Dieser Anfang lag seit 2018 in meinem Entwürfeordner. Mittlerweile bin ich drei Jahre älter, gefühlt tausend Jahre müder und hasse immer noch keine (cis) Männer. Obwohl Männerhass mir das Leben wahrscheinlich einfacher machen würde. (Währenddessen lassen sich andere Organisationen den Begriff „Männer lol“ schützen und verkaufen damit teuer feministischen Merch. Nicht unbedingt mein bevorzugtes Geschäftsmodell.)
Ich vertraue ihnen aber auch nicht mehr. Bin müde geworden, ihnen zu erklären, warum Feminismus notwendig geworden ist. Ich bin hart geworden: Krieg den Arsch hoch oder lass es. Ich werde dich nicht mehr bitten. Kämpf mit mir oder lass es, aber ich werde dir den Arsch nicht mehr hinterher tragen. Ist das schon Männerhass? Ich bin mir unsicher.
(Das gleiche gilt mittlerweile für alle Menschen, nicht nur für cis Männer. Es gilt auch für cis Frauen und all jene, die meine Existenz als verhandelbar wahrnehmen.)
Ich hab mich deutlich theoretischer mit den Problematiken auseinandergesetzt als 2018 – und ich sage: Es ist mir egal, ob ihr denkt, ich würde (cis) Männer hassen. Wenn sich der Wunsch nach Gleichberechtigung, nach Menschenrechten anfühlt, als würde dir Hass entgegenschlagen, dann sei dem so.
Ich bin radikaler geworden, zynischer und härter. Und dieses Fragment zu finden – das tat ein bisschen weh. Ich war damals deutlich hoffnungsfroher. Tschüss, damaliges Fluff. Du kommst wohl nicht zurück.
Beim Frauenkampftag geht es nun mal ausschließlich um Frauen und die Diskriminierung, die sie als Frauen erleben. Ich gehe doch auch nicht mit einem All-Lives-Matter-Schild auf eine Black-Lives-Matter-Demo!
Twitter. (Nein, ich verlinke den Account nicht.)
Guten Morgen. Vorweg: Ich persönlich gehe nirgendwo mit einem All-Lives-Matter-Schild hin. Nicht auf eine Black-Lives-Matter Demo, nirgendwohin. Das liegt daran, dass dieser Slogan aus einer alt-right Richtung entstanden ist. Um die Kämpfe von Schwarzen Menschen gegen Diskriminierung und Rassismus zu schwächen und abzuwerten. Mit „All Lives Matter“ wird aus herrschender Position heraus der Kampf marginalisierter Gruppen unterdrückt und Diskriminierung verunsichtbart. Beim Frauenkampftag genauso?
Alle Jahre wieder…
Ich bekam diesen Vorwurf, als die – alljährliche – Diskussion darüber entbrannte, ob die Umbenennung von „FrauenKampftag“ in „feministischer Kampftag“ nicht Frauenkämpfe der Historie verunsichtbaren würde. Das es vor allem darum geht, dass Frauen auf spezifische Weise unter dem Patriarchat leiden. Nun. Ich persönlich vertrete die Meinung, dass nichtbinäre Personen und trans Männer schon immer – wenn auch nicht unbedingt mit diesen Worten – Teil der Frauen- (und später Lesben- und FrauenLesben-)kämpfe waren. Es geht also nicht darum, Geschichte umzuschreiben, sondern sichtbar zu machen, was schon immer da war. Trans Frauen sind Frauen, deshalb benenne ich sie nicht spezifisch. Ein Frauenkampftag nur für cis Frauen wäre absurd.
Es geht auch nicht spezifisch um das Leid, das Frauen erfahren, weil sie Frauen sind. (Dafür gibt es beispielsweise den 25. November, den „Internationalen Tag der Gewalt gegen Frauen“.) Es geht um Arbeitskämpfe, um (unsichtbare) Emo- und Care Work, es geht um Gender Pay Gap. Darum, dass „weiblich“ konnotierte Berufe schlechter bezahlt sind. Kurz: Es geht um all die Dinge, die tatsächlich Frauen, nichtbinäre Personen, trans Männer und inter Personen einen. Kämpfe, die sich durch die Position im Patriarchat ergeben und nicht durch das tatsächliche Geschlecht.
(Wenn ich schlechter bezahlt werde, weil mich Leute für eine Frau halten, dann hilft nicht einmal der geänderte Personenstand. Für euch getestet.)
…kommt das Cistus-Kind
Andererseits… Ich kann verstehen, woher diese Argumentation kommt. Ich habe mich acht Jahre lang feministisch engagiert, bis ich mich geoutet habe und aus den Gruppen herauskomplimentiert wurde bzw. mich bereits im Vorfeld zurückgezogen hatte. Die Debatte um den Frauenkampftag erinnert mich jedes Jahr erneut daran.
Ich kann verstehen, dass cis Frauen das Gefühl haben, ihnen würde etwas weggenommen werden, das ihnen aus der Historie und ihres Platzes im Patriarchat wegen zusteht. Das es sie frustet, wenn sie dabei zusehen müssen, wie etwas, worauf sie sich das ganze Jahr freuen, in einen Kampf um Begriffe, Ein- und Ausschlüsse ausartet. (Und das tut es, alle Jahre wieder kommt das Cistuskind auf die Netze nihieder, wo wir Menschen sind…)
Wer nicht über den eigenen Tellerrand, die eigenen Erfahrungen hinwegblicken kann oder will, wird die Erfahrungen von trans Personen als nicht so wichtig wahrnehmen wie die eigenen – falls selbige überhaupt anerkannt werden. Ich habe auch mal so argumentiert, hatte das gesamte Klischee von „weiblicher“ und „männlicher“ Sozialisation internalisiert und well, ich habe mich selten auf so brutale Art und Weise einer Realität stellen müssen.
Manchmal ist es tatsächlich Dysphorie.
Ich habe meine Essstörung, meine Dysphorie, meinen Unwillen gegenüber dem Wort „Frau“ mit Femininismus, mit weiblicher Sozialisation, mit Patriarchat begründet. Habe mich mit aller Kraft und Macht der Wahrheit entgegengestellt – acht Jahre lang. Bis zu meinem Outing, bis ich meinen Namen, meinen Personenstand änderte und anfing, mir Testosteron auf die Haut zu schmieren.
Es wird nicht geschehen, dass alle cis Frauen plötzlich feststellen, dass sie trans sind, wie es mir passiert ist (und wofür ich im Nachhinein unfassbar dankbar bin. Mein Leben ist trotz Transfeindlichkeit deutlich besser).
Ob Frauenkampftag oder nicht – unsere Kämpfe bleiben verbunden.
Aber ihr könntet zuhören. Unsere Kämpfe lassen sich nicht direkt voneinander trennen, weder in der Theorie, noch in der Realität. Gerade in der Realität sind (un)geoutete trans Männer und nichtbinäre Personen Teil von feministischen Gruppen. Und gerade diese Realität hat dazu geführt, dass aus FrauenRäumen Frauen*Räume wurden. Mit dem Sternchen, um die Personen, die sich in ihrer feministischen Entwicklung outeten, einzubeziehen.
Es ist nämlich deutlich schwieriger, den Freund, der mal Freundin genannt worden ist oder die Liebhaberin, di_er sich als Liebhaber_in geoutet hat, aus Gruppen zu entfernen, als sich als geschlossene Gruppe gegen Männer, die als ein „außen“ imaginiert werden, darzustellen. So kamen auch die historischen Ausschlüsse von trans Frauen zustande, die eben nicht bereits vor ihrem Outing willkommen waren. Und es auch nach ihrem Outing besonders schwer haben. Leider reichen diese Ausschlüsse in ihren Wurzeln bis heute weiter – daran müssen wir arbeiten!
Und müssen gemeinsam gekämpft werden.
Heute sind wir eigentlich weiter. Wir haben mit FLINTA (Frauen, Lesben, inter, nichtbinär, trans, ageschlechtlich) ein Akronym dafür, dass die Räume der damaligen Zeit nicht hatten. Aber streng genommen meinen wir das gleiche.
Ich würde meinen Geschwistern gerne den Schmerz und die Müdigkeit ersparen, die ich seit meinem Outing vor, während und nach dem 8. März erfahre. Es war mal ein empowernder Tag für mich. Lasst es das wieder werden. Bis dahin… bestreike ich den Streik und schone meine Ressourcen. Feministischer Kampftag statt Frauenkampftag.
Mein Leben ist minütlich durchgeplant. Anfragen für Termine bitte mindestens ein paar Tage, besser eine Woche vorher.
Ich (beim Zocken mit Freund_innen).
Es ist Sonntag. Sonntag zwischen 15:30 Uhr und 16:15 Uhr schreibe ich für Minzgespinst. Sagt meine App, die vom Herzmensch verwaltet wird und meine Routinen enthält. (Über die App werde ich im nächsten Blogbeitrag ausführlich reden.)
Ich bin Autist_in. Meine Uni hat für die Pandemie eine „lustige“ Liste über das „Lernen im Home Office“ veröffentlicht. Darin steht beispielsweise, dass eins immer um die gleiche Uhrzeit aufstehen soll, sich „Routinen überlegen“, um den Uni-Alltag auch während Corona aufrecht zu erhalten.
Darüber kann ich nur müde lächeln. Wenn neurotypische Menschen darüber reden, dass sie „Routinen benötigen“, dann ist das nicht gleichbedeutend mit dem Bedürfnis der meisten autistischen Menschen bezüglich Routinen.
Meine Tage laufen gleich ab: Ich wache auf. Ich bekomme eine Tasse Kaffee. Ich bleibe eine halbe Stunde im Bett sitzen und trinke eine bis zwei Tassen Kaffee. Währenddessen bespreche ich mit dem Herzmenschen den Tag, streichele den Kater oder surfe ein bisschen auf Twitter. Dann stehe ich auf, kümmere mich um meine Skincare-Routine (die wiederum eingeteilt ist in: Serum, Augenserum, Augenbrauenserum, Creme, Wimpernserum, Sonnenschutz, Bodylotion), danach ziehe ich Yoga-Kleidung an, versuche mich an zwanzig Minuten Yoga (je nach Schmerzlevel), dann nehme ich meine Kleidung, gehe ins Bad, wasche mich, putze mir die Zähne und ziehe mich an. (Den Rest erspare ich euch, aber ich denke, ihr könnt euch eine kleine Vorstellung davon machen.)
Jeden Morgen, jeden Tag. Wird eine Kleinigkeit an dieser Routine verändert, artet das in einen Overload aus, der nicht selten im Meltdown endet. Danach ist der gesamte Tag gelaufen.
Eine Kleinigkeit, das kann sein, dass di_er Postbot_in zum falschen Zeitpunkt klingelt. Oder der Herzmensch einen wichtigen Anruf bekommt, obwohl in der Routine etwas anderes steht. Das die Katzen sich jagen, bevor der Wecker klingelt. Kleinigkeiten, wie gesagt.
Routinen geben mir Sicherheit. Ich kann mich auf Dinge verlassen, sie geben mir die Freiheit, im Rahmen meiner Möglichkeiten, mich zu entfalten. (Wie poetisch.) Gleichzeitig sind sie relativ starr – ich kann mich nicht „mal eben“ mit Freund_innen treffen, das bringt den gesamten Tag (und mit Pech auch den nächsten) durcheinander.
Dating wird zu einer komplizierten Angelegenheit, da die meisten Menschen mit meinem Bedürfnis nach Planungssicherheit nicht umgehen können. Und: Routinen kosten Zeit. Wenn das ganze Leben minütlich geplant wird, dann muss diese Planung einberechnet werden. Ich habe das Glück/Privileg, einen Pflegegrad zugesprochen bekommen zu haben. Seitdem ist der Herzmensch auch dafür verantwortlich, sich um das micro managing meines Alltags zu kümmern – und mir geht es seitdem psychisch deutlich besser.
Neurotypische Menschen neigen dazu, ihre eigenen Erfahrungen auf andere Menschen zu übertragen. Eine „hey, das kenne ich auch!“-Reaktion. Oft führt das aber dazu, dass autismusspezifische Bedürfnisse bzw. Einschränkungen nur abgeschwächt wahrgenommen werden. Ich meine, ja, Routinen brauchen die meisten Menschen – irgendwie. Und Routinen und Rituale tun wohl den meisten Menschen gut, zumindest sind die Zeitschriften gerade voller Empfehlungen, sich Routinen zu schaffen. Dennoch ist dieses Bedürfnis bei Autist_innen deutlich intensiver und Veränderungen im Tagesablauf können nicht nur als „unangenehm“ sondern „stressig, über schmerzhaft bis hin zu Blackout“ wahrgenommen werden.
Deshalb ist es wichtig, denke ich, bei diesen Themen im Hinterkopf zu behalten, dass die eigene Wahrnehmung nicht unbedingt die Erfahrungswelt von Autist_innen widerspiegelt, wenn es darum geht, Verständnis zu zeigen.
Die Menschen meiner Zocker_innen-Gruppe haben sich jetzt übrigens mit mir auf zwei feste Termine geeinigt, damit ich zweimal die Woche „Zocken ohne Macker“ im Kalender eintragen kann und nicht mehr aufgrund der Spontanität ausgeschlossen bin.
Diesen Satz habe ich in den letzten paar Monaten sehr, sehr oft gesagt. Manchmal habe ich ihn geschrien. Ab und zu habe ich ihn nur gewimmert oder geflüstert.
Am Ende konnte ich doch immer noch. Noch ein Stück. Noch ein paar Tropfen Kraft, noch ein Löffel aus dem letzten Ende der Besteckschublade geholt.
Bis… Ja, bis vor zwei Wochen. Da war dann wirklich „Schicht im Schacht“ (Redewendung). Ich hab einen kurzfristigen Termin bei meiner Hausärztin gemacht, bekam TAVOR verschrieben.
„Zwei Wochen nehmen, dann absetzen. Vorsicht, das hat Suchtpotential. Pass auf dich auf!“
Hausärztin.
Außerdem die nachdrückliche Aufforderung (nachdem ich letztes Jahr schon mit „Erschöpfungssyndrom“ insgesamt vier Monate am Stück krankgeschrieben war, auf mich aufzupassen und das Pensum endlich zu reduzieren.
Nun gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.
Analytisch betrachtet ist diese Situation das Ergebnis unterschiedlicher Faktoren:
Der autistische Burnout: Vor allem afab Personen erleiden ihn häufig, weil sie erst spät (oder zu spät/gar nicht) diagnostiziert werden. Weil sie nicht in das Klischee vom „weißen, männlichen Autisten, der sich den ganzen Tag mit Zügen beschäftigt“ passen. Weil ihre Spezialinteressen versteckter sind oder zumindest besser in das gesellschaftliche Bild von „Frauen“ passen. Weil sie soziale Berufe haben und/oder Kinder. Gleichzeitig wird von Frauen (und als Frauen gelesene Personen) deutlich mehr emotionale und physische Arbeit erwartet: Sie sollen den Haushalt machen, sich um den Nachwuchs kümmern, arbeiten gehen und dabei NICHT ZUSAMMENBRECHEN. Wie ich in diesem Beitrag bereits schrieb, ist maskieren unfassbar anstrengend. Wenn dann noch die „übliche Routine, erwachsen zu sein“ oben drauf kommt, und nie gelernt wurde, auf die eigenen Bedürfnisse als Autist_in zu achten, dann kommt früher oder später der autistische Burnout. Die Ressourcen sind aufgebraucht, es geht nicht mehr.
Der aktivistische Burnout: „Ich bin mal eben schnell die Welt retten…“ – ups. Emanzipatorischer Aktivismus kostet Kraft. Es ist eine Menge Energie, die dafür aufgebracht wird, sich mit der Welt, der Gesellchaft, den (diskriminierenden) Strukturen und all dem Mist, der den Status quo darstellt, zu befassen. Aktionen dagegen (seien es Bildungsarbeit, Plena, Gruppen, Demonstrationen, Kunstaktionen, Flyer, Plakate… you name it) kosten Zeit, Energie und Geld. Zusätzlich kommen Repressionskosten, Diskriminierungserfahrungen und – irgendwann – eine gewisse Frustration. ES PASSIERT NICHTS. Oder nicht schnell genug. Und die Welt brennt, der Klimawandel schreitet voran, trans Personen begehen Suizid und in deutschen Gefängnissen verbrennen BPoC. DA MUSS DOCH ETWAS GETAN WERDEN! Und dann irgendwann sitzt eins da, hat neun Projekte gleichzeitig, die alle wichtig sind – und kann nicht mehr. Aktivistischer Burnout. Whoop. Whoop.
Und weil ich beides bin, habe ich mir – natürlich – auch beides gleichzeitig gegönnt. (Klingt lustig, fühlt sich aber nicht so an.)
Deshalb wird es hier erstmal ruhiger werden. Ich werde nicht mehr wöchentlich posten können, denke ich. Es wird Zeit brauchen, um zu heilen. Zeit, die ich eigentlich gar nicht habe, weil ich von meinen Vorträgen, den Workshops und den Unterstützenden auf Steady lebe. Falls also monatlich ein bisschen Geld übrig ist und ihr mir etwas Gutes tun wollt, könnt ihr unten auf „die Schachtel füllen“ klicken (der schwebende Button) oder einfach hier. Falls ihr eine Orga kennt, die Lust hat, mich zu einer Veranstaltung einzuladen: Schreibt mir auf minzgespinst@posteo.de
Ich liebe meine Arbeit und ich möchte sie nicht wegen meiner Erkrankungen aufgeben müssen. Das steht gerade auf der Kippe, leider. Jetzt konzentriere ich mich erst mal darauf, mit meinem Autismus ein Leben zu arrangieren, das mir die Selbstständigkeit ermöglicht, ohne mich auszubrennen. Dafür braucht es aber zunächst eine Pause und eine Ladung Löschwasser (Metapher). Bis bald!
Nein. Nein, ich war nicht sauer, ich hatte bloß nicht genug Energie übrig, um im Shutdown dafür zu sorgen, dass neurotypische Menschen weiterhin denken, ich wäre neurotypisch. Dieses Verhalten von Autist_innen wird „maskieren“ genannt – wir setzen eine Maske auf, damit wir mit Menschen so interagieren können, dass diese uns für nicht allzu seltsam halten – oder gar für „normal“, also neurotypisch.
Warst du heute irgendwie sauer? Du hast ausgesehen, als ob du [Dozentin] fressen wolltest!
Kommilitone
Maskieren kostet Energie, an guten Tagen etwas weniger, an schlechten Tagen mehr und an ganz schlechten Tagen (die, die schon den Tag über mit mehreren Meltdowns einhergingen, weil die Batterien leer sind) ist dafür keine mehr übrig.
Ich weiß nicht, wie mein Gesicht aussieht, wenn ich nicht mehr maskiere. Ich habe nicht die Kraft, mich darum zu kümmern, deshalb lasse ich es einfach leer werden, anstatt „passende“ Mimik zu regulieren. Gleichzeitig bekomme ich regelmäßig die Rückmeldung, ich hätte „wütend“ ausgesehen oder „böse“ oder eben, als ob ich andere Personen hätte „fressen wollen“.
Und am Ende sorgen diese Unterhaltungen dafür, dass ich doch wieder mehr maskiere. Das ich meine Grenzen noch ein bisschen weiter dehne, damit ich NT nicht erklären muss, dass das, was sie für Wut hielten, ein Ausdruck grenzenloser Erschöpfung war. (Ich bin normalerweise sehr gut darin, zu maskieren. Bin sehr gut darin, dass (vor allem) NT nicht wahrnehmen, wie es mir geht. Ich kann zehn Minuten nach einem Meltdown mit einem fröhlichen Lächeln vor der Kamera sitzen und einen Vortrag halten – weil ich mich zusammenreißen kann. Das hat Jahre an Druck und Therapie gekostet, das zu erlernen und jetzt kann ich es nicht mehr verlernen. Scheiße gelaufen, Pluspunkt für neoliberale Verwertbarkeit.)
Selbstschutz
Ich bin der Meinung, dass es für die meisten Menschen keine Rolle spielen muss, wie es mir geht und meine Emotionen bei mir am besten aufgehoben sind. Ich kenne die meisten Menschen, die ich kenne, aus Arbeitskontexten. In denen möchte ich nicht erklären, warum und wieso es mir schlecht geht, dass ich (mal wieder) haarscharf an der Grenze zur Suizidalität entlangschramme und meine Grenzen völlig überzogen habe. Außerdem habe ich ohnehin keine Worte dafür, andere Menschen stressen mich und in Eisblumen II gibt es die ganze Grundlage, warum „ich jammere und schütte mein Herz aus“ eher keine Option ist.
Ich bin da, um eine Leistung abzuliefern und meinen Job zu machen. Und ich denke, dass ich in den meisten Fällen meinen Job sehr gut mache (zumindest gebe ich mir alle Mühe). Mein Job besteht oft darin, für andere Personen da zu sein und deren Problemen zuzuhören. Da haben meine Emotionen und meine Überlastung schlicht und ergreifend keinen Raum, solange (und das ist mir wichtig) ich meine Arbeit mit gleichbleibender Präzision erledige. Maskieren ist anerzogen und gleichzeitig notwendig.
Ja, es gibt Ausnahmen. Tage, an denen ich meinen Job immer noch sehr gut erledige, aber nicht die Energie habe, die Maske aufrecht zu erhalten.
Take The Mask Off
Eine Forderung von Teilen der Autismus-Communitiy ist „Take the masks off“, bzw. „die Maske absetzen“. Das wir unsere Kraft nicht darauf verschwenden müssen, für neurotypische Menschen „angenehm“ auszusehen, sondern sie auf inhaltliche Arbeit verwenden können. Ich kann meine Maske nicht bewusst absetzen.
Sobald ich mit Menschen zu tun habe, die nicht mit mir zusammen wohnen, maskiere ich. (Ansonsten würde ich sehr oft in Erklärungsnot geraten, wie es mir geht und damit kann ich nicht umgehen. Ich kann das nicht erklären. Es ist zu viel, es wird Menschen nerven und am Ende sind alle wieder böse. Das will ich nicht.)
Ich weiß auch nicht genau, worauf ich mit diesem Text hinauswill. Ich kann nicht unterscheiden, ob Menschen wirklich daran interessiert sind, wie es mir geht oder ob das eine höfliche Floskel ist, die mit höflichen Nichtigkeiten beantwortet werden soll (der Einfachheit halber gehe ich grundsätzlich von letzterem aus, immer). Wenn sie es wirklich wissen wollen, tut es mir leid – ich kann mit eurer Aufmerksamkeit nicht umgehen. Das ist so viel soziale Interaktion und Anteilnahme, ich kann das nicht. Siehe Eisblumen II.
Verwirrung
Eine Freundin hat mein Kommunikationsverhalten mal mit „Ich weiß jetzt zwar genau, wie deine letzten Tage waren, aber immer noch nicht, wie es dir geht.“ beschrieben und das trifft es ganz gut. Ich kann nicht sagen, wie ich mich fühle, weil das meist selbst nicht ganz klar ist, aber ich kann beschreiben, was ich getan habe – und den meisten Menschen reicht das. Smalltalk ist reines Maskieren – und unbeschreiblich anstrengend.
Ich bin selten wütend. Ich bin oft erschöpft, ich bin gut darin, mich theatralisch aufzuregen, aber ich bin nicht wütend. Und wenn ich wütend bin, kommuniziere ich das meist deutlich. Ich weiß auch nicht, wie mein Gesicht aussieht, wenn ich keine Maske trage. Es ist dann nur endlich mal entspannt, weil ich meiner Mimik keine Form mehr gebe. Ich schreibe diesen Text, während mein Gesichtsfeld flimmert und ich einen Tunnelblick auf den Bildschirm habe.
Vielleicht wirke ich von außen wütend. Ich tippe schnell, ich wirke fokussiert. Stattdessen bin ich müde. Und erschöpft. Seit Wochen, Monaten. (Weil ich mir keine Pause gönne, weil ich dann in Einsamkeit ertrinken würde und das noch schlimmer klingt. Ja, ich sehe die Ironie und die Probleme selbst, ich kann sie nur nicht lösen. Tja. Erneut: Blöd gelaufen, aber neoliberale Selbstausbeutung läuft.)
Autigender ist nicht real! Die können sich dann einfach als regenbogenbunte, glitzerpupsende Einhörner definieren und wissen gar nicht, was wirklich eine Behinderung ist! Das schadet uns!
Zusammenfassung einer Twitter-Debatte.
Irgendwie hat „meine“ Autismus-Bubble auf Twitter (also die Menschen, denen ich folge und deren Ansichten und Meinungen ich bezüglich Autismus teile, natürlich habe ich da einen Bias) ein Problem mit trans Personen. Wobei „Problem“ trifft den Kern der Sache nicht so richtig, ich habe aber auch noch nicht ganz gegriffen bekommen, was jetzt die eigentliche Problematik ist. Es entzündet sich allerdings häufig am Begriff „Autigender“.
Als ich verschiedene Menschen darauf ansprach, wurde mir gesagt, dass es wohl SelfDx (also Menschen ohne offizielle Autismus-Diagnose, die sich aber als Autist_innen bezeichnen) gibt, die gleichzeitig irgendwie in der trans Communitiy unterwegs sind und das „AutiGender“ als queere Identität verwenden, um zwischen „männlich“ und „weiblich“ noch „autistisch“ zu etablieren.
Ich persönlich, seit Jahren in der deutschsprachigen trans/queer Communitiy unterwegs (und auf Twitter), habe davon noch nichts gehört. Deshalb habe ich mich auf die Suche danach gemacht – was ist „AutiGender“? Außerdem geht es in diesem Beitrag darum, dass queere Identitäten ebenfalls nichts sind, das sich Menschen „aussuchen“. Auch, wenn es von außen vielleicht so wirkt.
Step 1 meiner Recherche:
Das queer-lexikon, dessen Glossar die größte, deutschsprachige Rechercheplattform für queere Labels und Mikrolabels sein dürfte. Bei „AutiGender“ in der Suche ist selbige schnell erledigt: Keine Treffer. „Autismus“ gibt ein paar Treffer, diese beziehen sich jedoch alle auf den Kummerkasten. Das queer-lexikon kennt dieses Label also offensichtlich nicht.
Step 2: Google.
Hier gibt es sehr viele Treffer, die Autismus und trans und Autismus und Frauen behandeln. Spezifisch „AutiGender“ finde ich erstmal nicht, deshalb gehe ich auf die Quellen zu „Autismus und trans“ näher ein. Vielleicht geben die mir etwas mehr Input.
Autismus-Kultur benennt eine nicht näher definierte Studie, die davon ausgeht, dass ca. 5% der Autist*innen gendervariant seien. Letzte Änderung der Seite war am 16.03.2020. In diesem Beitrag geht es darum, wie die Kombination aus LGBTIQ und Autismus zu vermehrten Diskriminierungen und Ausschlüssen aus eigentlich zugehörigen Räumen führt/führen kann. Ähnliches habe ich hier ebenfalls beschrieben.
Eine Frage dazu beantwortete 2017 das AutismusFAQ. Sie definieren es ähnlich wie die oben genannte Twitter Menschen. „Mittlerweile wird er leider häufig synonym für das Gefühl verwendet, dass man auch ohne Diagnose manchmal Autistin ist. Oder sich eben weder als Mann noch Frau, sondern als Autistin fühlt (häufig, ohne diagnostiziert zu sein).“ Gleichzeitig geht die Seite aber auch auf den Ursprung des Begriffes ein. „Ein Gender, das nur als Autist*in verstanden werden kann.„.
Ähnlich greift es das AutisticAlien auf, das AutiGender als „Beziehung zum eigenen Geschlecht in Abhängigkeit vom Autismus“ definiert. (Orig: autigender isn’t a gender or gender identity, but rather, how one’s view of gender is affected by autism.) Auch hier betont die Quelle, dass „AutiGender“ als eigene, geschlechtliche Kategorie (also als eigenes Label für Geschlecht) abgelehnt wird.
Das gleiche beschreibt WIKIA, in einem eigenen Beitrag über „AutiGender“.
Dann gibt es noch diese Seite, (CN TRANSFEINDLICHKEIT), die aussagt, dass verschiedene Faktoren zu Dysphorie führen können. Nicht alle davon müssen mit Transgeschlechtlichkeit in Verbindung stehen. Und dann fährt sie mit Horror-Geschichten über Transition und Detransition fort. (Horror-Geschichten, weil es die realen Gegebenheiten, wie auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Transition hier völlig missachtet. Grausige Einzelbeispiele, die beim Lesenden Emotionen auslösen sollen, sind keine guten Quellen. Das ist eine Fake-News-Seite.)
Hier wird mal eben sowohl Autismus, als auch Transgeschlechtlichkeit als Modediagnose bezeichnet – ne, damit halte ich mich gar nicht erst auf, sorry not sorry.
Zwischenstep: Identitäten.
Wie euch vielleicht schon aufgefallen ist, lehne ich die Bezeichnung „definiert sich als“ ab. Ich bin trans, ich bin Autist*in, ich bin kurzhaarig, gepierct, tätowiert. Meine Identität, definiert als: als „Selbst“ erlebte innere Einheit, setzt sich aus diesen einzelnen Faktoren zusammen.
Ich habe mir nicht ausgesucht, trans zu sein. Ich habe mir nicht ausgesucht, Autist*in zu sein. Beides war halt da, das eine (der Autismus) bedingt, wie ich die Welt sehe, das andere (trans) bedingte eine Bruchstelle zwischen „wie ich mich sehe“ und „wie mich die Welt sieht“. Während ich letzteres durch eine medikamentöse HRT, eine Personenstands- und eine Vornamensänderung mildere (sich also diese Bruchstelle langsam schließt), wird mein Autismus unverändert bleiben.
Deshalb lehne ich auch „person first“ language (z.B. Mensch mit Autismus) ab – mein Autismus ist untrennbar mit mir verbunden.
Queerfeindliche bzw. transfeindliche Gruppierungen haben sich die Vielzahl der Label, die es in der queeren Communitiy gibt, (und über die auch innerhalb der Community gestritten wird) zu nutze gemacht, um sich über Queers lustig zu machen. Ein beliebter Spruch ist „Ich identifiziere mich als Apache Helicopter (ein Kampfhubschrauber)“ oder „meine Pronomen sind ‚Arschloch/Leck mich’“. Hintergrund dessen ist, die selbstgewählten (Micro)Label von queeren Personen ins Absurde zu treiben – und damit die Absurdität der Label selbst aufzuzeigen.
Anstatt bei „männlich“ und „weiblich“ zu bleiben, wie es die Norm vorsieht, wagen es queere Menschen, sich Bezeichnungen zu geben, die auf den ersten Blick seltsam oder absurd erscheinen – und die auch (wenn es nach ebenjenen konservativen Elementen geht) auch in dieser Ecke bleiben sollen. Cupioromantisch, a_romantisch, genderfluid, nichtbinär, trans – einige Beispiele. (Durch die Links kommt ihr zur jeweiligen Definition. Alle diese Label nutze ich für mich, wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen.)
Step 3: Zusammenführung der verschiedenen Begriffe zu Autigender
Zu SelfDx habe ich keine spezifische Meinung, ich empfinde dieses Thema als zu komplex, um mich auf „die eine“ oder „die andere“ Seite zu stellen. Eine Diagnostik ist zeit- kraft- und geldraubend – und nicht immer von Erfolg gekrönt (selbst wenn die Person möglicherweise autistisch ist).
Gleichzeitig habe ich ein Problem mit den Begriffen „autistische Züge“ und „sind wir nicht alle ein bisschen autistisch“ – nein, sind wir nicht. Autismus ist ein Spektrum, aber die Einladung ist exklusiv für Autist_innen. Das Spektrum beginnt nicht bei „neurotypisch“ und endet bei „Autismus“. Das Spektrum beginnt bei „Autismus“. Natürlich gibt es auch neurotypische Menschen, die an sich Wesenszüge bemerken, die sie als autistisch wahrnehmen – allerdings ist das nicht verwunderlich, schließlich sind auch Autist_innen Menschen und keine unter einem Stein hervorgekrochenen Aliens von einem anderen Stern. (Redewendung/Sarkasmus).
Über den Autismus von niemals diagnostizierten Autist_innen kann 1 nur spekulieren, das liegt in der Natur der Sache. Ebenso darüber, inwieweit Autismus eine Be_Hinderung in einer idealen Welt sein wird, in der Inklusion real ist und Autismus keine Nachteile mehr mit sich bringt. Ich mag diese Spekulationen, halte sie aber für die heutige Debatte für nicht zielführend.
„AutiGender“ halte ich – zumindest in der Form „wie Autist_innen ihr eigenes Geschlecht wahrnehmen“ für valide, wenn auch nicht unbedingt nützlich. Nicht nützlich, weil mein Autismus Auswirkungen darauf hat, wie ich alles wahrnehme, nicht nur mein Geschlecht. (Und ich möchte keine AutiBeziehungen, AutiEssen oder AutiArbeit haben, ich möchte einfach nur autistisch sein.)
In der Definition „sich ein bisschen autistisch fühlen“ – nope. Geht weg damit. Geht genauso weg damit, wie mit „ein Tag im Rollstuhl“-Veranstaltungen, Trips durch die Stadt mit Augenbinde oder dem Tragen von Leuten, die damit „fühlen“ sollen, wie es ist, behindert zu sein. Mein Autismus ist kein Spielplatz, auf dem ihr euch austoben könnt – und meine Transidentität auch nicht.
Autigender – ein Fazit
Kritik an den oben genannten Personen dann aber mit „sich eine Identität nach Lust und Laune überstülpen“ zu äußern, wie es AutismusFAQ (und ebenso einige Menschen auf Twitter) taten, empfinde ich ebenfalls als unpassend. In Anbetracht der queeren Communitiy, der dieser Vorwurf regelmäßig gemacht und deren Sein als „lächerliches Identitätsding“ abgestraft wird.
Wir suchen uns unsere (queere) Identität nicht aus, wir definieren sie nur. Dafür werden Worte genutzt, die auf den ersten Blick ungewohnt und seltsam erscheinen. Das liegt daran, dass es kaum bis keine Worte gibt, um ein Sein zu definieren, das außerhalb der Norm liegt. Schlussendlich ende ich – wie so oft – mit der Bitte, dass sich trans und Autismus verbinden lassen können sollen müssen. Der Spagat zwischen den Stühlen (Metapher) schmerzt.
Selbst ich weiß, dass das oben genannte Zitat kein Kompliment ist. Selbst ich, das Sarkasmus vor allem dann erkennt, wenn er mir frontal ins Gesicht schlägt, weiß, dass dieser Satz verwendet wird, um Menschen abzuwerten.
Allerdings… er hat nicht unrecht. Nicht, dass ich auf allzuviele Parties gehen würde oder mit allzuvielen Menschen Kontakt hätte, aber wenn, dann ist „fun“ tatsächlich der falsche Begriff. Ich bin gut darin, Dinge (vor allem politische Dinge) zu erklären und schlecht darin, Smalltalk zu machen. Noch schlechter bin ich nur darin, einzuschätzen, was Menschen vor mir denken. RICHTIG GUT dagegen darin, das von allen Seiten zu überdenken, ohne zu einem Ergebnis (außer Angst und Unsicherheit) zu kommen.
Kürzlich schrieb ich auf Twitter:
13 Jahre Mobbing haben mich perfekt auf die Pandemiesituation vorbereitet.
@wolkenfluff
Die Schulzeit war eine Hölle auf Raten, trotz sieben Schulwechseln und zwei Klassenwechseln – ich war fehl am Platz. Aber wusste ja keins, dass ich Autist_in bin, also war ich nur „merkwürdig“ und „anders“. Kinder können grausam sein, wenn es darum geht, merkwürdige Kinder für ihr Sein zu bestrafen – und sie waren es, jahrelang und genüsslich. Ich hab es überlebt, paar Narben (physische und psychische) sind geblieben. Nun gut, kannste nichts machen.
Während sich andere Menschen auf den ersten Partys betrunken haben, geknutscht, getanzt, sich gestritten und wieder vertragen, bin ich zu Hause geblieben und habe gelesen. Ich habe beeindruckend viel gelesen, aber ich hatte ja auch ausreichend Zeit dazu – die übliche Zeitverschwendung durch Freund_innenschaften und soziale Kontakte fiel weg.
Das ist bis heute geblieben – doch ich werde nicht mehr gemobbt. Ich bin gut in dem, was ich tue, ich werde für meine Meinung, meine Ansichten und meine Einschätzungen geschätzt. Menschen fragen mich um Rat, ob ich Teil ihrer Projekte sein möchte oder brauchen Hilfe dabei, ihre Hosen zu flicken. Ich habe soziale Kontakte, politische Kontakte, Arbeitskontakte. Ich bin nicht mehr allein, zumindest nicht „allein, allein“.
Manchmal – derzeit verstärkt – fällt mir auf, dass ich trotz allem diese sozialen Kontakte wie durch eine Glasscheibe betrachte. Ich bin Teil des Raumes, nicht aber der Gruppe. Ich mache Awarenessarbeit auf Partys – damit bin ich anwesend, aber kein Teil des Publikums. Ebenso in politischen Gruppen oder beim Kummerkasten. Ich bin allein, ohne allein zu wirken.
Es ist ein sicherer Ort, ich kenne das Protokoll, ich weiß, was von mir erwartet wird. Es ist auch ein einsamer Ort, weil ich beobachte zwischenmenschliche Kommunikation und kann mir einbilden, ich wäre nicht außen vor – aber ich weiß es besser. Aber es ist immer noch besser als die echte Einsamkeit, die, die ich in den dreizehn Jahren Schulzeit erlebt habe.
Ich habe letztes Jahr das erste Mal über meine Gefühle als Risikogruppe während der Pandemie geschrieben, ihr findet den Text unter Eisblumen. Jetzt ist Januar. Die Pandemie geht ins zweite Jahr, ich sitze am Fenster. Die Eisblumen sind nicht mehr nur metaphorisch, sie ranken sich auch physisch am Fenster entlang. Schön. Aber kalt. Und nass.
Ich beobachte neurotypische Menschen. Ich sehe ihre Interaktionen miteinander. Ich verstehe sie nur nicht. Ich fühle mich in den meisten sozialen Interaktionen unwohl, unbeholfen, fehl am Platz. Ich bin verunsichert, ich weiß nicht, was von mir erwartet wird. Es gibt kein Protokoll, ich kann nicht abgleichen, ob ich es „richtig“ mache. Diese Unsicherheit, diese Emotionen, dieses „sich ständig hinterfragen“ ist anstrengend und deshalb ziehe ich mich oft und immer öfter freiwillig hinter die Glasscheibe zurück. Ich habe aufgegeben, Teil der Gruppe sein zu wollen und bin zufrieden mit der Außenseiterposition – rede ich mir ein. Es ist immer noch besser als die Alternative, dieses echte „allein, allein“.
Und wenn ich mich genug anstrenge, dann mögen mich Menschen zumindest für das, was ich tue. Was ich kann. Was ich leiste. Sie laden mich zu Vorträgen ein, sie hören mir zu, sie lesen meine Texte. Das ist besser als nichts. Ich sollte zufrieden sein. Dieses „mehr“, das ich glaube, bei anderen zu sehen, dieses „Ich habe Freund_innen“, das ist bestimmt nur eine Projektion, das will ich gar nicht wirklich. Das ist alles nicht real und ich bin glücklich dort, wo ich gerade bin. Bestimmt.
(Nein, ich wäre gerne irgendwo willkommen. Aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Ich bin nicht gut darin, mich bei Menschen zu melden oder freundschaftliche Kontakte zu pflegen. Ich bin gut in beratender Arbeit und ich bin gut darin, mit Menschen Sex zu haben. (Das ist einfach, da gibt es ein Protokoll.) Alles dazwischen fühlt sich an wie ein Tanz über Glasscherben. Ich bin auch nicht gut darin, um Hilfe zu bitten, weshalb ich zwar über Einsamkeit schreibe, aber keine Ahnung habe, was ich dagegen tun soll.)
Weil dieser Leitfaden leider notwendig ist: Alle weiblich gelesenen Personen kennen es wahrscheinlich: Wir treiben uns unschuldig und ohne etwas zu ahnen in social media herum, in Chatgruppen, auf Discord.
Die Situation
Plötzlich ploppt eine private Nachricht auf:
Hey Süße! Wir kennen uns aus X und dein Profilbild ist echt niedlich. Wie geht es dir so, was machst du heute?
Irgendein Dude.
Klingt ja ganz, nett, erstmal. Immerhin findet er mein Profilbild „niedlich“ und will mich offensichtlich näher kennenlernen. Gleichzeitig ist dieses Verhalten zutiefst übergriffig. Deshalb gibts diesen Leitfaden.
Solange es keine Dating-App ist (die wir hier mal ausschließen), ist meine Anwesenheit im digitalen Raum keine Einladung zum Flirten. So wenig wie ich es angenehm finde, wenn ich offline von Wildfremden angesprochen werde, so wenig ist es online angemessen.
Daraus folgt, dass ich nie mein Einverständnis gegeben habe, offen für Privatnachrichten oder Geflirte zu sein. Anders als offline, kann ich auch nicht durch Blickkontakt oder Gestik/Mimik meinen Konsens zu derartigem Verhalten geben.
Die Erwartungshaltung, weiblich gelesene Personen müssten jeden (positiven) Kommentar zu ihrem Äußeren oder ihrem Verhalten begrüßen („Das war doch nur ein Kompliment!“), ist in ihrem Kern sexistisch, weil weiblich gelesene Personen zu Objekten (meist männlicher) Aufmerksamkeit degradiert werden.
Kosenamen zu verteilen, ohne sich vorher einen Konsens eingeholt zu haben, ist in den meisten Communities übergriffig, weil verpönt. Solange dies nicht Konsens in der Community ist (z.B. weil auch im gemeinsamen Gruppenchat sich alle mit unterschiedlichen Kosenamen anreden), wird ein Machtungleichgewicht geschaffen: Die Person, die verniedlichende Bezeichnungen nutzt und die Person, die sie hinnehmen muss.
Ein Leitfaden zur Lösung
Wenn du nun Admin einer dieser Gruppen bist und das Menschen passiert – was kannst du tun? Hier ein Leitfaden:
Nimm die Person ernst. Nur, weil du möglicherweise nicht nachvollziehen kannst, dass sich dieses Verhalten übergriffig anfühlt, heißt das nicht, dass es nicht übergriffig ist.
Du definierst deine Grenzen und die Grenzen innerhalb der Gruppe, nicht aber die Grenzen einer anderen Person. Kommentare wie „Nimm das nicht so ernst, das war nur ein Kompliment!“ untergraben die Wahrnehmung der betroffenen Person.
Sei dir des Machtungleichgewichts bewusst – du kannst dafür sorgen, dass sich andere Personen in der Gruppe, die du moderierst, wohl oder unwohl fühlen (und möglicherweise gehen).
Frag die betroffene Person, was sie sich wünscht.
Reflektiere, ob es eine Person im Admin_a-Team gibt, die (möglicherweise) die Erfahrungen der betroffenen Person teilt.
Wenn es keine weiteren Admin_as gibt, dann frage dich, warum das der Fall ist.
Würde es sich lohnen, ein Admin_a-Team aufzustellen, das mit Diskriminierungen vertraut ist?
Triff eine Entscheidung bezüglich des Verhaltens in deiner Gruppe.
Teile diese Entscheidung öffentlich mit. (Wenn es für dich in Ordnung ist, dass Menschen andere Personen übergriffig anschreiben dürfen, mache dies deutlich. Das sorgt für Klarheit bezüglich der eigenen Erwartungen an eine Gruppe.)
Schlussbemerkung
Im Übrigen muss es nicht einmal eine Nachricht sein, die so offensichtlich und flirty daherkommt. Grundsätzlich gilt, auch im online Raum: Ich habe ausschließlich Konsens gegeben, dass ich mich im öffentlichen Bereich aufhalte. Ich möchte nicht, wenn ich an der Bushaltestelle stehe, in ein Wartehäuschen gezerrt und mit „Hallo!“ angequatscht werden und ich lade auch nicht andere Menschen an der Bushaltestelle zu einem privaten Treffen zu mir nach Hause ein – wenn ich das tue (also, wenn öffentlich gefragt wird und ich meinen Konsens gebe), ist das eine andere Geschichte.