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Therapeuten, Therapie und @DeinTherapeut.

CN: SVV, SSV, abuse, Suizid, Porn, Kink, BDSM, explizite Beschreibungen, Ableismus, Misgendering

Ich war mal dreizehn. Ich war mal dreizehn und depressiv und zu dem Zeitpunkt schon seit sieben Jahren in Therapie. Ich war dreizehn, ich habe mich selbst verletzt, ich habe traurige Musik gehört, weil es damit einfacher war und ich habe über Suizid nachgedacht. Öfter.

Mittlerweile bin ich nicht mehr dreizehn. Ich verletze mich immer noch selbst, aber ich romantisieren das nicht mehr. Ich höre keine traurige Musik mehr, um mich „in Stimmung“ zu bringen und den Aspekt der Selbstverletzung zu etwas schönem, etwas kitischigem zu verklären. Ich verletze mich selbst, weil das bisher das beste Mittel ist, um sowohl mit überbordenden Emotionen, als auch Selbsthass, innerer Leere und dem Wunsch nach Bestrafung umzugehen. Das ist nicht schön, aber ich habe es akzeptiert.

Ich bin einerseits deutlich weiter, als ich mit dreizehn war, andererseits hat sich objektiv gesehen in den letzten zehn Jahren nichts verändert – ich verletze mich selbst.
Gleichzeitig hat sich alles verändert, aber dazu später mehr.

Irgendwann in den letzten Monaten begann ich dann, einer Person auf Twitter zu folgen. Er heißt dort @DeinTherapeut und bietet eine Mischung aus aufheiternden, gedankenverlorenen Sprüchen (teilweise als „Kalendersprüche“ betitelt), einen Vorleseabend (er hat eine sehr angenehme Stimme), alltägliches aus seinem Leben als AuPair in den USA und ab und an persönliche Informationen an.
Mich faszinierte die Kombination aus mental illness, einem abgeschlossenen B.o.S. in Psychologie und dem sehr normschönen, instagramartigen Auftreten, welches er gleichzeitig immer wieder versucht zu konterkarieren.

Das erste Mal Bauchschmerzen bekam ich, als eine gute Freundin diesen Account wegen des Zurschaustellens eines be_hinderten Jugendlichen, mit dem Norman arbeitet, kritisierte. Weil wir nicht sicher wissen können, ob der Junge die „Küsschen“-Videos, die Norman hochgeladen hat, auch wirklich im Internet sehen möchte. Ob er überhaupt erfassen kann, wie er wahrgenommen wird. Ob Normalisierung von Be_hinderungen unbedingt auf diese „Er lacht über Flugzeuge und trägt ein Käppi mit einem Propeller!“- Art stattfinden muss. Ob sie so eigentlich stattfinden kann. Da wurde mir bereits mulmig, aber ich blieb. Ich konnte nicht entscheiden, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden sollte und erst einmal blieb ich.

Übel wurde es dann, als Norman die „Gruppentherapie“ ankündigte und daraufhin Kritik erntete. Er wurde gefragt, wo denn die Therapeut_innen seien, die den Discord betreuen würden, wer denn dafür sorgen würde, dass er seinem Namen auch gerecht werden würde. Er kanzelte die Person ab („Du willst also nur streiten.“) und überließ sie seinen Followern. (DeinTherapeutxCatinChief)
Die Reaktionen erschreckten mich. Norman blieb vergleichsweise still, aber seine Follower_innen beleidigten, misgenderten und psychopathologisierten die kritisierende Person extrem. So extrem, dass es mir Angst machte und ich körperliche Symptome bekam. Ich sprach Norman darauf an – und er lachte mich aus. Das entsetzte mich und ich entfolgte ihm. (DeinTherapeutxWolkenfluff)

Später erfuhr ich dann von Einzelheiten auf diesem Discord-Channel. Ich habe Bilder gesehen, die ich niemals, nie in einem solchen „Gruppentherapie“-Kontext zu sehen erwartet hätte. Dabei ist es mir egal, ob es darum geht, dass es in der „NSFW“-Abteilung des Channels war. Das Internet ist voll mit Porn und ich habe kein Problem mit Porn. Ich mag Porn und ich bin kinky. Ich habe schon einiges, was ich auf diesen Bildern gesehen habe, selbst dargestellt.

IN DEM VOLLEN BEWUSSTSEIN, WAS DABEI ALLES SCHIEF GEHEN KANN!

Gürtel um den Hals beinhalten das Risiko, dass du die Person, die du gerade unterwirfst, tötest oder ihr schwerwiegende, bleibende Schäden zufügst. (Deshalb wird Shibari auch nie direkt an der Halsschlagader entlanggeführt und wenn, dann vorne und hinten so gesichert, dass es AUF KEINEN FALL abschnüren kann.) Blutige Striemen auf dem Po bedeuten, dass da vorher ein Maß an Schmerz vorhanden gewesen sein muss, dass die meisten Anfänger_innen im Masochismus überfordern würde. Und höchstwahrscheinlich auch, dass die Haut nicht gut angewärmt wurde, dann platzt sie nämlich schneller auf.

Daddy-Kink hat viel mit Machtpositionen und der Kombination von „Zuckerbrot und Peitsche“ zu tun und ist ebenfalls nichts, was ich ahnungslosen Menschen ans Herz legen würde – da draußen laufen nämlich echt viele Arschlochdoms herum und das kann zu ernsthaften psychischen Schäden führen. Bei ohnehin instabilen Personen bestimmt eine großartige Kombi – nicht. Alle Bilder, die ich gesehen habe, waren auf einem Level von NSFW, dass schon eine sehr separate Nische einnimmt. Es war eben nicht „nur“ Porn oder Nudes oder Nacktbilder oder Penetrationsgifs, sondern alles, wirklich alles, hatte mit Unterwerfung und Schmerz zu tun. Dabei waren ausschließlich Frauen (bzw. als Frauen wahrgenommene Menschen) die Unterworfenen und von Männern war nichts zu sehen. Sie tauchten nur als „Daddy“ auf Oberschenkelkritzelungen auf.

Darüber hinaus wurde sich in #auskotzen teilweise explizit über die Vorstellungen des SVV ergangen. So explizit, dass ich nicht weiterlesen konnte, weil mich bereits die Wortwahl triggerte. Die Form von Trigger, bei der sich mein Magen zusammenzieht, mir übel wird, ich zu zittern beginne und mir unbewusst über die Arme kratze, um dieses Gefühl loszuwerden. Und hey, ich bin gerade stabil. Ich kann mich aber noch sehr gut an eine Zeit zurückerinnern, als ich deutlich weniger stabil war. Als ich mich mit einer Freundin über SVV unterhalten habe und wir uns gegenseitig immer tiefer in diesen Strudel zogen, weil wir es romantisierten und glorifizierten. Weil wir Bilder von blutigen Handgelenken „so ästhetisch“ fanden und uns ganz genaue Beschreibungen lieferten, was wir wie und wo getan haben und wie das hinterher aussah. Und wir waren nur zu zweit. Hier gab es einen ganzen Channel voller Personen, die sich gegenseitig darin bestärkt haben, dass SVV schön, romantisch, großartig und eigentlich doch gar nicht so schlimm wäre.

Wisst ihr, ich finde Selbstverletzung auch nicht schlimm. Es gibt Dinge, die kann ich (noch) nicht ändern und solange sie sich im Rahmen halten, ist das etwas, womit ich genauso leben kann wie mit den regelmäßigen depressiven Episoden oder meiner Menstruation. Ist nicht schön, aber erträglich. Und ja, manchmal sind Situationen so unerträglich, dass SVV der einzige Ausweg ist. Das ist in Ordnung.

Was ich gefährlich finde, ist, wenn sich Menschen gegenseitig das Gefühl geben, es müsse immer „mehr“ geben. Wenn die Narben nicht groß genug, die Schnitte nicht tief genug, die Wunden nicht blutig genug sein können. Wenn daraus ein Wettbewerb wird, welcher Person es am schlechtesten ginge und dies nur durch die Schwere der Verletzungen ersichtlich werden würde. So war es damals bei meiner Freundin und mir und so ähnlich kommen mir auch die Nachrichten auf #auskotzen vor. Dieser Wettbewerb wird bei mir immer noch getriggert, wenn ich mit Menschen über Futter, Futtermengen oder Kalorien spreche(n muss) oder Personen deutlich dünner sind als ich. Das ist dann meine Essstörung, die sich meldet. Essstörungen und kontrollierendes Essverhalten sind durchaus als SSV (selbstschädigendes Verhalten) zu sehen und unterliegen ähnlichen Mustern.

Es ist sehr, sehr schwierig, diese Muster zu durchbrechen. Nur zu sagen „das hier ist ein safe space, es gibt keinen Wettbewerb, ihr seid alle gleich viel geschätzt und eure Probleme werden gleich ernst genommen“, das funktioniert NICHT. Es funktioniert nicht, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der wir zur Konkurrenz erzogen werden – auch beim Leiden. Wem es am schlechtesten geht, di_er bekommt als erstes Hilfe. Und wem geht es am schlechtesten? Nun, da wir alle Menschen nicht IN die Köpfe gucken können, gucken wir eben, bei welchen Menschen das Risiko am größten ist, dass sie sterben, wenn sie keine Hilfe bekommen. Und das sind eben die Menschen mit den tiefsten Schnitten. (Alternativ: Die Essstörungen mit dem geringsten Gewicht, der Medikamentenkonsum mit dem höchsten Risiko, die bereits versuchten Suizide.)
Wer jetzt auch noch SVV romantisiert, hat bereits gleich zwei Problematiken zu bekämpfen: Den Wunsch nach Hilfe (der durch „mir geht es am schlechtesten“ gezeigt wird) und die Anerkennung der Gruppe (weil die Person sich am „schönsten“ selbst verletzt hat, die ästhetischsten Bilder macht oder ihrem Selbsthass besonders explizit Ausdruck verleiht).
Leider scheint in diesem Discord gar kein Bewusstsein für diese Strukturen und Dynamiken vorhanden zu sein. Stattdessen wird es einfach laufen gelassen, in der Hoffnung, dass das ja schon alles irgendwie wird – und wir haben uns auch alle ganz doll lieb.

Das ganze dann auch noch „Gruppentherapie“ zu nennen und den Discord wie eine Psychiatrie in einem Horrorfilm zu benennen (Ostflügel, Westflügel, Zimmer, Hinterhof, Therapieräume), das macht es nur noch absurder. Wobei die Dynamiken in ihrem Ende durchaus den Plot eines Horrorfilms erfüllen könnten. Eine Menge instabiler Menschen treibt sich in einer virtuellen Klinik gegenseitig zu Selbstverletzung und möglicherweise schlussendlich zum (sexualisierten) Suizid. Klingt gruselig? Finde ich auch.

Erschwerend kommt noch dazu, dass auch Norman offensichtlich momentan nicht stabil ist (und dies auch sehr deutlich mit einer Suizidpose auf Instagram gezeigt hat) und dabei der gleichen Dynamik verfällt wie seine Follower_innen. Er romantisiert die Situation und glorifiziert damit den Suizid. Eine süße, kleine Wasserpistole, ein bisschen Glitzer neben dem Kopf und eine Pose, als hätte er sich gerade erschossen – fertig. Hübsch, instagramgeeignet – UND SCHEIßE GEFÄHRLICH. (Wer hat eigentlich dieses Foto gemacht, frage ich mich.)
Suizid sorgt nicht dafür, dass dir Glitzer aus dem Kopf kommt. Es beendet einfach alles. Und Körper sind verdammt widerstandsfähig, versprochen. Suizid bedeutet Schmerzen, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, sich unwillkürlich zu entleeren, zu kotzen, zu kämpfen. Körper wollen leben und sie sind sehr hartnäckig darin, dass zu zeigen. Es besteht immer das Risiko, dass du überlebst, aber bleibende Schäden davonträgst. Was es definitiv nicht gibt, ist Glitzer.

Ah, ich höre schon die Stimmen, die sagen, dass selbst wenn kein Mensch darüber redet, die Gedanken ja nicht verschwinden würden. Und das verschweigen von psychischen Problemen diese nur verunsichtbart, aber nicht löst. Ich bin sehr dafür, dass über psychische Probleme geredet wird. Ich bin auch dafür, dass wir über SVV, SSV und suizidale Tage reden können. Ich kann darüber auch mit Freund_innen mittlerweile lachen und bittere Witze machen – WEIL WIR ALLE DIE LAGE KENNEN UND VERSTEHEN. Wir können sie ernst nehmen und dennoch darüber lachen. Aber wir nehmen sie ernst.
Wenn ich mit Menschen über mein SSV und SVV spreche, dann auf der Grundlage, dass alle Beteiligten wissen, dass das kein entspanntes Verhalten ist. Wenn es mir gut geht, verletze ich mich nicht. Also muss an den Grundlagen, an den Gründen für diesen Drang gearbeitet werden, auch indem darüber gesprochen werden kann. Woher kommt der Drang, wie können wir kommunizieren, damit er weniger oft auftritt? Was triggert dich? Nicht unbedingt nach Alternativen suchen müssen, Skills können nicht alle Menschen gleich gut anwenden.

Was hier passiert, ist, dass die Symptome glorifiziert werden. Und das hilft wirklich niemenschen.

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