. 2) treffend formuliert. Wer diesen Forderungen nicht nachkommt, erhält „Nachhilfe“ in GFK.

    Ist mir auch schon passiert, danach habe ich Gruppen jedes Mal verlassen. Gewaltfreie Kommunikation nimmt die Emotionen und Bedürfnisse von (neurotypischen) Menschen ernst und geht auf die verschiedenen Ebenen der Kommunikation neurotypischer Menschen ein – die Beobachtung findet auf der Informationsebene statt, Gefühle und Bedürfnisse decken die emotionale Ebene ab und durch die Bitten/Wünsche sind wir auf der Beziehungsebene. Mir steht dabei ausschließlich die Informationsebene zur Verfügung, deshalb kann ich die restlichen Ebenen weder nachvollziehen, noch selbst betreten. Ich sehe die Ergebnisse von Kommunikation, aber ich verstehe nicht, wie sie zustandegekommen sind.

    Von mir also zu erwarten, ich könne dieses Modell anwenden, bezeichne ich als gewaltvoll, weil ein Overload als annehmbarer Kollateralschaden gilt. Kommunikation – und vor allem autistische Kommunikation – ist ein komplexer Vorgang. Die Reizverarbeitung in Gesprächen (und vor allem Gruppen) fordert bereits von neurotypischen Menschen viel (deshalb sind Sitzungen so anstrengend), von Autist_innen (aufgrund der Reizverarbeitungsschwäche) noch deutlich mehr.

    Fazit

    Gleichzeitig baut die Erwartung, alle Menschen müssten GFK anwenden können, auch innerhalb von neurotypischen Gruppen ein Machtgefälle auf. Dieses wird teilweise als Gewaltinstrument genutzt. Wer „noch nicht so weit ist“ oder „es einfach nicht kann“, dessen Inhalt ist weniger wert. Die Art und Weise ist wichtiger als der Inhalt. Vor allem positive Emotionen (Dankbarkeit, Zustimmung, Freude) werden honoriert. Wut und Zorn sollen bevorzugt zugedeckt oder „mit Zuckerguss übergossen“ – schließlich können sie bei den Anderen negative Emotionen auslösen. Gerade in einer Gesellschaft, in der von FLINTA – Personen ohnehin erwartet wird, dass sie ausschließlich positive Vibes verströmen und „wütende Frauen“ ganz schnell die Diskursfähigkeit abgesprochen wird, halte ich diesen Umgang mit Emotionen für mindestens gefährlich.

    Ebenso ist der Umgang innerhalb von gesellschaftlichen Machtverhältnissen (Diskriminierungen sind in unserer Sozialisation derzeit verankert) bei GFK nicht ausreichend reflektiert – und am Ende stehen wieder die objektiven, weißen, cis Männer als jene dar, die andere anleiten, weil sie es eben „schon besser können“. Gerne wird GFK auch in Kombination mit „Kritischer Männlichkeit“ angewandt, um sich nach außen hin von „toxisch männlicher Kommunikation“ abgrenzen zu können.

  • Autismus, Baby!

    Frisch diagnostiziert sitze ich bei meiner Therapeutin. Sie hat keine Expertise bezüglich Autismus, sagt sie selbst. Sie weiß, dass es das gibt und wie die Diagnoseverfahren grob laufen – mehr nicht.
    Zuerst erklärt sie mir, dass sie bezweifelt, dass ich Autismus habe. Bei ihr wirke ich erst so, wie es im Gutachten steht, seitdem es im Gutachten steht.


    Ich denke mir: „Ja, weil ich jetzt die medizinische Erlaubnis habe, nicht immer angepasst sein zu müssen. Weil es jetzt okay ist, das ich krasse Überforderungen auch einfach nicht tue. Wie beispielsweise, Ihnen in die Augen sehen zu müssen.“ Aber als ich das sage, wirkt sie nicht überzeugt. Aber sie hat mir auch nicht geglaubt, dass ich trans bin oder eine HRT haben darf. Das hat ihr „Bauchschmerzen“ bereitet.

    Vermeidung

    Ich sitze verkrampft da. Ich sitze eigentlich immer im Gespräch verkrampft da. Ab und zu sagt sie mir, ich solle aufrecht sitzen. Ich richte mich dann auf. Stimmen ist auch verboten, weil Stimming würde bedeuten, dass ich das „innere Kind“ alleine lasse. Ich versuche also, unauffällig zu stimmen, aber ich darf mich dabei nicht erwischen lassen. Zum Glück erkennt sie viele Stimmingmethoden nicht. (Nicht behandeltes Stimming bei Autismus kann zu chronischen Schmerzen führen, weil beispielsweise auf Zähneknirschen oder Muskelverkrampfungen ausgewichen wird.)

    Es ist Schematherapie, ich muss mich also in die verschiedenen Modi begeben. Es gibt Elternmodi (die sind abwertend oder verlangen zu viel in Bezug auf (emotionale) Leistung), Bewältigungsmodi (Vermeidung, Unterwerfung, Überkompensation) und Kindmodi (wütendes, glückliches, verletzliches, impulsives Kind). Und ein sogenanntes „gesundes Erwachsenes“, das einerseits alles koordinieren soll, andererseits sich um den Modus des verletzlichen Kindes kümmern soll.

    „In die Modi begeben“ heißt Rollenspiele. Ich muss dieser Modus sein. Gleichzeitig darf ich nicht von den Modi als unterschiedliche, sich austauschende Persönlichkeiten denken, ich darf nicht von „wir“ sprechen. Warum? Keine Ahnung. Weil die Therapeutin sagt, dass das falsch ist.

    Überforderung

    Wenn ich Dinge nicht verstehe (und ich verstehe viele Dinge nicht), darf ich nicht nachfragen, weil kognitives Verständnis Teil der Vermeidung ist. Sagt meine Therapeutin.
    (Es ist auch die Art, wie Autismus sich äußert, aber das darf ich nicht sagen.)
    Sie versteht mich häufig nicht, wenn ich versuche, mit ihr zu kommunizieren. Da sind Worte und ich weiß, dass ich mit diesen Worten etwas wichtiges aussagen möchte, aber es kommt nicht an. Und wenn ich darüber verzweifele, dass ich mich nicht verständlich machen kann, dann sagt sie, es wäre eine wütender Modus. Oder Vermeidung.

    Die Depression könnte eine organische Krankheit sein, die organische Auswirkungen hat. Oder eine psychische Krankheit, die organische Auswirkungen hat. Oder eine „Strategie eines Bewältigungsmodus“, die organische Auswirkungen hat. Die organischen Auswirkungen sind da, die merke ich. Aber sie hat gesagt, dass die Bewältigungsmodi dazu da sind, das „innere Kind“ zu schützen. Die Depression (zumindest die organischen Auswirkungen wie Müdigkeit, Überempfindlichkeit, Geräuschempfindlichkeit, Schmerzen) sind aber doch kein Schutz? Das passt nicht. Das fühlt sich bis auf die Knochen verschoben und falsch an. Oder sind es keine depressiven Symptome? Ist es Autismus? Ich bin verwirrt.

    Overload

    Manchmal versuche ich, eine eindeutige Antwort zu bekommen. Ich bettele um eine Antwort. Ich verstehe das nicht. Sie sagt, ich solle nicht wütend sein. Das wäre Vermeidung. Ich sitze doch im Modus des gesunden Erwachsenen, der wäre aber zu wenig da. Ich solle den gesunden Erwachsenen verkörpern. Das würde ich aber nicht tun.

    Ich bin aber nicht wütend, ich versuche, ihr wichtige Dinge zu erklären. Aber „Dinge erklären“ ist Vermeidung, sagt sie. Ich weiß nicht, wie ich etwas richtig machen soll, wenn ich es nicht verstehe. Aber ich bekomme keine Bedienungsanleitung oder Handlungsanweisungen. Ich soll sie mir selbst erarbeiten, aber ich weiß nicht, wie.
    Ich kann doch nur Dinge aufschreiben, die ich bereits erfahren oder erkannt habe.
    Aber sie sagt, ich muss das selbst entwickeln. Beispielsweise, was eine „gesunde Beziehung“ ist. Aber ich kann das nicht, weil jedes Beispiel einer gesunden Beziehung auch Zeichen einer toxischen Beziehung sein könnte und es da keine klare Trennlinie gibt. Wie soll ich  Beispiele sammeln, wenn es keine klare Trennlinie gibt?

    Shutdown

    Ich sage ihr das. Sie sagt, sie wird sich nicht auf die Strategie der Vermeidung einlassen. Ich fange an zu wippen. Sie sagt, ich muss damit aufhören, ich würde das „innere Kind“ alleine lassen. Redet immer weiter. Wird immer lauter in meinen Ohren. Ich wippe stärker. Sie sagt, ich soll aufstehen und den Stuhl wechseln. Ich bettele, dass sie den Mund hält, ich kann nicht mehr. Ja, ich weiß, dass ich nicht wippen darf, aber ich kann nicht aufhören. Ich falle auseinander. Ich brauche das Wippen gerade. Sie hält den Mund. Ich kann ein bisschen atmen. Setze mich auf anderen Stuhl. Benutze mein StimToy zum stimmen.

    Sie erkennt das StimToy nicht als StimToy. Ich habe aufgehört zu wippen. Habe mich brav an ihre Aufgaben gehalten. Sie gibt mir eine Aufgabe. Ich merke, dass ich wegdrifte. Kann nicht mehr sprechen. Ich nehme mein Handy. Nehme meine Tasche. Ich gehe. Bin ein kleiner Ball, innen eingerollt in mich. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich weiß, dass sich meine Menschen darum kümmern werden, dass ich nach Hause komme.
    Shutdown.

  • Gestört, nicht krank. Ein Umgang mit mir.

    Wenn ich darüber rede (oder schreibe) wie es ist, als ich zu leben, dann komme ich oft in die Situation, dass Menschen hilflos werden. „Ich würde dir so gerne helfen, aber…“, und dann schauen sie mich mit traurigen Dackelaugen an und ich frage mich, wobei mir diese Menschen denn helfen wollen. Aber meine Kommunikation ist ohnehin oft gestört.

    Meistens geht es nämlich nicht darum, mir das Leben irgendwie zu erleichtern. Nein, sie wollen mich „gesund“ machen. Schließlich bin ich ja krank.

    Gestört, nicht krank.

    Nein. Ich bin gestört, nicht krank. Ich befinde mich auf dem Spektrum der Charakter- und Verhaltensweisen so weit abseits des als normal definierten Bereichs, dass es pathologisiert wurde. (Dabei ist die Art und Weise der Pathologisierung ein Problem für sich, aber das ist ein anderes Thema.) Der Unterschied liegt darin, dass Krankheiten eine andere Herangehensweise erfordern als Störungen. Meine Krankheiten sorgen dafür, dass es mir schlecht geht. Meine Störung sorgt dafür, dass es mir schlecht geht, weil ich anders bin – aber sie sorgt nicht aus sich selbst heraus dafür, dass es mir schlecht geht. Ich habe keinen Leidensdruck, der dafür sorgt, dass ich mich grundsätzlich als Problem wahrnehme – der kommt erst von außen. (Und ist mittlerweile dauerhaft da, aber auch das ist ein anderes Thema. Ich glaube, ich muss einen Fußnotenartikel zu diesem hier schreiben. Meine Güte.)

    Ich bin Autist_in. Das nennt sich in offizieller Diagnostik dann „Autismus-Spektrum-Störung„.

    Krank, nicht gestört.

    Ich bin auch krank. Ich habe Depressionen (wiederkehrende, seit mittlerweile anderthalb Jahrzehnten), körperliche Beschwerden dadurch, chronische Schmerzen. Das sind alles Sachen, bei denen ich tatsächlich Hilfe brauche – und sie mir auch einfordere. Beispielsweise durch den Nachteilsausgleich in der Uni oder durch den Antrag auf Schwerbehinderung. Aber auch dadurch, dass manchmal Umfeldmenschen für mich Dinge abholen oder ein Herzmensch mit mir rausgehen muss, weil es alleine nicht geht. Aber das meinen die Menschen meistens nicht, wenn sie mir so hilflos „helfen“ wollen.

    Ihr wollt mich „gesund“ zaubern, obwohl ich gar nicht krank bin.

    Neurodiversität und Maskieren

    Ich bin anders, als es der Bereich des Spektrums vorsieht und das macht euch hilflos. Ihr könnt meine Realität nicht nachvollziehen und ihr stellt sie euch schrecklich vor. Glaube ich. Zumindest sorgt eure Reaktion dafür, dass ich das denke. Wenn ihr mir wirklich helfen wollt, dann macht eure Welt für mich inklusiver. Sorgt dafür, dass ich mich in Räumen wohlfühle. Sorgt dafür, dass es weniger überfordernde Situationen gibt und sprecht Klartext. Lasst mir Raum, wenn ich gerade in ein Loch stürze und erzählt mir nicht, ich „solle mich beruhigen“. Stellt meine Realität nicht in Frage. Glaubt mir, dass auch meine Emotionen valide sind.

    Ich kann eure Realität auch nicht nachvollziehen. Aber im Gegensatz zu euch wurde mir beigebracht, dass ich deshalb ein Problem bin. Mir wurde beigebracht, dass ich mich ändern müsse, an die Norm anpassen und das ich erst, wenn ich das schaffe, ein Recht habe, mit euch zu interagieren. Gestört zu sein, ist ein Anpassungsurteil.

    Nein. Das ist paternalisierender Bullshit. Ich habe das gleiche Recht darauf, mit euch zu leben, wie ihr auch. Ich bin nicht grundlegend falsch, nur anders.

    Und euer Mitleid, eure Hilflosigkeit, die sorgen nur dafür, dass ich mich frage, was denn an meinem DaSein, meinem SoSein so unglaublich furchtbar sein soll, dass es solche Reaktionen hervorruft.
    Ich bin nicht unglücklich damit, wie ich bin.

    Ich bin nur anders als ihr.

    Pathologisierung

    Und dadurch, dass ich Psychiatrie und psychiatrische Pathologisierung aufgrund von systematischer Kritik begonnen habe, kritisch zu sehen, bin ich auch der Meinung, dass es auch für Menschen mit Störungen einen Umgang gibt. Einen Umgang, der nicht auf einem Machtgefälle zwischen pathologisierten und normativen Menschen beruht, sondern der einfach die Emotionen und Bedürfnisse aller Beteiligten akzeptiert.

    Ich habe Verlustängste. In Gesellschaft genieße ich das Spotlight. Gleichzeitig nehme ich alle Reize viel intensiver wahr. Ich kann die Stimmungen anderer Menschen gut erkennen, aber ihre Intensität nicht nachvollziehen. Kommunikation muss klar, verständlich und deutlich sein. Ich habe gerne, viel und intensiv Sex. Und ich lebe polyamor.

    Das alles sind Verhaltensweisen, die Diagnosen ausmachen. Die pathologisiert werden. Neurologisch gestört. Emotional gestört. Sucht es euch aus. Sexismus und Transfeindlichkeit machen auch vor der Psychiatrie nicht Halt.

    Leider ist die Lösung für diese Bedürfnisse oft, dass ich sie rationalisieren und unterdrücken soll. Das empfinde ich als falsch. Es mag für diese Gesellschaft momentan funktionieren, aber ich finde auch diese Gesellschaft falsch.

    Kommunikation.

    Stattdessen bin ich für eine Kommunikation, in der ich alle Bedürfnisse erst einmal formulieren kann. In der die verschiedenen Bedürfnisse verhandelbar sind. Nein, mein(e) Gegenüber haben nicht die Pflicht, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Sie dürfen jederzeit sagen, dass sie gerade nicht können oder wollen oder einfach Nein, ohne es zu begründen.
    Aber ich möchte sie aussprechen können, bevor ich sie rationalisieren muss. Ich möchte sagen können: „Ich brauche gerade eine Person, die mich festhält.“, aber ohne, dass die andere Person in den Druck kommt, dieses Bedürfnis erfüllen zu müssen. Aber damit kann sie es erfüllen, wenn sie das möchte. Und andersherum sollte es genauso möglich sein – Formulierung von Bedürfnissen und vollständige Akzeptanz der jeweiligen Reaktion.

    Dabei müssen dann die Bedürfnisse nicht mehr gewertet und analysiert werden. Sie sind erst einmal da und es kann ein Umgang damit gefunden werden. Ohne Pathologisierung, ohne Druck.

    Und hinterher kann ich immer noch gucken, an welchen Sachen ich arbeiten möchte (z.B die Verlassensängste) und welche Sachen ich eigentlich voll in Ordnung finde (Polyamorie, BDSM, Sex). Was ich bearbeiten will, dass soll dann auch durch Therapeut_innen bearbeitet werden können – aber ohne Diagnose, ohne Pathologisierung, ohne „Du bist ein Problem.“.

    Hübsche Wunschvorstellung, nicht?

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