Neurodiverse Menschen – egal, ob sie im autistischen oder ADHS-Spektrum oder ganz anderswo auf dem neurodiversen Spektrum verortet sind – sind per Definition behindert. Während wir lange über das Für und Wider von Definitionen von Behinderungen diskutieren können, so ist eine, wie ich finde, sinnvolle Definition: „Körper, die in ihrer Funktion von der gesellschaftlich erwarteten ‚Norm‘ abweichen.“ An dieser Stelle sei gesagt: Auch das Gehirn und Nervensystem gehört zum „Körper“, auch wenn sie erstmal unsichtbare Teile sind. Wichtig ist, dass diese gesellschaftlich erwartete „Norm“ nicht per se „normal“ ist (in meinen Augen gibt es kein „Normal“ – und die Konstruktion einer Norm immer diskriminierend), sondern eben das, was die Gesellschaft erwartet.
soziale Behinderung
Diverse behinderte Menschen sind nicht von ihrer Behinderung selbst behindert. Sondern von einer Gesellschaft, die nicht darauf ausgelegt ist, dass ein Mensch mit dieser Behinderung existiert und entsprechend keine Zugänglichkeit gewährleistet. Das kann der Mangel von Rollstuhlplätzen in ICEs sein, das Bebauen von Orientierungsstreifen auf dem Bürgersteig oder die Erwartung, dass beispielsweise Termine telefonisch vereinbart werden sollen. Etwas, dass sowohl für gehörbehinderte Menschen, als auch für neurodiverse Menschen nicht immer möglich ist.
Neurodiverse Menschen sind in der Gesellschaft behindert. Bei Legasthenie ist es recht offensichtlich. Auch Lesen und Schreiben sind eine solche vorausgesetzte Erwartung. Was nicht immer gegeben sein muss. Ähnlich wird auch eine gewisse Kopfrechenfähigkeit und Koordination erwartet, so dass Menschen mit Dyskalkulie und Dyspraxie einfach nicht mitgedacht werden. Und auch für Menschen mit Autismus und ADHS gilt das. Menschen mit Autismus werden vor allem dadurch eingeschränkt, dass es unsichtbare, soziale Scripte gibt. Alle Menschen müssen diese befolgen, so die Erwartung. Genau so wie Menschen mit ADHS davon eingeschränkt werden, dass das moderne Leben 8 Stunden konzentrierte Arbeit beinhaltet. In vielen Fällen ruhig in einem Büro, mit anderen Menschen. Und natürlich dürfen wir nicht vergessen: Viele Neurodiversitäten haben Überschneidungen. So dass die meisten Menschen, die eine Neurodiversität haben, häufig mindestens eine andere haben.
unsichtbare Behinderung
Das Problem an Neurodiversitäten ist dasselbe Problem, das auch chronische Schmerzpatienten und Menschen mit psychischen Krankheiten haben. Es ist eine unsichtbare Behinderung, sie wird nicht von außen wahrgenommen. Viele Menschen verstehen zumindest in der Theorie, wofür es rollstuhlgerechte Toiletten benötigt. Sie verstehen dagegen nicht den Sinn reizarmer Umgebungen, warum nicht jeder persönliche Termine wahrnehmen oder telefonisch Dinge vereinbaren kann.
Solange Autismus und ADHS nicht mehr schweren Lernbehinderungen einher gehen, werden sie häufig nicht als Behinderung wahrgenommen. Betroffene müssen ihr Verhalten der gesellschaftlichen Norm anpassen. Wenn sie dies nicht tun, so der gesellschaftliche Konsens, dann ist das ihre eigene Schuld und entsprechende Konsequenzen sind gerechtfertigt. Darüber, dass auch dies Ableismus ist, wird selten gesprochen. Spricht man Menschen darauf an, dann wird einem schnell vorgeworfen, dass man sich nur in die Opferrolle drängen wolle.
Barrieren für autistische Menschen
Wie sieht das nun im realen Leben aus? Nehmen wir Autismus als Beispiel. Dinge, die autistischen Menschen häufig schwerfallen sind: Augenkontakt, Verstehen nicht direkt ausgesprochener Erwartungen, selbst Bedürfnisse subtil zum Ausdruck bringen, Sarkasmus und subtile Hinweise verstehen, den richtigen Tonfall (und Sprachlautstärke) finden, Emotionen zum Ausdruck bringen, Emotionen von anderen Menschen verstehen u.v.m. – es sei dazu natürlich gesagt: Es gibt autistische Menschen, die mit dem einen oder anderen Aspekt davon keine Probleme haben. Es gibt keine generellen Aussagen darüber.
Ich werde im Folgenden einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung nehmen – doch natürlich können sie bei anderen anders ausfallen.
Ich hatte mein ganzes Leben lang enorme Probleme meine eigenen Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Wie für viele autistische Menschen üblich, habe ich sehr wenig Mimik, sofern ich nicht aktiv versuche Mimik zu zeigen (also maske) und auch weniger Ausdruck in meiner Stimme.
Kommunikation
Dies stieß im Kindergarten bereits auf Ablehnung. Nicht nur von anderen Kindern, sondern auch von Erzieherinnen (in meiner Kindergartenzeit gab es keinen einzigen männlichen Erzieher). Umso mehr natürlich, da es mit Meltdowns einherging. Sprich: Irgendwann waren die Emotionen dann zu viel und ich habe Heulkrämpfe bekommen. Sowohl im Kindergarten, als auch in der Schulzeit war die übliche Reaktion dazu, dass es natürlich, fraglos, meine Schuld sei. Im besten Fall hatte ich deswegen eine Außenseiter*innenrolle. Im schlimmsten Fall erfuhr ich Mobbing. Lehrer*innen sagten mir, ich solle doch mal versuchen, mich mehr anzupassen. Versuchen zu vermitteln oder mir zumindest ein wenig Freiraum zu geben. Ja, inklusive des klassischen: „Versuch doch mal ein wenig mehr normal zu sein.“
soziale Normen und subtile Hinweise
Auch das umgekehrte Problem habe ich schon oft gehabt: Ich kann häufig subtile Emotionen von allistischen und spezifisch neurotypischen Menschen nicht wahrnehmen und auch Dinge wie subtile Hinweise und Sarkasmus nicht verstehen. Dies hat vor allem im Erwachsenenleben schon häufig zu Problemen geführt, weil Leute auf mich sauer wurden, weil ich den einen oder anderen subtilen Hinweis nicht verstanden habe, oder etwas gesagt habe, dass zum aktuellen emotionalen Zustand einer Person, den ich nicht wahrnehmen konnte, nicht passte. Die Folge: Ausgrenzung, Ärger, Wut und die Erwartung, dass ich mich entschuldigen solle dafür. Anders gesagt: Ich solle mich für meine Behinderung entschuldigen.
Auch anders herum sind „subtile Hinweise“ ein Problem. Denn ich verstehe nicht, wie man sie gibt. Das heißt, wenn ich etwas mag, will oder brauche, dann gebe ich keine subtilen Hinweise. Entweder ich sage es gerade heraus – oder ich sage es gar nicht, bis mir alles zu viel wird. Doch auch das wird von allistischen (und manchmal auch von anderen autistischen) Menschen abgestraft. Direkt seine eigenen Bedürfnisse zu nennen sei „anspruchsvoll“ und „needy“. Sage ich es jedoch nicht und irgendwann kommt zur Sprache, dass ich unglücklich war, dann heißt es: „Da hättest du schon etwas sagen müssen.“.
Übrigens können diese Themen auch Menschen mit ADHS betreffen – allein schon, weil die Übergänge zwischen Autismus und ADHS fließend sein können und es viele Überschneidungen gibt. Wie gesagt: Neurodiversitäten überschneiden sich allgemein oft.
neurotypische Erwartungen
Das Problem bei der ganzen Sache ist, dass wir in der Gesellschaft von unserer Kindheit an bestimmte Verhaltensweisen lernen sollen. Viele davon werden nicht einmal aktiv anerzogen, sondern von Kindern bereits aus der Umgebung internalisiert. Es ist das gesellschaftlich verträgliche Verhalten. Das Folgen von bestimmten Skripten, die eben vorschreiben, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten soll. Ein Thema, das für viele neurodiverse Menschen ein Buch mit sieben Siegeln ist. Oder zumindest ein Buch, dass nicht unterbewusst, sondern sehr bewusst erlernt wurde. Hier ein Artikel von Fluff über die Grammatik neurotypischer Kommunikation.
Viele allistischen Menschen können einem nicht einmal genau diese Skripte und Vorschriften nennen – es ist viel eher ein Gefühl, ob ein Verhalten angemessen ist oder nicht. Sei es eine angemessene Art seine Gefühle zu zeigen, seine Bedürfnisse zu nennen, auf die Bedürfnisse anderer einzugehen und so weiter. Was jedoch für viele Menschen klar ist. Leute, die sich daran nicht halten, gehören bestraft. Sie verdienen alle sozialen Strafen, die damit einhergehen.
Ist das Ableismus?
Und ja, das ist Ableismus. Menschen werden für ihre Behinderung bestraft. Dafür, dass sie nicht so sind, wie andere. Und leider ist es ein Ableismus, dem autistische Menschen (und auch anders neurodiverse Menschen) immer wieder ausgesetzt sind. Der jedoch oftmals nicht als solcher sichtbar ist. Natürlich wird erwartet, dass jeder Mensch diese unausgesprochenen Regeln kennt. Gehört ja zum guten Ton, nicht wahr? Nur dass es eben nicht so ist.
Leider ist es allerdings auch ein Ableismus, den vielen neurodiverse Menschen internalisiert haben. Auch sie erfuhren Ausgrenzung und Strafe, weil sie die Regeln nicht kannten. Also kann man ja auch von anderen erwarten, dass sie die Regeln kennen, oder etwa nicht? Wenn man sie selbst nicht kann, dann sei es berechtigt, dass man ausgegrenzt wird. Denn so schwer seien die Regeln nicht.
Genau deswegen ist es so wichtig darüber zu sprechen. Denn wir müssen erkennen, dass es Ableismus ist und wir müssen es klar benennen. Es kann nicht sein, dass autistische und allgemein neurodiverse Menschen dafür abgestraft werden, wenn sie nicht masken oder vielleicht gar nicht erst masken können. Masken ist anstrengend. Es sollte einfach nicht die grundlegende Erwartung sein.